Novembereis. Monika Rösinger

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Название Novembereis
Автор произведения Monika Rösinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302434



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zwar knarrte, aber sich leicht zu drehen schien. Er kannte nur Stühle mit vier Beinen oder die Dreibeiner in ihrer ärmlichen Küche. Auch die grüne Glaslampe auf dem Tisch gefiel ihm, sie schimmerte wie ein riesiger Edelstein. Er bestaunte das gedrechselte Holzhäglein, das den vorderen Rand des Schreibtisches abschloss. Es erinnerte den Buben an den kleinen Bauernhof und die geschnitzten Holzkühlein, mit denen er beim «Kreuz»-Wirt jeweils spielen durfte. Da gab es auch so einen kleinen Zaun rund um den Stall. Aber die Pföstchen waren nicht so schön, sie waren nur aus Haselstecken gemacht. Ob der Gemeindeammann auch Holzkühlein auf seinem Tisch hatte? Neugierig trat er näher heran, um die Kühlein zu suchen, aber der Schreiber schob ihn neben seine Mutter zurück, und diese packte ihn wieder fest an der Hand. Dann stellte sie ihn eng vor sich hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das hatte sie noch nie gemacht. Es gefiel ihm und tat ihm gut, obwohl er durch den Stoff seines dünnen Kittels spürte, dass ihre Hände zitterten. Der Schreiber legte eine graue Mappe geöffnet vor den Ammann, dann ging er zurück an sein hohes Schreibpult.

      «Die verwitwete Susanne Bleiker, geborene Brunner, stellt den Antrag, ihren Sohn Johann der Armengenossenschaft zu übergeben und ihn ins Armenhaus aufzunehmen», las der Ammann leise murmelnd in der Akte. Er nahm den goldenen Zwicker von der Nase und rieb sich die Augen. «Susanne Bleiker, geborene Brunner?»

      «Ja.»

      «Verwitwet seit 1832, also acht Jahre?»

      «Ja, mein Josua ist beim Holzen in der Scheftenau verunglückt.»

      «Hkm, hkm, böse Geschichte damals, ich erinnere mich.»

      «Drei Kinder?»

      «Ja, der Josi, der Peter und das Martheli.»

      «Und woher kommt denn der Bub da, der ist doch erst vier-, fünfjährig?»

      «Ja, das ist halt so passiert, man ist ja schliesslich aus Fleisch und Blut, hab halt gemeint, dass er mich heiratet, der Sepp.»

      «So, so, halt passiert, halt gemeint.» Der Ammann blickte amüsiert zum Schreiber. Dieser erwiderte den Blick mit hochgezogenen Brauen und abschätzigem Achselzucken.

      Susanne blickte verschämt auf den Boden. Dann fasste sie sich ein Herz und trat einen Schritt auf den Ammann zu. Dabei schob sie Johann vor sich her. «Herr Ammann, bitte nehmt meinen Buben ins Armenhaus auf, es geht einfach nicht mehr mit ihm. Er braucht eine starke Hand. Ich verliere sonst meine Stellen. Wie sollen wir dann leben?»

      Susannes Wangen waren rot geworden, zusammen mit ihrem Buben trat sie noch einen kleinen, zaghaften Schritt auf den Ammann zu.

      Johann blickte erwartungsvoll auf die glänzende Fläche des Schreibtisches. Er war enttäuscht. Da standen keine Kühlein. Nur Papier und Schreibzeug lagen nebeneinander aufgereiht.

      «Ja, ja, man hört so allerlei über deinen Buben. Ja, die ledigen Kinder halt, ist einfach nicht gut, wenn die Frauen nicht anständig zu leben wissen.»

      Susanne wollte etwas entgegnen, schluckte den Satz aber hinunter und schwieg. Was sollte sie sagen? Dass zum Kinderkriegen zwei gehörten? Aber das wussten der Ammann und der Schreiber schliesslich selber. So senkte sie beschämt den Kopf. Sie kannte ihren Platz, also blickte sie stumm vor sich auf ihren Buben und drehte verlegen an den Bändeln ihrer Tasche.

      «Ja, so ist es wohl am besten, wenn der Bub in feste Hände kommt und das Arbeiten beizeiten lernt. Ihr seid ja sonst eine anständige und fleissige Frau, aber so ohne Vater, das geht halt einfach nicht.» Der Ammann hatte sich erhoben und trat zu Johann. Freundlich strich er ihm über sein struppiges Haar und kniff ihn leicht in die Wange. «Bist ein rechter Strick, wie man hört. Die Dummheiten müssen aufhören. Hast du mich verstanden?!»

      Johann verstand zwar nicht, womit er aufhören sollte, aber er nickte brav.

      «So nimm deinen Buben und bring ihn dem Armenvater», wandte sich der Gemeindepräsident wieder an die Wäscherin. «Er wird’s gut haben. Der Bachmann ist streng, aber schon recht.»

      «Also, Johann, mach deiner Mutter keine Schande und benimm dich.»

      Mit diesen Worten waren Susanne und ihr Sohn entlassen. Der Schreiber übergab ihr ein amtliches Papier, das sie sorgfältig in der Tasche verstaute. Sie bedankte sich unterwürfig beim Ammann, der sich wieder behäbig hinter seinen Tisch gesetzt hatte. Sie verliess aufatmend das Amtszimmer und den dämmrigen Korridor und machte sich mit ihrem Jüngsten auf den Weg durch das Dorf zum Armenhaus. Mit eingezogenen Schultern, das Kopftuch weit in die Stirne gezogen und den Buben fest an der Hand, schritt sie voran. Sie überquerte die Strasse, ohne nach links und rechts zu schauen.

      Es war viel los im Dorf, die Leute waren auf dem Weg zum Markt ins benachbarte Städtli. Sie war froh um den Betrieb, so beachtete sie niemand mit ihrem Buben, und sie grüsste auch niemanden.

      Beim «Kreuz»-Wirt wollte der Kleine abschwenken, wie er es sich von den Waschtagen gewohnt war, aber sie zog ihn unsanft weiter. Erstaunt schaute er zu ihr auf. Sie sagte nichts und er fragte nicht, so gingen sie an der Wirtschaft vorbei. Beim Bäcker Rüedi duftete es wunderbar nach frischem Brot. Sie traten in den Laden, und die Mutter kaufte ihm einen frischen Wecken. Das hatte sie noch nie getan.

      «Nimm, bist ja doch mein Bub», sagte sie, gab ihm den Wecken und zog ihn weiter.

      Bald gingen sie durch die grosse Hofstatt, zwischen den schwer mit Früchten beladenen Apfel- und Birnbäumen und durch den gut gepflegten Garten auf das Armenhaus zu. Es war ein stattliches, sonnenverbranntes Holzhaus mit langen blanken Fensterreihen. Vor den Fenstern blühten Petunien und Geranien. In einer Rabatte dem Haus entlang wuchsen Studentenblumen, Kapuziner und Fetthennen. Grosse Hauswurze ragten bis über die Steineinfassung, und einige Rosenstöcke verströmten einen betörenden Duft wie im höchsten Sommer. Ein Holzschopf und eine Remise waren links und rechts angebaut und daneben standen die grosse Scheune und der Stall. Vom Kastanienbaum vor dem Haus fielen schon die ersten stachligen Kugeln.

      Im Armenhaus

      Zaghaft zog Susanne am Glockenstrang. Im Innern des Hauses ertönte eine Glocke. Johann wunderte sich, dass sie nicht einfach eintraten, aber auf seine Frage meinte die Mutter, das gehöre sich nicht. Ein junges Mädchen mit langen, kastanienbraunen Zöpfen öffnete die schwere Türe und liess sie ein. Es war ärmlich, aber sauber gekleidet. Hinter ihm gingen sie durch einen langen Gang, in dem es nach Zichorienkaffee, Kohl und auch nach Abtritt roch. Der Geruch war ganz ähnlich wie zu Hause, darüber war Johann froh. Es würde schon nicht so schlimm werden. Am Ende des Flurs klopfte das Mädchen an eine Türe, und sie traten in ein kleines Zimmer. Der Armenvater sass an einem Tisch und las in einer Zeitung. An den Wänden hingen in einfachen Rahmen drei Tabellen mit grossen bräunlichen Stempeln. In einem offenen Schrank mit vielen kleinen Fächern lagen gebündelte Papiere.

      Susanne blieb bei der Türe stehen und grüsste den Armenvater schüchtern. Dann streckte sie ihm das Papier, das ihr der Schreiber mitgegeben hatte, entgegen. Der Mann, der nach einem Nicken ruhig das amtliche Schreiben las, gefiel Johann. Er war um die vierzig und hatte freundliche Augen, ein breites Gesicht mit roten Backen und einem gezwirbelten Schnauz. Er legte das Papier vor sich auf den Tisch und strich mit der rechten Hand darüber. Gemütlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schob die Daumen unter die breiten Hosenträger und liess diese zweimal lustig schnellen. Solche Hosenträger hätte Johann auch gern. Sie hatten ein gelbgraues Müsterchen und waren rechts und links mit zwei dicken grauen Gummischnüren mit zwei Knöpfen an der Hose eingehängt. Die Knöpfe waren aus Horn und schimmerten. Das gefiel Johann. Seine eigene geflickte, grobe Hose wurde nur durch einen alten Bändel ohne Schnalle gehalten, mehr schlecht als recht.

      Der Armenvater nahm das Streichholz, das er im Mundwinkel gedreht hatte, heraus, legte es neben das amtliche Papier und meinte lächelnd: «So, so, wir bekommen einen neuen Buben, wie heisst du denn?»

      Susanne schob ihren Sohn etwas vor und gab ihm einen leichten Schubs.

      «Johann, Johann Bleiker», brachte er schüchtern hervor.

      «Aha, dann bekommen wir also noch einen Apostel, einen Peter und einen Jakob haben wir schon», lachte der Armenvater.

      Johann