Tod am Piz Beverin. Rita Juon

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Название Tod am Piz Beverin
Автор произведения Rita Juon
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302380



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von eurem Aufenthalt hier.»

      «Die sind nicht sauber», sagte Pulit traurig, der unbemerkt neben Toni getreten war. «Sie sind schmutzig, haben böse Gedanken.»

      «Ach, Pulit, wenn es so einfach wäre», bemerkte Toni. «Nicht wenige, die blitzsauber aussehen, haben Dreck am Stecken.»

      «Sauber auszusehen reicht nicht. Sie müssen sauber sein. So wie du, Toni. Du bist sauber.»

      «Ich, Pulit? Du machst dir keine Vorstellung, wie viele böswillige, hinterhältige Gedanken meinen Geist bevölkern! Nein, ich bin nicht sauber. Im Gegensatz zu Annamaria, sie ist sauber, so, wie du es verstehst. Aber ich selber habe Schmutzflecken, die sich nicht entfernen lassen.»

      «Nein, Toni, du hast keine Schmutzflecken, du bist sauber. Aber die da oben, die sind nicht sauber, Toni, die nicht.» Er wischte die Bank ab, von der sich Toni erhoben hatte, und machte sich auf den Heimweg.

      Auf der Terrasse des Gasthauses war es ruhig geworden. Einige der Hotelgäste sassen bei einem Aperitif, lauschten dem auffrischenden Wind und atmeten die Luft ein, die bereits einen Hauch von Herbst mitzuführen schien. An einem Tisch sass das Ehepaar Müller, das in Ausserglas ein Ferienhaus besass, sich aber häufig das Kochen ersparte und die gute Küche von Frank im Berggasthaus genoss. Zu Sandra Studacher hatten sich zwei junge Burschen, offenbar Italiener, gesellt, die es auf der Suche nach Arbeit für die Wintersaison nach Glas verschlagen hatte. Frank, der Wirt, konnte ihnen zwar keine Stelle anbieten, doch ein währschaftes Abendessen wollten sie sich nicht entgehen lassen. Mit sicherem Blick hatten sie zwei Plätze neben Sandra ausgewählt, der einzigen, darüber war sie sich rasch im Klaren, weiblichen Person unter vierzig weit und breit.

      Tatsächlich war Tizianos Taxierung in diesem Sinn ausgefallen, wenn auch weit weniger diskret: Tolle Beine, hübsche Augen, zu grosse Nase, zu schmale Lippen, zu dünn, zu flachbrüstig, viel zu klein, besser als gar nichts. Rasch waren die drei ins Gespräch gekommen, das hauptsächlich von Tiziano bestritten wurde.

      «Ich kenne die Berge gut, capisci», sagte Tiziano gerade. «Bei uns zu Hause gehen wir klettern, im Winter im Eis der Wasserfälle, oh, das ist meraviglioso, wunderschön.»

      «Warst du tatsächlich einmal Eisklettern?», fragte Lorenzo, der ruhigere der beiden, ungläubig.

      «Klar, weisst du nicht mehr, in Cortina d’Ampezzo!»

      Lorenzo stimmte rasch zu, obwohl er genau wusste, dass Tiziano Cortina nur von den Skirennen im Fernseher kannte. Er hütete sich, weitere Fragen zu stellen, wusste er doch, dass Tiziano hemmungslos flunkerte, wenn es ihm in den Kram passte.

      «Geht ihr morgen auf den Piz Beverin?», fragte Sandra. «Das müsste dann ja ein Leichtes sein für euch.»

      «Wir gehen heute noch runter nach Thusis, wir schlafen dort bei einem Kollegen. Mit ihm gehen wir auf die Gasse heute Abend, kommst du mit? Es gibt einige Bars in Thusis, Chur ist auch nicht weit, oder Flims, Davos …»

      «Nein, danke!», wehrte Sandra indigniert ab, was Tiziano weder erstaunte noch enttäuschte. Wenn er schon vorhatte, sich auszutoben diese Nacht, brauchte er sich nicht mit einer ausgemergelten Sportverrückten zu belasten, die womöglich um zwei Uhr bereits nach Hause wollte.

      Ihr Geplänkel wurde unterbrochen von der Ankunft der letzten Übernachtungsgäste, der drei jungen Männer aus Deutschland, die Frank angekündigt hatte. Zwar befanden sie sich auf der Zufahrt ausser Sichtweite der Gruppe auf der Terrasse, nicht aber ausser Hörweite. Allem Anschein nach lieferten sie sich eine wütende Auseinandersetzung. Als sie schliesslich die Treppe heraufkamen, schwiegen sie, doch die gespannte Atmosphäre war beinahe mit Händen zu greifen. Die Gespräche waren verstummt, die Gäste musterten die Neuankömmlinge verstohlen. Frank hingegen begrüsste sie unbefangen und führte sie hinauf in ihr Zimmer.

      Auf dem Polizeiposten in Thusis beschäftigte sich Walter Buess mit den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er ordnete die Stapel neu, richtete einige Stifte parallel zum Rand der Schreibtischunterlage aus und liess sich sogar dazu hinreissen, mit einem Tuch über den Bildschirm zu wischen.

      Endlich Freitag!, dachte er und summte vor sich hin. Eine ruhige Arbeitswoche neigte sich dem Ende zu, er freute sich auf ein ebenso ruhiges Wochenende. In der Einkaufstasche, die neben der Tür am Kleiderhaken hing, befanden sich eine grosse Schachtel mit Schokoriegeln (Aktion, plus zwanzig Prozent gratis), zwei neue CDs (Schottisch und Polka sowie Best of Tirol, letztere dreissig Prozent herabgesetzt), sowie ein Stapel neue Notenblätter: Schlager der 70er für Akkordeon (teuer, zum vollen Preis erstanden). Er wollte bis zum Feierabend in einer halben Stunde keine Stricke mehr verreissen, sondern sich mental auf die beiden freien Tage einstellen. Das gelang ihm für genau sechs Minuten. Dann wurde die Tür aufgerissen und seine Bürokollegin stürmte herein.

      «Walterli, du fauler Kerl, bist du geistig schon im Wochenende?», fragte Meta Schäfer gut gelaunt.

      «Schäferin, schone meine Nerven. Du bist der einzige Mensch hier, der bereits im Büro steht, bevor die Tür offen ist. Die Reihenfolge ist umgekehrt, begreifst du das nicht?»

      «Du leidest unter verzögerter Wahrnehmung. Tritt häufig auf, wenn man gerade geschlafen hat.»

      «Was du hier machst, nennt man versuchte Körperverletzung. Eines Tages werde ich einen Herzinfarkt erleiden, weil du mich so erschreckst.»

      Meta liess sich in ihren Bürostuhl plumpsen, der den Angriff mit bemerkenswerter Lautlosigkeit ertrug.

      Buess stöhnte. «Herrgott, schone wenigstens das Mobiliar, wenn es dir schon bei meinen Nerven nicht gelingt!», fluchte er.

      Sie angelte einen Halbliter Cola unter dem Tisch hervor, öffnete den Schraubverschluss und trank direkt aus der Flasche. Dann räkelte sie sich wohlig. «Ah, thank God it’s Friday», sagte sie. «Das wird ein ruhiges Wochenende: Kein grosser Anlass in der Region, kein Feiertag, keine Hochsaison, wenig Verkehr auf den Strassen. Ich werde dreissig Stunden schlafen und dazwischen liegen. Und du? Ist Sidonia immer noch im Osten?»

      «Ja, sie bleibt noch einige Wochen in Moldawien. Neben der Arbeit im Kinderheim hat sie ein Projekt angerissen, um Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen zu schaffen. Das läuft harzig an. Sie wird wohl dort bleiben, bis der Winter anbricht.»

      «Armer Walter», sagte Meta mit echtem Mitgefühl in der Stimme. «Was tust du denn das ganze Wochenende, ausser Süssigkeiten essen und Heimatfilme schauen?»

      «Den Hometrainer strapazieren, um die Kalorien zu verbrennen, die ich in mich hineinfuttere!»

      Toni konnte es nicht lassen. Er hatte seinem Sohn im Stall geholfen, mit Annamaria zu Abend gegessen, den Wetterbericht im Fernseher geschaut. Danach war er gleich sitzen geblieben, weil eine neue Folge einer Krimiserie kam. Er liebte diese Serie. Die Kommissarin war eine bodenständige, praktische junge Frau, keine aufgemöbelte Zicke, die in Stöckelschuhen auf Verbrecherjagd ging. Und der Kommissar hatte einen Bauch, wie es sich in seinem Alter gehörte. Nachdem die Täter gefasst waren, konnte Toni jedoch nicht mehr sitzen bleiben. Die Neugier trieb ihn ins Gasthaus. Er wollte die neuen Gäste aus der Nähe sehen.

      Nach der abendlichen Kühle draussen war es in der Gaststube angenehm warm. Der Raum hatte grosse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in seinem Haus. Die Wände waren getäfelt, das unbehandelte Holz stark nachgedunkelt. Der caramelfarbige Kachelofen nahm einen beträchtlichen Platz ein im ohnehin nicht grossen Raum. Das schummrige Licht passte zur warmen Atmosphäre und stammte von hübschen Hängelampen, wie sie früher auch Tonis Mutter besessen hatte. Karierte Vorhänge, Ansichtskarten von Gästen und allerlei Schnickschnack auf Simsen und Regalen wirkten ebenfalls freundlich und boten den Gästen eine familiäre Atmosphäre, die überdies zahlreiche Klischees vom Leben in den Bergen bediente.

      Fast alle Tische waren besetzt. Toni erblickte Müllers hinten an der Wand, die ihm zuwinkten und ihm bedeuteten, sich zu ihnen zu setzen.

      «Dasselbe, bitte», beantwortete Toni Franks Frage nach seiner Bestellung und deutete auf die Getränke von Gusti und Greti Müller, die beide einen Espresso und ein Gläschen Grappa vor sich hatten.

      «Wir