Название | Tod am Piz Beverin |
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Автор произведения | Rita Juon |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302380 |
«Fertig jetzt, genug geschwatzt, gib endlich die Karten aus!», rief Toni, worauf sich Karl auf die Jasskarten konzentrierte, die er in der Hand hielt.
Am späten Abend verliessen die vier Männer gut gelaunt das Berggasthaus in Glas. Toni Hunger strich sich zufrieden über den Bart und hob den Blick zum sternenklaren Himmel. Einen kurzen Moment lang dachte er mit leisem Bedauern an all die Leute in den Städten, die einen solchen Himmel nie zu Gesicht bekamen, weil die vielen künstlichen Lichter keinen Blick bis ins All erlaubten. Bald kommt der Herbst, dann sehen sie da unten im Mittelland sowieso nur noch Nebel, dachte er, atmete die kühle Nachtluft tief ein und dankte dem Himmel dafür, dass er nicht in der Stadt leben musste. «Das war ein Jass!», sagte er zufrieden und klopfte seinem Spielpartner Emanuele Santacaterina auf die Schulter. «Mit dem Dreifärber am Schluss hätte es auch schief gehen können.»
«Zum Glück war die Eckendame bei dir, sonst hätte es schlecht ausgesehen für uns», lachte Emanuele und schlug den Kragen hoch. «Walter, kann ich mit dir fahren? Ich sollte nicht mehr selber hinters Steuer.»
«Klar, steig ein», antwortete Walter Buess und öffnete die Beifahrertür. Mitfahren ist gut, dachte er, heimchauffieren ins Tal müsste es heissen. Einmal mehr hatte sein Kamerad seinen Vorsatz gebrochen, nur ein Glas Roten zu trinken, weil er das Auto dabei hatte. Immerhin war er vernünftig genug, den Wagen stehen zu lassen. Falsch, korrigierte sich Buess, von Vernunft konnte man eigentlich nicht sprechen. Diese Einsicht war ihm mit einer hohen Busse und ein paar Monaten Ausweisentzug vor Jahren gnadenlos eingebläut worden.
«Bis zum nächsten Freitag!», rief Karl Riedi seinen Kameraden zu, «und dann wird das Glück auf meiner Seite sein. Drei Mal trumpfen mit dem Nell zu dritt, Walter, so schlecht kann es uns gar nicht mehr gehen das nächste Mal!» Er stieg ebenfalls zu Buess ins Auto. Im Gegensatz zu Emanuele Santacaterina hatte er den Fahrausweis freiwillig abgegeben und seinen alten Opel gegen ein Mofa eingetauscht, das ihm gute Dienste leistete. Zur Jassrunde liess er sich jedoch gerne von Walter Buess von Obertschappina nach Glas mitnehmen.
Als das Auto im Wald unterhalb der Siedlung verschwunden war, genoss Toni Hunger die Stille. Kein menschlicher Laut war zu hören mit Ausnahme seiner eigenen Schritte und seiner Atemzüge. Trotzdem war die Luft von Geräuschen erfüllt. Die Glocken der Kühe, die erst vor Kurzem von der Alp zurückgekehrt waren und sich im Schlaf regten. Ein Käuzchen, das unten am Waldrand rief. Der Wind, der die Hänge streichelte und die Blätter, Halme und Stauden flüstern liess. Der Bach, der leise durch die Hochebene des Glaspasses gluckste. Vor der Haustür streifte er ordentlich die Erde von den Sohlen ab und betrat leise das alte Bauerhaus, um Annamaria nicht zu wecken.
1959
Erleichtert stellte Johanngeorg seinen Schulsack in eine Ecke. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man die Schule nicht erfinden müssen. Was der Lehrer erzählte, interessierte ihn kaum, und mit seinen Klassenkameraden verstand er sich nicht besonders. Von Zeit zu Zeit wurde er gehänselt, weil er sich nicht an ihren Spielen und Streichen beteiligte, sondern lieber für sich blieb. Das war ihm egal. In der Regel dauerte es nicht lange, bis die andern ihren Spass daran verloren. Sie nahmen ihn gar nicht mehr wahr, was ihm recht war.
Auf dem Tisch in der winzigen Stube standen noch die Reste des Mittagessens, das seine Mutter aus dem Restaurant mitgebracht hatte. Lecker. Er verputzte den Rest, bevor er in den Holzschopf hinter dem Restaurant ging. Dort sass er oft, spielte mit den Holzscheiten, baute Dörfer daraus, schnitzte Figuren hinein.
Als es dunkelte, räumte er auf und ging wieder hinauf in ihre Kammern über der Gaststube, wo er seufzend und stöhnend seine Hausaufgaben erledigte. Seine Mutter kam normalerweise zwei-, dreimal vorbei, wenn es der Betrieb im Restaurant erlaubte. So auch heute. Sie herzte ihren Sohn, erzählte ihm von ihrem Tag, liess sich von ihm seine neusten Schnitzereien zeigen. Sie versprach Johanngeorg, ihm die Reste der gebrannten Creme mitzubringen, sofern etwas davon übrigblieb.
Seine Augen leuchteten. Er liebte es, wenn ihn seine Mutter mitten in der Nacht weckte, damit sie gemeinsam von den Überbleibseln der Süssspeisen naschen konnten. Wenn es kalt war, sassen sie aneinander gekuschelt unter der Bettdecke und assen gemeinsam direkt aus dem Topf.
Er ging beizeiten ins Bett in der winzigen Nebenkammer. Dort wartete die Holzfigur auf ihn, die ihm der alte Schorsch, der oft im Restaurant sass, geschenkt hatte. Jeden Abend schliefen sie gemeinsam ein. Stolz hatte er das Männchen seiner Mutter gezeigt und erklärt, es heisse Joggel. Seine Mutter hatte ihn prüfend angeschaut, fast schon erschrocken. Er konnte sich nicht erklären, weshalb. Jedenfalls hatte seine Mutter so lange gedrängt, einen anderen Namen für die Figur zu suchen, dass er zuletzt nachgegeben hatte. Jetzt hiess der Joggel halt Franz, was soll’s.
2014
Samstag
Annamaria Hunger sass an der Nähmaschine, umgeben von einem hübschen, bunten Stoff mit Entenmuster. Sie freute sich darauf, aus diesem zwei gleiche Jäckchen für ihre zwei- und dreijährigen Enkeltöchter zu nähen, die auf dem Hof wohnten. Eine Weste für den etwas älteren Enkel plante sie ebenfalls, mit einem aufgenähten Traktor, aber dazu würde die Zeit heute nicht mehr reichen.
Toni betrat die Stube und streckte sich, um nach dem Mittagsschläfchen wieder in Schwung zu kommen. Jetzt noch den Nacken lockern, dann war er bereit. «So, dann schauen wir mal, wer heute alles eintrifft», sagte er voller Vorfreude. «Frank sagte gestern, er erwarte Gäste aus Deutschland, Österreich, Zürich und Graubünden. Bin gespannt, ob ich wieder richtig rate.»
Wieso wieder?, dachte Annamaria, meistens liegst du weit daneben.
«Obwohl … Wieder kann ich eigentlich nicht sagen, meistens liege ich weit daneben», bemerkte Toni. Er schenkte sich aus dem Krug, der auf dem Fenstersims stand, ein Glas Sirup ein.
«Ich stelle den Krug weg, dann hast du von der Nähmaschine aus freien Blick auf die Zufahrt», sagte Toni eifrig. Er war überzeugt, dass seine Frau eine wesentlich höhere Trefferquote hätte als er, wenn sie sich an seinem Gastspiel, wie er es nannte, beteiligen würde. Jeden Samstag bei schönem Wetter beobachtete er die Gäste, die im Berggasthaus eintrafen, um ein paar Tage oder eine Ferienwoche auf dem Glaspass zu verbringen; wandernd, Velo fahrend, Beeren pflückend,
Kristalle suchend, Motorradtouren unternehmend. Sie den spärlichen Angaben von Frank, dem Wirt, zuzuordnen, machte Spass. Toni war auf der Bank vor dem Fenster noch damit beschäftigt, es sich bequem zu machen, als seine Frau ihn blitzartig herumfahren liess.
«Schau», sagte Annamaria.
Er setzte sich kerzengerade auf die Bank und kniff die Augenbrauen zusammen, um die Ankunft des ersten Autos besser sehen zu können.
«Aha, eine Frau. Allein. Jung. Hübsch», kommentierte Toni.
Hübsch? Das siehst du doch gar nicht auf diese Distanz, dachte Annamaria.
«Diese Brille ist nichts mehr wert», wetterte Toni, «ich sehe kaum, ob sie hübsch ist oder nicht. Aber diese Beine! Donnerwetter.» Unwillkürlich streckte er seinen Rücken, als er beobachtete, wie die Frau zum Kofferraum ging, um eine grosse Reisetasche auszuladen. «Was macht denn eine junge Frau allein auf dem Glaspass? Bestimmt trifft sie hier jemanden und reist am Abend wieder ab.»
Annamaria schüttelte den Kopf, als sie den Faden verknüpfte. Kaum, mit so viel Gepäck.
«Nein, das kann nicht sein», überlegte Toni, «mit so viel Gepäck wird sie eine Weile bleiben. Ob sie wohl jemanden besuchen kommt?»
Ohne dass wir davon gehört haben? Annamaria hob zweifelnd die Augenbraue.
«Was jedoch unwahrscheinlich ist, denn dann wüsste seit Tagen das ganze Dorf Bescheid. Also weiter. Ob sie wohl bei Frank im Gasthaus arbeiten wird?»
Kurz vor dem Saisonende?
«Auch nicht besser. Die letzten paar Wochen der Sommersaison wird Frank es auch noch zusammen mit seinen bisherigen Helfern schaffen, wenn das bereits seit Monaten auf diese Weise funktioniert hat. Oh!», unterbrach er sich aufgeregt. «Jetzt schaut