Novembereis. Monika Rösinger

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Название Novembereis
Автор произведения Monika Rösinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302434



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grösseren Kindern, die ebenfalls im Garten arbeiteten, bemerkte er einige, die ihm seltsam vorkamen. Beim Eindunkeln läutete wieder das scherbelige Glöcklein, und alle bewegten sich gemächlich auf das Haus zu. Am Brunnen im Hof wuschen sie sich die Hände und tauchten die schmutzigen Füsse ins Wasser. Die drei grossen Buben kamen aus der Scheune und wuschen sich. Mit nassen Füssen patschten alle in die grosse Stube und setzten sich an die Tische. Die alten Frauen sassen schon da, die alten Männer schlurften nach den Kindern langsam und schwerfällig herein und liessen sich ächzend nieder.

      Diesmal betete der Armenvater selber. Das Unser Vater kannte Johann, aber er konnte es noch nicht beten. Die zwei anderen Gebete, die folgten, hatte er noch nie gehört.

      Grosse Schüsseln mit geschwellten Kartoffeln standen bereit. Jedes der Kinder nahm sich davon auf einen eigenen hölzernen Teller, dazu etwas Salz mit Kümmel und dicke Milch. Die Grossen tranken wieder Most, die Kinder erhielten Buttermilch.

      Unterdessen war es im Raum dunkel geworden und der Armenvater zündete drei Petroleumlampen an. Sie hingen über den Tischen und verbreiteten ein heimeliges Licht. Der schwere Geruch des Petrols überdeckte beinahe den Altleutegeruch, der dumpf im Raum hing. Einige der alten Frauen nahmen Strickzeug aus einem Korb, die Männer holten ihre Tabakpfeifen hervor und pafften. Die grossen Buben zogen Hefte aus dem Schrank, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Vevi und die anderen grossen Mädchen räumten wieder die Tische ab und fuhren mit dem Lappen darüber. Auch sie setzten sich nachher an ihre Hefte, während die jüngeren Kinder mit Astkühlein und kleinen Stoffpuppen auf dem Boden spielten.

      Johann fielen fast die Augen zu. Er war froh, als das Glöcklein schepperte und der Armenvater und die Armenmutter wieder hereinkamen. Sie sprachen das Nachtgebet und wünschten allen eine gute Nacht.

      Die Mädchen verschwanden in den Abtritt hinten im langen Gang, die Buben erleichterten sich draussen neben dem Stall. Die Grossen lachten die Kleinen aus und zeigten ihnen, wie man einen grossen Strahl erzielen konnte; das kannte Johann von seinen Halbbrüdern. Zusammen mit Ernstli und den andern verzog er sich in die Kammer. Jemand hatte ein eigenes Kissen für ihn auf den Strohsack gelegt. Kaum hatte er die Hose ausgezogen und sich im Hemd auf den Strohsack gelegt, schlief er tief und traumlos. Die anderen tuschelten eine Weile über den Neuen, er hörte nichts mehr.

      Durch die gleichförmigen Tage und Monate gewöhnte sich der kleine Johann bald an sein neues Leben, er fühlte sich wohl. Zwar schien ihm das stete Arbeiten streng und das frühere Herumstromern in den Wirtshäusern vermisste er. Aber zusammen mit Ernstli und den andern Buben aus seiner Kammer war es meistens lustig, und alle wurden gleich behandelt.

      Der Ignaz aus der grossen Bubenkammer hatte ihn einmal wegen seiner Mutter gehänselt und sie eine billige Schnepfe genannt. Zwar hatte er den Ausdruck nicht verstanden. Aber am rohen Lachen der anderen hatte er gespürt, dass es eine Gemeinheit war. Auch wenn seine Mutter ihn noch nie besucht hatte, beleidigen liess er sie trotzdem nicht. So hatte er Ignaz ohne lange Überlegung kräftig ins Schienbein getreten. Das war nach dem Gallustag gewesen, als sie schon Schuhe trugen. Seither liessen ihn die Grossen in Ruhe.

      Er vermisste sein altes Zuhause kaum. Im Armenhaus war alles ähnlich wie bei seiner Mutter, auch das einfache Essen. Nur dass er hier immer so viel zu essen bekam, wie sein Bauch es wünschte. Seit dem Gallustag trug er am Sonntag voll Stolz seine neuen Socken. Sie kratzten und waren ihm viel zu gross, aber das machte ihm nichts aus. Der Strohsack war neu gefüllt, und er hatte jetzt auch zwei eigene Wolldecken. Der Armenvater war gerecht und behandelte alle gleich. Von der strengen Armenmutter setzte es hin und wieder eine Kopfnuss. Das berührte ihn nicht weiter, er hatte sie meistens verdient. Die Mutter hatte härter zugeschlagen.

      Zu Weihnachten erhielten alle Buben einen Lebkuchen und ein neues Hemd. Die Mädchen erhielten ihre Lebkuchen in eine neue Schürze eingewickelt. Die Frau des Pfarrers hatte zusammen mit anderen Frauen zwei Körbe mit diesen Geschenken gebracht. In der grossen Stube stand ein Christbaum. Etwas so Zauberhaftes hatte Johann noch nie gesehen. Er wäre am liebsten den ganzen Tag in der Stube geblieben, nur um den Baum zu bestaunen. Überhaupt waren die Weihnachtstage wunderbar. Seine Mutter hatte ihm eine Mütze gestrickt. Josi, sein älterer Halbbruder, hatte sie gebracht. Mutter habe keine Zeit ihn zu besuchen, hatte er gesagt und war rasch wieder gegangen. Das tat Johann weh, aber was sollte er tun? Er hätte seine Mutter gern wieder einmal gesehen, obwohl er sie kaum vermisste.

      Der bucklige Heiri hatte für die kleinen Buben neue Astkühlein geschnitzt, und Peter hatte aus einer alten Kiste einen Stall gezimmert. Nun hatten sie zwei Ställe und fühlten sich als Grossbauern. Zwar schimpften die grossen Mädchen, dass überall in der grossen Stube Heu und Stroh herumlag, aber es war ihnen nicht richtig ernst dabei. An Silvester gab es Schlorzifladen. Die Birnen dazu hatten sie im Herbst selber zusammengelesen. Ihr süsser Duft aus dem Kachelofen war wunderbar gewesen. Und hin und wieder war es den Kindern gelungen, ein paar zu stibitzen. Am Neujahrsmorgen lag für jedes Kind ein Fünfbätzler auf dem Tisch. Nein, Johann vermisste sein Zuhause nicht.

      Im dritten Jahr trat er im Frühling zusammen mit Seppi und Ernstli in die erste Klasse der Dorfschule ein. Das Zuhören und Stillsitzen behagte ihm nicht. Der Lehrer war streng; die Armenhäusler konnten ihm wenig recht machen. Die Rute auf dem Katheder lag stets bereit, und seine Hand war kräftig. Als Unehelicher war Johann in der Schule noch eine Stufe unter den Armenhäuslern, diese waren wenigstens nur Waisenkinder. Die Sache mit den Buchstaben erlernte er leidlich, aber mit den Zahlen konnte er wenig anfangen. Unterdessen war er zwar nicht viel gewachsen, aber stämmiger geworden. Er liess sich nichts gefallen, und die Schläge, die er in der Schulstube vom Lehrer einsteckte, gab er rasch und ohne lange zu überlegen auf dem Schulplatz weiter.

      Er wurde mit den Jahren eigenbrötlerisch und mürrisch. Hin und wieder lachten ihn die Mädchen aus. Dann packte er sie grob, kniff sie hart in die Schenkel oder verdrosch sie. Die meisten mieden ihn. Das Spielen mit den Astkühlein, die er so geliebt hatte, war schon lange vorbei. Er war nun ein grosser Bub und bald in der letzten Klasse. Die Schule war ihm ein öder Ort, und die Arbeit auf den Gemüseäckern des Armenhauses war ihm längst zuwider. Lieber stromerte er in der Gegend herum oder verzog sich an versteckte Plätze an der Thur. Am liebsten hätte er mit den Zugochsen gearbeitet oder die Kühe versorgt, aber Ruedi, der Meisterknecht, wollte ihn nicht im Stall haben.

      Seit Ernstli in der siebten Klasse an einer Lungenentzündung gestorben war, wäre Johann am liebsten davongelaufen, aber wohin? Zur Mutter konnte er nicht, seinen Vater kannte er nicht. Er mochte niemanden, und niemand mochte ihn. Den Armenvater verehrte er, trotzdem verschloss er sich mehr und mehr auch vor ihm. Über die Erzählungen im Konfirmandenunterricht lächelte er spöttisch. Was sollten diese Geschichten?! Stand da etwas von Armenhäuslern oder von Buben ohne Vater und Mutter? Die Bilder dieses Jesus mit den gewellten, langen Haaren kamen ihm seltsam vor. Welcher Mann ging in einem bodenlangen Hemd und spazierte einfach so durch die Tage? Was ein Apostel war, hatte er inzwischen gelernt, aber auch diese zwölf Männer, die da mit Jesus unterwegs waren, fand er eher eigenartig. Die verliessen ihre Familien, um im Land herumzuziehen. Ja, das wiederum kannte er von seinem Vater, der hatte sich auch davongemacht. Seinen Konfirmationsspruch «Selig sind die Friedfertigen, denn ihnen gehört das Himmelreich» lernte er brav auswendig, obwohl er ihn nicht verstand. Seine Mutter und die Halbgeschwister waren nicht zur Konfirmation gekommen, warum auch? Er hatte mit ihnen nichts zu tun. Zum Mittagessen hatte er ein besonderes Stück Fleisch erhalten und dazu zum ersten Mal einen Becher sauren Most bekommen. Der Armenvater hatte ihm einen blanken Zweifränkler neben den Teller gelegt. Die Armenmutter hatte ihm ein neues Hemd geschenkt. Es bestand zwar aus dem Hemd eines verstorbenen Armenhäuslers, aber sie hatte es extra für ihn angepasst und neu genäht. Er freute sich darüber und war stolz darauf. Noch nie hatte er ein so schönes Geschenk erhalten.

      Nach der Konfirmation

      Bald nach der Konfirmation ging seine Zeit im Armenhaus zu Ende. Gern wäre er da geblieben, aber die Armenkommission hatte eine Arbeitsstelle für ihn gefunden. Er musste für sein eigenes Auskommen sorgen, er war alt genug. Gefragt wurde er nicht. Der Gerbermeister Kappler im Schmiedenbach brauchte einen Taglöhner; also holte Johann den alten Beutel aus dem Regal und packte sein Bündel. Ausser zwei Astkühlein vom alten Heiri, dem Zweifränkler und den Fünfbätzlern, die es jeweils zum Neujahr gab, war nichts dazugekommen.