Tod am Piz Beverin. Rita Juon

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Название Tod am Piz Beverin
Автор произведения Rita Juon
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302380



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ich dreimal raten? Ach nein, einmal wird genügen: Du bist italienischer Kellner in Deutschland, richtig?»

      «Ja, das stimmt genau. Und wenn ich Gäste hätte, wie du einer bist, würde ich sie rausschmeissen, capisci, da kannst du sicher sein. Zum Glück sind die meisten nicht solche Arsch…»

      Diesmal fuhr Sandra dazwischen und schlichtete den Zank.

      Tiziano schwieg schliesslich und liess seinen Zorn an einem leeren Zigarettenpäckchen aus, das er wütend zerknüllte.

      Dieter erhob mit süffisantem Lächeln sein Schnapsglas und nahm einen Schluck.

      Frank holte tief Luft und beschrieb Georg und Petra den Weg, der über Alpweiden, durch Tobel und später durch den Wald jenseits des wilden Bergbachs Nolla nach Thusis führte.

      Nachdenklich beobachtete Toni Hunger die Gäste, deren Gespräche er mit Interesse verfolgt hatte. An der Gruppe war nichts Ungewöhnliches, und trotzdem konnte er das Knistern spüren, das zwischen den Gästen herrschte. Im Gegensatz zu Toni liess das Geschehen seine beiden Tischkameraden völlig unberührt. Gusti und Greti Müller berieten, was sie noch alles erledigen mussten, um ihr Ferienhaus für den Winter bereitzumachen, und schienen nichts mitzubekommen von den Spannungen an den Nebentischen.

      Schliesslich löste sich die Runde auf. Die beiden Italiener verabschiedeten sich. Angela, Jana und Julia räumten ihr Brettspiel zusammen und gingen zur Treppe, die Mädchen kichernd und flüsternd. Die Müllers trauten sich nach dem Verdauungsschnaps zu, sich zu erheben und den Heimweg zu ihrem Häuschen anzutreten. Es klappte tatsächlich, und Toni folgte ihnen hinaus. Nachdem er sich unten auf der Strasse von ihnen verabschiedet hatte, machte er sich gut gelaunt auf den Weg zu seinem Haus. Die Gästeschar schien ihm vielversprechend zu sein, wer weiss, vielleicht würde er in der kommenden Woche die eine oder andere spannende Szene miterleben.

      Sie lag niedergeschlagen im Bett und fühlte sich, als würde die Bettdecke mit dem Gewicht eines Kartoffelsacks auf ihrer Brust liegen. Sie vermisste ihn so sehr. Jetzt würden sie nebeneinander liegen und sich über die Gäste unterhalten. Sie wären sich einig, dass die Tante mit den beiden Kindern zwar nett, aber langweilig sei, der Deutsche ein mieser Kerl, den man besser mied, und der alte Bauer ein sonderbarer Typ. Sie würde sich in seine Armbeuge schmiegen, er mit ihren Haaren spielen. Der schmerzhafte Stich, den sie in ihrem Herzen spürte, liess sie aufstöhnen.

      Die Ferienreise hatte sie nicht abgesagt, weil das so kurzfristig nicht möglich gewesen wäre ohne finanzielle Einbusse. Das hätte wiederum bedeutet, dass sie nirgends hätte hinfahren können, und eine Woche ohne Tapetenwechsel war ihr noch schlimmer vorgekommen als eine Woche allein auf dem Glaspass. Nun war sie hier, doch ihre Hoffnung, an andere Gäste Anschluss zu finden, hatte sich zerschlagen.

      Den halben Abend hatte sie mit ihrem Smartphone verbracht, um ihre Kolleginnen von der Trennung zu unterrichten. Deren Mitgefühl und tröstende Worte hatten ihr gutgetan. Nun war das Handy verstummt. Ob er wohl anrief?, fragte sie sich. Sie wartete sehnsüchtig darauf, seine Stimme zu hören, und fürchtete gleichzeitig, einem Gespräch nicht gewachsen zu sein. Sie würde schimpfen oder weinen, das Telefonat würde in einem Desaster enden, und sie würde sich wünschen, er hätte nie angerufen. Doch Sandra vermisste ihn so unsäglich, dass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte.

      Georg Steingruber konnte ebenfalls nicht einschlafen. Der Platz neben ihm im Bett war leer. Das war er gewohnt, denn während er um zehn Uhr abends jeweils rasch schläfrig wurde, dachte Petra um diese Uhrzeit noch in keiner Weise an Nachtruhe. Trotzdem hätte es ihn gefreut, wenn sie sich heute, an ihrem ersten Ferientag, zu ihm ins Bett gelegt hätte. Sie hätten sich über ihre neuen Bekanntschaften unterhalten können, über ihre Pläne für die nächsten Tage, über diese abgeschottete Welt auf über achtzehnhundert Metern Höhe, die für eine Woche ihr Zuhause war. Doch Petra war noch nicht von der Gaststube ins Zimmer heraufgekommen. Georg seufzte. Er zündete die Nachttischlampe an und nahm sein Buch zur Hand, um noch ein paar Seiten zu lesen, bis seine Frau endlich das Zimmer betreten würde.

      Die leisen, regelmässigen Atemzüge waren der einzige Laut, der in den frühen Morgenstunden in einem der Zimmer zu hören war. Das Mondlicht zeichnete in der Dunkelheit ganz schwach die Konturen der Möbel nach. Die Kraft des Mondes reichte gerade aus, um einige Grautöne aus der Schwärze der Nacht herauszuarbeiten, aber weder für Farben noch für Wärme. Es war ein kaltes Licht. So kalt wie das Innere der Gestalt, die im Bett lag, kalt und grau.

       1964

      Wie immer hatte er nach der Schule die Hausaufgaben erledigt und war dann zu Schorsch in den Stall gegangen. Er half dem Alten jeweils, die Kühe zu versorgen, und oft erledigte er allerhand weitere Arbeiten. Der Alte war froh über seine Gesellschaft und seine Arbeitskraft und verdankte ihm seine Unterstützung häufig mit einem Abendessen.

      So auch an diesem Tag. Johanngeorg schaute daheim kurz in der Gaststube vorbei, um seiner Mutter gute Nacht zu sagen, doch sie war nicht da. Sie sei mit dem Chef ins Tal gefahren, um Besorgungen zu machen, und noch nicht zurück, sagte die Chefin. Das war nicht aussergewöhnlich, und Johanngeorg ging hinauf in sein Zimmer.

      Als er am nächsten Tag aufstand, war das Bett seiner Mutter leer. Er wusste sofort, dass eine Katastrophe über ihn hereingebrochen war. Die Welt schien stillzustehen, alle Geräusche verstummt.

      Die Wirtin überbrachte ihm die schreckliche Nachricht. Seine Mutter sei gestern unten im Ort von einem besoffenen Autolenker angefahren worden. Der Wirt sei mit ihr ins Spital nach Schiers gefahren und habe einige bange Stunden in den Gängen der Klinik verbracht. Er habe inniger gebetet als je in seinem ganzen Leben, doch Gott erhörte ihn nicht. In der Nacht hätten ihn die Ärzte von ihrem Tod unterrichtet.

      Johanngeorg starb ebenfalls. Er stürmte aus dem Haus und rannte den Berg hinauf, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Er krümmte sich vor Schmerz, weinte, übergab sich, schrie. Irgendwann schlief er ein vor Erschöpfung.

      Im Morgengrauen ging er zu den Kühen in Schorschs Stall. Dieser fand ihn, als er mit dem Melken beginnen wollte. Er versuchte, den Jungen zu trösten, redete mit ihm, doch Johanngeorg war erstarrt. Er sprach nicht, weinte nicht, reagierte nicht. Sein Körper funktionierte, doch er war unerreichbar.

      In den kommenden Wochen beriet man im Dorf, was mit ihm geschehen sollte. Die Wirtsleute waren nicht erpicht darauf, einen Esser mehr am Tisch zu haben, sie sorgten bereits für zwei ledige Onkel, die bei ihnen lebten. In der Familie von Joggel, seinem leiblichen Vater, gab es ebenfalls keinen Platz für ihn. Vorübergehend lebte er bei Schorsch, doch auf die Länge ging das nicht, Schorsch war zu alt, um sich um ihn kümmern zu können.

      Schliesslich bahnte sich eine Lösung mit einem kinderlosen Paar in einem der Nachbardörfer an. Die Eheleute nahmen Johanngeorg auf und bemühten sich, ihm ein neues Daheim zu geben. Ein unmögliches Unterfangen. Wie konnten diese beiden schweigsamen Leute, die ihn niemals an sich drückten und nur selten mit ihm lachten, seine fröhliche, herzliche, lebensprühende Mutter ersetzen?

      Als Johanngeorg nach drei Monaten immer noch kein Wort gesprochen hatte, begannen die Eheleute zu resignieren. Sie liessen ihn weiterhin bei sich wohnen und begegneten ihm mit Wohlwollen, doch die Hoffnung, dass er den Platz eines eigenen Kindes einnehmen könnte, gaben sie auf.

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