Novembereis. Monika Rösinger

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Название Novembereis
Автор произведения Monika Rösinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302434



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mit zwei älteren Taglöhnern schlief er in einer zugigen Kammer über der Gerbe. Es waren rohe Kerle aus dem Oberland, die ihn mit ihren zotigen Sprüchen gern in Verlegenheit brachten. Gegessen wurde in der Küche, zusammen mit den Meistersleuten, mager genug. Eine Lehre kam für ihn als Armenhäusler nicht in Frage, wer sollte das Lehrgeld für ihn aufbringen? Die Arbeit war streng. Der Gestank der Gerbe machte ihm nicht viel aus, aber dass er seine Hände nie mehr sauber bekam, das störte ihn. Er arbeitete gern neben Hans, dem Lehrling. In ihm hatte er einen guten Kameraden gefunden.

      Nach drei Jahren erhielt Hans den Gesellenbrief und verliess den Meister, um in St. Gallen eine Stelle anzutreten. Johann konnte sich seine Arbeit in der Gerbe ohne Hans nicht vorstellen. Schon der Gedanke daran tat ihm weh. Kurzerhand, gegen den Willen des Meisters, wanderte er mit Hans in die Hauptstadt. Am liebsten wäre er mit dem Freund in der Stadt geblieben. Aber da gab es keinen Platz für ihn und ohne Papiere war sowieso nicht daran zu denken, das machte ihm Hansens Meister klar. Er trieb sich noch vier Tage ziellos und hungrig in der Stadt herum, übernachtete einmal in einem Pferdestall und ein anderes Mal in einem Schopf neben dem Friedhof im Osten der Stadt. Am anderen Tag half er dem Totengräber, zwei Gräber auszuheben, und erhielt dafür Brot, Speck und Schnaps. Übelgelaunt machte er sich hungrig auf den Heimweg.

      Im Hoffeld bei Degersheim begegnete er in einem kleinen Waldstück zwei Mädchen, die ihn neugierig anblickten.

      «Was glotzt ihr so blöd?», fragte er sie unwirsch.

      «Wir glotzen gar nicht, wir kennen dich ja nicht.»

      «Doch glotzt ihr, ihr frechen Goofen, ich werde euch lehren.» Mit diesen Worten packte er die beiden Schulkinder und schlug ihnen hart die Köpfe zusammen. Er stiess beide zu Boden, hob ihnen die Röcke und schlug sie auf den blanken Hintern. Sie schrien und heulten. Sie rappelten sich auf und liefen schluchzend davon.

      Johanns Zorn war rasch abgekühlt. Er griff sich, einen zotigen Spruch murmelnd, wollüstig an sein Geschlecht und machte, dass er wegkam. Rasch schritt er aus und langte am Abend auf dem Hemberg an. Dort übernachtete er im Schuppen des Pfarrhauses, ohne dass ihn jemand bemerkte.

      Am nächsten Morgen riss er einige unreife Äpfel von einem Baum und stahl aus einem Hühnerstall zwei Eier. Gegen Abend langte er hungrig in Wattwil bei seinem Meister an. Dieser nahm ihn ohne grosses Aufhebens wieder auf; die Meisterin stellte ihm einen Teller Suppe hin. Das Vertrauen zwischen Kappler und Johann war aber zerstört. Nach drei Wochen bat Johann um den Abschied. Der Meister stellte ihm trotz seiner Eskapade ein gutes Zeugnis aus.

      So machte sich Johann auf in ein neues, freies Leben. Auf dem Amt holte er seine Schriften, verwahrte diese sorgfältig in einem Stück Leder, das er hatte mitlaufen lassen. Sein Rucksack war leicht, Geld hatte er wenig, aber immerhin hatte ihm die Meisterin neue, gute Kleider gegeben. Es zog ihn wieder nach St.Gallen, das Stadtleben schien ihm verlockend. Er fand keine Arbeit, die ihm zusagte, so zog er weiter nach Rorschach. Er übernachtete in Heuschobern und Ställen. Hin und wieder verdiente er sich ein Essen und etwas Geld mit Taglöhnerei. Manche Tage verbrachte er in Spelunken und spielte mit anderen Vaganten.

      In Rorschach verlor er bald seine Papiere bei einer Rauferei und wurde von einer Wirtin vor die Tür gesetzt. Kein Betteln und kein Jammern halfen. Sie wollte ihn nicht in ihrem Haus haben, obwohl sie mit seiner Arbeit zufrieden gewesen war. Sie hatte junge Mägde und traute ihm nicht. Seine lüsternen Blicke schienen ihr gefährlich, sie wollte keine Scherereien.

      Mit Gelegenheitsarbeiten bei Bauern und Karrern hielt er sich über Wasser. Eine feste Anstellung fand er nicht, suchte eigentlich auch keine. Nach einigen Wochen kam er mittellos in die Gegend von Wil. Mit Saufen und Kartenspielen hatte er sein letztes Geld verloren. Seinen neuen Kittel hatte er schon lange gegen einen schlechteren eintauschen müssen, seine guten Schuhe trug jetzt ein anderer. Die Hose war inzwischen schmutzig und hatte Risse. Seine Füsse steckten in schlechten Holzböden, die ihn auf den Zehen drückten und an den Fersen scheuerten. In Schwarzenbach kehrte er in einer kleinen Wirtschaft ein und fragte nach Arbeit, Schnaps und Käse. Als die Wirtin sich in die Küche zurückzog, entdeckte er unter der Ofenbank ein Paar neue Stiefel, die ihm gut gefielen. Rasch probierte er sie an, sie passten. So behielt er sie an und stellte seine schlechten Schuhe an den leeren Platz. Die Wirtin bemerkte den Diebstahl sofort, sagte aber kein Wort. Sie bediente ihn, ging hinaus und verschloss die Türen. Sie schickte den Hausknecht zur Polizei. Der rotgesichtige, strenge Beamte, der mit der Wirtin bald in die Wirtsstube trat, befahl dem verdutzten Johann, die Stiefel auszuziehen, was er ohne weiteres tat. Zwei Polizisten führten ihn nun an einer Kette zum Bezirksamt in der Stadt Wil. Dort wurde er eingesperrt und am nächsten Morgen vom Bezirksammann des Diebstahls und Vagantentums angeklagt. Am nächsten Tag brachte ihn die Polizei nach Wattwil.

      Der Armenvogt

      Wichtigtuerisch trat Pöstler Roth in die Küche im Haus auf dem Büel. Sein Gesicht war rot angelaufen, und der Schweiss tropfte in den Kragen seines nicht mehr ganz frischen Uniformhemds. Die Uniformjacke trug er vorschriftswidrig offen. Den Hut trug er nicht, den hatte er vor der langen Steigung abgenommen. Er hasste es, wenn er dem Armenvogt eine eilige Depesche bringen musste. Im Sommer kam er ins Schwitzen, und im Winter musste er den weiten Weg durch den Schnee stapfen. Beides war ihm von Herzen zuwider. Die Steigung auf den Büel war anstrengend. Er war nicht mehr jung. Er spürte die Schnäpse vom Vormittag und die Hitze des Sommernachmittags.

      «Wo ist der Vogt?», raunzte er die Küchenmagd an.

      «Sagt man jetzt nicht mehr guten Tag, oder bin ich dem Herrn Pöstler etwa zu wenig?», gab diese schnippisch zurück.

      «Hä, also, guten Tag», grüsste Roth. «Also, wo ist der Vogt?», wiederholte er ungeduldig seine Frage.

      «Wo wird er schon sein, denk in seiner Amtsstube», gab ihm Annemarei, die Magd, kurzangebunden Auskunft. Sie mochte Roth nicht. Er behandelte sie immer von oben herab. Dabei linsten seine Augen gierig und lüstern. Er war ein alter Bock. Auch widerte sie seine Ausdünstung nach Schnaps an. Sie traute ihm und seinen haarigen Händen nicht, man hörte so manches von den Mägden auf den anderen Höfen. Sie wollte nicht allein mit ihm in der Küche bleiben. So schob sie ihm einen Stuhl hin und ging rasch hinaus. Ohne Eile schritt sie durch den dämmrigen Hausgang über die kühlen Sandsteinplatten zur Amtsstube des Armenvogts. Nach kurzem Klopfen trat sie ein. Der Raum lag auf der Sonnenseite, neben der guten Stube.

      Eigentlich war es die Nebenstube, in der Göldi, der Armenvogt, die Schreibarbeiten erledigte, die sein Amt mit sich brachten. Am Tisch schrieb er mit einem Bläuel in einer Liste. Der Gemeinderat verlangte seit neustem eine Auflistung der ledigen Mütter im Dorf. Sie sollten bei ihren Pfarrern antreten und Auskunft zu ihrem Lebenswandel geben. Von den Kindesvätern war nie die Rede. Göldi fand diese neue Regelung ungerecht und unnötig, aber Amt war Amt, er konnte nichts machen. Immer wieder benetzte er den Stift mit der Zungenspitze, damit er besser schrieb. Wie immer hatte er davon blaue Lippen. Annemarei machte ihn darauf aufmerksam und er lachte.

      «Ja, ja, die Arbeit färbt halt ab, bei den einen so, bei den anderen so. Was ist, warum störst du mich? Ich sollte die Liste schon längst geschrieben haben.»

      Annemarei wusste, dass ihr Brotherr die Schreibarbeiten gern vor sich her schob. Oft machte er nur einen Entwurf und stellte für die Reinschrift seinen Sohn an. Aber dieser war seit Ostern im Welschland. So musste er wohl oder übel selber den Stift in die Hand nehmen. Als Armenvogt hatte er immer Berichte zu verfassen, die hohen Herren wollten Bescheid wissen. Lorbeeren holte man mit dieser Arbeit keine. Wer kümmerte sich schon gern um Arme und Bedürftige?! Der Gemeinderat beriet lieber über neue Strassen, das Pumpwerk im Bergli, das Spital oder am liebsten über die wachsende Textilindustrie im Ort. Er legte den Stift weg und rieb die schmerzende Hand. Das Ziehen in den knotigen Fingern wurde immer schlimmer. Das Schreiben war einfach nicht seine Sache und er war nicht mehr der Jüngste.

      «Also, was ist?», fragte er nochmals.

      «Der Roth ist da, er will mit Euch sprechen», meldete Annemarei.

      Göldi erhob sich langsam und ging in die Küche, wo der Pöstler gleichmütig auf ihn wartete. Bei Göldis Eintreten zog er sofort einen Umschlag aus der inneren Brusttasche seiner Uniformjacke und streckte ihn dem Armenvater