Tod am Piz Beverin. Rita Juon

Читать онлайн.
Название Tod am Piz Beverin
Автор произведения Rita Juon
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302380



Скачать книгу

und kerzengerade. Ob ich ihr die Tasche tragen soll?»

      Mach dich nicht lächerlich, kommentierte Annamaria im Geiste, bis du oben an der Strasse bist, hat sie längst ausgepackt.

      «Ach, das Alter! Bis ich die Strasse erreicht hätte, wäre sie längst im Gasthaus verschwunden. Ah, jetzt schaut sie aber wirklich zu uns!» Toni winkte der jungen Frau freudig zu, die sich rasch umwandte und den kurzen Anstieg zum Gasthaus in Angriff nahm.

      «Die ist bestimmt aus einer deutschen Grossstadt», maulte Toni enttäuscht. «Sie hat bis anhin so viele schlechte Erfahrungen gemacht, dass sie ein freundliches Winken schon für aufdringlich hält. Ich tippe auf Berlin, Hannover oder Rostock. Sie studiert Geologie und hat vermögende Eltern, die ihr einen Studienurlaub in den Alpen finanzieren. Zu Hause hat sie einen Freund, der ihr …»

      Der Rest ging im Rattern der Nähmaschine unter. Annamaria beendete die Naht und blickte kurz aus dem Fenster. Falsch, dachte sie. Das Fräulein hat einen schleppenden Gang, das liegt nicht nur am Gewicht der Tasche, da ist etwas, das sie bedrückt.

      «Irgendwie fehlt der Tatendrang», sinnierte Toni. «Sie ist vielleicht doch nicht so unbelastet. Hat sie eine Prüfung nicht bestanden? Kranke Eltern? Annamaria, was denkst du?»

      «Liebeskummer», antwortete Annamaria.

      «Liebeskummer? Ja!», freute sich Toni, «ein ehemaliger Ossi hat sie sitzen gelassen!»

      Wenn schon, wäre es ein Sohn von einem ehemaligen Ossi, korrigierte Annamaria für sich. Für eine Nord- oder Ostdeutsche ist sie aber zu zierlich.

      «Gibt es überhaupt so kleine deutsche Frauen?», überlegte Toni. «Schöne Beine gibt es tatsächlich auch in Deutschland, aber im Übrigen stimmt die Machart einfach nicht. Graubünden? Macht eine Bündnerin allein Ferien auf dem Glaspass?»

      Annamaria schüttelte den Kopf.

      «Zürich!», rief Toni mit voller Überzeugung.

      Bingo, dachte Annamaria und drückte aufs Pedal ihrer Maschine.

      Sandra Studacher, die so eingehend beobachtete junge Frau, hatte ihre Klischeevorstellungen von einem Bergdorf erfüllt gesehen, als sie die Fraktion Ausserglas erreicht hatte. Jahrhunderte alte, dunkelbraun gebrannte Holzhäuser, Kühe, deren Glocken fröhlich bimmelten, Alpenrosen- und Beerenstauden, sogar kleine Wölkchen am blauen Himmel – alles war da. Einzig der Sonderling, der am Dorfeingang vor seinem Haus sass und Selbstgespräche führte, schien das Bild zu stören. Sandra fühlte sich stark an die obdachlosen Alkoholiker erinnert, die in Zürich-Oerlikon, wo sie wohnte, an den Bushaltestellen sassen und unverständliches Zeug brabbelten, zwischen den Knien eine Papiertüte, deren Inhalt leicht zu erraten und häufig auch zu riechen war. Beim Alten hier in Glas, dessen graublonder Bart bei seinem Gemurmel nach allen Richtungen tanzte wie Wäsche an der Leine, hatte sie zwar weder Tasche noch Flasche bemerkt, doch hatte er seinen Vorrat bestimmt hinter dem geöffneten Fenster in seinem Rücken gelagert, so dass er für den nächsten Schluck bloss den Arm auszustrecken brauchte. Allzu genau wollte sie es gar nicht wissen, vielmehr wandte sie sich dem Gasthaus zu, das vor ihr lag. Dort also würde sie die kommenden Tage verbringen.

      Eine Woche Ferien auf dem Glaspass. So ein Mist. Sie liebte die Berge, das Wandern, das Biken. Ihren Freund hingegen liebte sie nicht mehr. Oder vielleicht doch? Oder vielleicht war er ihr Exfreund? Verdammter Mist.

      Nach drei gemeinsamen Jahren standen sie nun vor der Trennung. Oder nach der Trennung? Vielleicht am ehesten im Trennungsprozess. Drei Jahre! Drei glückliche Jahre. Na ja, drei einigermassen glückliche Jahre, sicher drei nicht schlechte Jahre. Auf jeden Fall drei bequeme Jahre. Er war immer da, stand zur Verfügung für gemeinsame Ausflüge in die Berge, Ausgang in Zürich, Ferien in Alaska und zum Überstehen öder Familientreffen.

      Und jetzt warf er ihr drei gemeinsame Jahre vor die Füsse, wie der gallische Häuptling seinen Schild Cäsar hingeschmettert hatte, und meldete sein Bedürfnis nach Abstand an. Ausgerechnet vor den Ferien, die sie eigentlich gemeinsam in den Bündner Bergen hatten verbringen wollen, in die sie nun aber notgedrungen allein aufgebrochen war. Verdammter … Sie wiederholte sich. Sie öffnete die Tür zum Gasthaus und wandte sich praktischeren Dingen zu.

      Toni Hunger sass träge in der Sonne, längst nicht mehr kerzengerade. Die Tagesausflügler, die er unterdessen beobachtet hatte, weckten seine Neugier nur schwach. Unschwer teilte er sie seinen nicht vorurteilsfreien Kategorien zu, die sich immer wieder bestätigten und die Annamaria längst auswendig kannte. Er unterschied Wandervögel und Bereifte. In der ersten Gruppe begegnete er ehrgeizigen Angebern mit Verachtung, geniesserischen Naturliebhabern mit Offenheit und jungen Draufgängern sowohl mit Anerkennung als auch mit Sorge. Unter den Touristen, die den Glaspass mit Fahrzeugen heimsuchten, machte er zahlreiche Mountainbike- und Motorradfahrer aus sowie Ausflügler, die ein Reisecar auf den Glaspass gebracht hatte.

      «Oh, die Beine!» Toni richtete sich behände auf und schüttelte seinen schläfrigen Dämmerzustand ab. Mit eingezogenem Bauch beobachtete er, wie die mutmassliche Zürcherin ein Mountainbike bestieg und die Zufahrt vom Berggasthaus herunterrollte. Offensichtlich musste sie die Einstellungen erst testen, sie schien sich eines der Räder, die im Gasthaus bereit standen, ausgeliehen zu haben. Toni freute sich an ihrem Anblick, während sie in seine Richtung fuhr, und liess ein triumphierendes «Hahaaa!» vernehmen, als sie direkt oberhalb seines Hauses vom Sattel stieg und dessen Höhe verstellte.

      «Schau nur, Annamaria, was für ein erfreulicher Anblick!», röhrte Toni begeistert ins Hausinnere. Er begann zu winken und rief der jungen Dame zu: «Brauchen Sie Hilfe? Soll ich Werkzeug bringen?»

      Die Radlerin zuckte zusammen. Sie stand rasch auf, schüttelte den Kopf in Tonis Richtung, schwang sich aufs Rad und fuhr eilig davon.

      Mein lieber Mann, auf einen AHV-Bezüger scheint sie nicht erpicht zu sein, dachte Annamaria.

      Sandra Studacher fluchte. Schon wieder dieser alte Spinner, und schon wieder war sie fast zu Tode erschrocken! Irgendetwas von Werkzeug hatte er gerufen. Als ob sie Werkzeug brauchen würde, um die Sattelhöhe einzustellen. Vermutlich hatte er in seinem Keller noch ein Militärvelo aus dem Aktivdienst stehen, eine Tonne schwer und mit nur einem Gang. Was wusste der von einem Mountainbike, er konnte doch nicht einmal das Wort aussprechen. Nie im Leben hätte sie sich eingestanden, dass sie sich weit mehr über sich selbst und ihre Ängstlichkeit ärgerte als über den Alten. Sie warf den Gedanken an ihn im Geiste über die Schulter. Das spöttische Grinsen ihres Beziehungspartners im Trennungsprozess, das sich vor ihr inneres Auge drängte, schmiss sie energisch hinterher. Entschlossen reckte sie die Nase in die Höhe und legte noch etwas Tempo zu auf der Hochebene, bevor sie sich genussvoll der Talfahrt über die enge Bergstrasse nach Obertschappina hinunter hingab.

      «Dieses Hilfsangebot scheint bei der Radfahrerin nicht gut angekommen zu sein!» Vor Toni stand ein nicht mehr ganz junges Pärchen, dessen Herkunft Toni bei den ersten Worten der lächelnden Frau unschwer erraten konnte.

      «Tatsächlich, ein Rat zum Rad war nicht willkommen.» Toni lachte die Österreicherin an und bedeutete den beiden, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen.

      «Der Rat mit dem Gerat fürs Rad war wohl etwas unbeholfen …»

      «Auch nicht schlimmer als dieses Wortspiel. Ä-Punkte weglassen gilt nicht! Gerat, also bitte. Mögt ihr einen Sirup?»

      «Ja, gerne!»

      Toni holte zwei Gläser und reichte sie den beiden Wanderern, die sich als Georg und Petra Steingruber vorstellten.

      «Ja, Österreicher», bestätigte Petra Tonis Vermutung.

      Treffer, dachte Toni, und schaute seine Frau triumphierend an.

      Gemogelt, du hast sie sprechen gehört, antwortete Annamaria mit einem Blick.

      Sandra Studacher war nach ihrer rasanten Abfahrt verschiedenen Alpwegen gefolgt, so dass sie in einem weiten Bogen über den Heinzenberg bis zur Obergmeind aufgestiegen war. Die kleine Siedlung bestand hauptsächlich aus Ferienhäusern, meist ehemaligen Bauernhäusern, und Touristenlagern und lag direkt an der Mittelstation der Skilifte, die ihre Zugseile über zurzeit