Tod auf dem Klangweg. Regula Stadler

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Название Tod auf dem Klangweg
Автор произведения Regula Stadler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302397



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      Am Donnerstagmorgen war das Wetter immer noch wie aus dem Bilderbuch. Liza Huber wollte die ihr verbleibende Zeit nutzen und nochmals zum Klangweg hinauf. Diesmal würde sie von der Sellamatt bis nach Wildhaus wandern. Sie hatte die Ferienwohnung in der Webstube Bühl oberhalb von Nesslau leider nur bis Ende Woche gemietet, da sie vorhatte, am Samstag nach Zürich zurückzukehren. Bei diesen phänomenalen Wetterverhältnissen drängte sich eine Änderung ihrer Pläne jedoch förmlich auf. Zudem wurde ihre Detektei in Zürich in letzter Zeit von Kundinnen nicht gerade überlaufen. Heute Abend würde sie versuchen, die Miete der Wohnung um eine Woche zu verlängern. Sie kannte die Webstube Bühl von früher. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie mit der Quereinsteiger-Ausbildung zur Primarlehrperson begonnen hatte, hatte sie einmal an einem Webkurs teilgenommen. Als sie zufällig im Internet entdeckt hatte, dass die ehemalige Webstube zu einem attraktiven Loft mit einer Toggenburger Hausorgel umgebaut worden war, die man als Ferienwohnung mieten konnte, hatte sie beschlossen, an diesem idyllischen und friedlichen Ort eine Woche Ferien zu machen.

      Schon um neun Uhr parkierte sie ihr Auto in Alt. St. Johann bei der Talstation der Sesselbahn auf die Sellamatt und schwebte den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Oben angelangt, beschloss sie, direkt loszuwandern und erst im Restaurant auf dem Iltios einen Kaffee zu trinken. Sie schritt zügig aus, noch war kaum jemand unterwegs, das Gras war feucht vom Morgentau, die Landschaft funkelte und glitzerte in der Sonne. Liza fühlte sich wie in einer Märchenwelt. Immer wieder blieb sie an den einzelnen Klangwegstationen stehen, um die teils witzigen und spannenden Instrumente in Bewegung zu setzen und um, wie sie sich eingestehen musste, ein wenig zu verschnaufen. Sie war nicht mehr so sportlich wie früher; mit ihren achtundvierzig Jahren war sie etwas füllig geworden.

      Ich muss unbedingt wieder abnehmen! Eine Detektivin, die schon nach kurzer Marschzeit in Atemnot kommt, das kann es doch nicht sein, schalt sie sich. Eine Weile blieb sie stehen und genoss die Aussicht ins Tal.

      Obschon sie auf der Sellamatt auf einen Kaffee verzichtet hatte, spürte sie jetzt einen Druck auf der Blase. Weit und breit war niemand zu sehen; sie würde sich hinter einem der Büsche etwas weiter vorne auf der abschüssigen Seite des Weges erleichtern. Liza hatte ihre Hose bereits geöffnet, als sie einige Meter hinter sich etwas Grosses, Langes, Dunkles am Boden liegen sah. Ein Tier!, blitzte es ganz kurz in ihren Gedanken auf. Nein. Sie wusste sofort, dass das nicht stimmte. Es war ein Mensch, der da lag. Vorsichtig trat sie näher. Es war eine grosse Frau. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht auf dem Boden, kurze graue Haare, ein kräftiger Nacken, die Beine seltsam verkrümmt, dunkle Jeans, dunkle Sportjacke, Wanderschuhe. Tautropfen auf dem ganzen Körper. In Sekundenbruchteilen nahm sie all diese Eindrücke wahr. Was jetzt? Wie in Trance blieb sie eine Weile stehen und griff dann langsam zum Mobiltelefon, um die Polizei zu verständigen.

      Michael Schönewald von der Kantonspolizei Wattwil nahm den Anruf im Auto entgegen: «Wo? Auf dem Klangweg oberhalb von Unterwasser? Bleiben Sie bitte da, wir kommen so rasch wie möglich.»

      Er war mit seiner Kollegin Marion Canzoni unterwegs auf Patrouille Richtung Obertoggenburg. «Bei diesem Wetter ist es direkt ein Glück für uns, dass da oben eine Leiche liegt. Das ist das erste Mal in diesem wunderbaren Altweibersommer, dass ich in die Höhe komme.»

      Marion pflichtete ihm bei: «Geht mir genau so. Eine weibliche Leiche sei es, hat die Frau am Telefon gesagt. Sie hat ziemlich schockiert getönt. Zum Glück muss sie nicht allzu lange warten.».

      Als sie bei der Glockenbühne eintrafen, war Erika Althaus, die Ärztin aus Wildhaus, bereits vor Ort. Sie führte ihre Hausarztpraxis seit zwanzig Jahren; die Polizisten hatten auch schon mit ihr zu tun gehabt. Man kannte sich im oberen Toggenburg.

      «Die Frau hat einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, mehr kann ich nicht dazu sagen. Ihr müsst den Amtsarzt und die Kriminaltechnik anfordern», begrüsste sie die beiden.

      Dr. Althaus war eine stille, unscheinbare Frau, gelegentlich etwas barsch, aber nicht unsympathisch. «Ich bin bereits in Unterwasser gewesen, als mich Frau Huber angerufen hat.» Sie warf einen mitfühlenden Blick auf Liza, die bleich und ratlos neben ihr stand. Trotz der warmen Sonne war es Liza kalt und sie trat von einem Bein aufs andere. Warum sie nach dem Anruf bei der Polizei auch die Ärztin benachrichtigt hatte, hätte sie nicht mehr sagen können. Vermutlich hatte sie gehofft, dass der Frau noch zu helfen sei.

      «Haben Sie uns angerufen?», wandte sich Canzoni an sie. «Ich bin Marion Canzoni, von der Kantonspolizei Wattwil und das ist mein Kollege Michael Schönewald. Danke, dass Sie gewartet haben.»

      Sie reichte ihr die Hand. Die junge Polizistin hatte blonde, lange Haare und ein offenes, freundliches Gesicht. Sie lächelte ihr mitfühlend zu. Während Liza ihre Personalien angeben und erzählen musste, wie sie die Leiche gefunden hatte, informierte ihr Kollege die Kriminalpolizei, die Kriminaltechnik und den Amtsarzt.

      Frau Althaus verabschiedete sich: «Ich kann hier nichts mehr ausrichten, und unten wartet noch viel Arbeit auf mich. Tschüss miteinander.» Sie reichte Liza die Hand, nickte den beiden Polizisten zu und machte sich auf den Rückweg.

      Liza hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, wie lange sie da gestanden und Fragen beantwortet hatte. Irgendwann hörte sie das Dröhnen des Helikopters, und bald ging es bei der Glockenbühne zu wie in einem Bienenhaus. Die unmittelbare Umgebung war abgesperrt worden; Fotokameras blitzten, die Leute von der Spurensicherung krochen auf dem Boden herum, der Amtsarzt und ein Leichenführer beugten sich über die tote Frau.

      «Sie sind Liza Huber? Walter Widmer, Ermittler der Kriminalpolizei St. Gallen.»

      Ein freundlicher Mann war auf sie zugetreten, reichte ihr die Hand und führte sie aus dem abgesperrten Gebiet. Liza musterte den Polizisten unauffällig. Sie schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig. Er war mittelgross, untersetzt und leicht rundlich, wirkte aber kräftig. Ein runder Kopf, nur noch wenige, angegraute kurze Haare, ausdrucksvolle graugrüne Augen, sanfter Blick, schloss sie ihre innere Begutachtung ab.

      Liza musste nochmals genau erzählen, wie sie die Leiche gefunden hatte, was ihr ein bisschen peinlich war. Dann wollte Widmer wissen, was sie so früh auf dem Klangweg zu suchen hatte, wo sie wohne, warum sie überhaupt im Toggenburg war. Als Beruf hatte sie «Primarlehrerin» angegeben; sie hatte einmal drei Jahre lang unterrichtet. Mit der Berufsangabe «Detektivin» ging sie zurückhaltend um, da sie bei den meisten Leuten falsche Vorstellungen weckte und die Polizei in der Regel voreingenommen reagierte.

      Schliesslich sagte Widmer: «Das genügt vorerst, danke. Könnten Sie vielleicht morgen in Wattwil auf die Polizeistation kommen, um das Protokoll zu unterschreiben? Brauchen Sie psychologische Unterstützung? Die Sache scheint Sie sehr mitgenommen zu haben.» Er musterte Liza leicht besorgt; ihre von Natur aus blasse, beinahe durchsichtige Haut war weiss, der Blick ihrer dunklen Augen starr. Sie war ungefähr in seinem Alter, beinahe so gross wie er, vollschlank, rotes, leicht angegrautes, aber immer noch schönes Haar, kurzgeschnitten. Sie war keine Schönheit, aber die Frau gefiel ihm.

      «Nein danke, es geht schon. Ich brauche jetzt nur einen Kaffee», antwortete Liza hastig.

      Widmer blickte sich um. Die Leiche lag bereits auf einer Bahre und wurde soeben in den Helikopter eingeladen. Die Kriminaltechniker konnten ihre Arbeit ohne ihn machen. «Ich begleite Frau Huber zur Bergstation Iltios», informierte er seine Kollegen und zu Liza meinte er aufmunternd: «Dann wollen wir mal.» Ohne sie zu fragen, nahm er ihren Arm und führte sie von ihrem grausigen Fund weg Richtung Iltios.

      Ueli war am Donnerstagabend auf dem Weg in die «Brauerei» in Nesslau, als sein Mobiltelefon klingelte. «Du, Ueli, die ‹Brauerei› ist heute geschlossen. Sie haben eine geschlossene Gesellschaft, eine Geburtstagsfeier, glaube ich. Wollen wir uns im ‹Grütli› treffen?»

      «Oje, schade! Ich habe mich schon auf das feine Bier gefreut. Ok, das ‹Grütli› tut’s zur Not auch. Bis gleich, bin schon unterwegs.»

      Es war Roman Gasser, einer der beiden Lehrer in Nesslau, mit denen er sich seit einigen Monaten einmal in der Woche auf ein Bier traf. Er hatte die zwei kennengelernt, als sie mit ihren Klassen bei einer Wanderung seine Weide überquert hatten. Dann waren sie sich einige Male zufällig