Название | Tod auf dem Klangweg |
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Автор произведения | Regula Stadler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302397 |
Eva Riefener war todmüde, als sie und Brian Daves gegen halb zehn Uhr abends endlich in Maries Wohnung in Zürich ankamen. Dass die Mutter nicht da war, um sie zu empfangen – immerhin hatten sie sich fast zwei Jahre nicht gesehen – verbesserte ihre Laune nicht. Sie hatte beinahe kein Geld mehr. Das Taxi vom HB nach Wiedikon hatte sie mit ihren letzten Euros bezahlt, Schweizer Franken musste sie erst noch wechseln; sie musste unbedingt von ihrer Mutter Geld leihen. Karin empfing die beiden gastfreundlich und warmherzig, doch Eva blieb kühl und unnahbar. Sie hatte von Anfang an beschlossen, die Geliebte ihrer Mutter nicht zu mögen. Sie wusste, dass diese von Maries Geld lebte, und obwohl sie sich selbst, im Gegensatz zu Brian, wenig aus Geld machte, fand sie, dass Maries Geld ihr zustand und nicht Karin. Da sie als freischaffende Grafikerin in New York von der Hand in den Mund lebte, konnte sie einen gelegentlichen finanziellen Zustupf gut brauchen, und Brian hatte sie wiederholt gedrängt, mit ihrer Mutter über einen Erbvorbezug oder eine regelmässige finanzielle Unterstützung zu sprechen. Eva ahnte, dass das schwierig werden könnte.
Karin tischte den beiden ein spätes Abendessen auf, wofür Eva ihr dankbar war. «Ich muss euch morgen unbedingt etwas mitteilen, bevor ihr ins Toggenburg zu Marie fahrt.» Karin hatte sich endlich durchgerungen. Sie musste mit Eva sprechen und ihr von Maries Absichten erzählen.
«Ja, jetzt wisst ihr es. Ich habe deiner Mutter klipp und klar gesagt, dass ich damit nicht einverstanden bin und ihr Geld nicht annehmen werde. Mit der eingetragenen Partnerschaft bin ich einverstanden, aber falls ich Marie einst beerben sollte, gehört das Geld dir. Ich bekomme eine kleine Rente – habe schliesslich jahrelang als Teilzeit-Lehrperson in der Schule unterrichtet – und viel zum Leben brauche ich nicht.» Karin hatte ausgesprochen, was ihr auf dem Herzen lag und lehnte sich im Stuhl zurück. Eine grosse Ruhe breitete sich in ihr aus, gleichzeitig spürte sie eine Anspannung, die sie sich nicht erklären konnte.
«Warum hast du denn Teilzeit gearbeitet? Du hast doch keine Kinder, soviel ich weiss?» Eva war jetzt doch neugierig geworden.
«Nein, ich habe schon immer gewusst, dass mich Frauen mehr interessieren als Männer. Deshalb konnte ich leider keine Familie gründen. Aber ich hatte eine Schwester mit Down-Syndrom, die bei mir lebte. Sie ist erst vor wenigen Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, sie wurde einundsechzig Jahre alt. Es war nicht immer einfach mit ihr.» Karin zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend.
Eva betrachtete sie mit widerwilligem Interesse. Eigentlich war ihr die zierliche, noch immer gutaussehende Frau mit den silbergrauen Locken nicht unsympathisch. Sie war auf wohltuende Weise anders als ihre Mutter. Gross, schwer, laut, rechthaberisch, dominant, so war ihre Mutter, seit sich Eva erinnern konnte. Was die beiden Frauen wohl aneinander anzog?
Brian hingegen hatte nur Ohren für Karins Verzichterklärung auf die Erbschaft. «Kannst du uns das schriftlich geben, dass du auf Maries Geld verzichtest?», wollte er wissen.
Eva warf ihm einen empörten Blick zu.
«Ich denke, das hat Zeit, bis ich bestimmt weiss, ob und wieviel ich von Marie erbe. Wenn ich sie denn überhaupt je beerbe, schliesslich sind wir beide ungefähr gleich alt.»
Da das Wetter immer noch traumhaft war, wollten Eva und Brian noch vor dem Mittag ins Toggenburg fahren. Karin hatte im Sinn, später nachzukommen, damit Mutter und Tochter Gelegenheit hätten, ungestört miteinander zu sprechen.
Der grösste Störfaktor ist allerdings mit von der Partie, dachte sie, und betrachtete den leicht aufbrausenden, miesepetrigen Brian unauffällig. Schade, dass er Schweizerdeutsch spricht und versteht. Dass Eva dieser Typ gefällt! Na ja, mit seinen dunklen langen Haaren und seiner ein bisschen zu grossen Nase sieht er nicht schlecht aus; zudem ist er Musiker und spielt Schlagzeug in einer Jazzband in New York. Geld verdient er praktisch keines, kein Wunder, dass sich Eva an ihre vermögende Mutter wendet. Nachdem Karin Eva Geld für das Nötigste geliehen hatte, machten sich die beiden auf den Weg zum Hauptbahnhof und fuhren via Rapperswil ins Toggenburg.
Am nächsten Morgen schlief Marie für ihre Verhältnisse ungewohnt lange. Erst gegen zehn stand sie auf, um sich einen Kaffee zu machen. Sie setzte sich gerade an den Frühstückstisch, als die Hausglocke läutete. Sie rang kurz mit sich und entschied dann, zur Tür zu gehen. Vielleicht war es Ueli. Doch draussen stand Beate Richle, eine Nachbarin. Die zirka vierzigjährige Beate war eine äusserst unberechenbare Person. Sie neigte zu unerwarteten Wutanfällen, die die Menschen, die gerade mit ihr zu tun hatten, erschreckten und irritierten. Handkehrum war sie freundlich und anständig und schien den Streit, den sie wegen einer Nichtigkeit am Tag zuvor vom Zaun gebrochen hatte, vergessen zu haben. Marie vermutete, dass sie psychisch krank war, anders konnte sie sich ihr Verhalten nicht erklären.
«Ich muss schon sagen, Marie. Gestern über Mittag hast du wieder laut gelacht in deinem Garten. Ich konnte meinen Mittagsschlaf nicht halten. Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich meinen Schlaf brauche. Du nimmst gar keine Rücksicht und schäkerst mit Ueli herum. Schäm dich, eine Frau in deinem Alter. Und ich meinte, du stehst auf …»
«Ich weiss nicht, was du willst, Beate! Und in diesem Ton musst du nicht mit mir sprechen!», gab Marie zurück und schloss die Tür vor ihrer Nase zu. Ihre gute Laune hatte sich in Luft aufgelöst, die von Beates ausgeatmetem Gift verseucht zu sein schien. Meistens fühlte sie sich unbeschwert und mit sich im Reinen hier oben, aber immer wieder gab es Nachbarn, die ihr das friedliche, sorgenfreie Leben nicht zu gönnen schienen. Zuerst war es Albin gewesen, dieser chronisch schlecht gelaunte, komische Kauz. Und seit einiger Zeit war es Beate, die sie mit ihrem übergriffigen Verhalten störte. Marie wusste, dass Beate sie nicht ausstehen konnte und krankhaft eifersüchtig auf sie war. Eine Weile trödelte sie unschlüssig und grollend im Haus herum, abwechslungsweise die Szene mit Beate und die gestrige Auseinandersetzung mit Karin im Hinterkopf. Schliesslich beschloss sie, nach Unterwasser und von dort mit der Standseilbahn auf den Iltios zu fahren.
Das Wetter war herrlich an diesem Septembertag. Als Marie um drei Uhr an der Talstation ankam, musste sie feststellen, dass sie nicht die einzige war, die um diese Zeit auf den Iltios wollte. Geduldig stellte sie sich in die Warteschlange vor dem Ticketschalter.
Oben angekommen, wanderte sie auf dem Klangweg Richtung Sellamatt. Dort setzte sie sich in der Beiz an die Sonne und bestellte ein Glas Weisswein. Aus einem Glas wurden mehrere, und eine Dreiviertelstunde später machte sie sich gemächlich, mit sich, der Welt, der Nachbarin und auch mit Karin versöhnt, auf den Rückweg. Müde vom Wein, setzte sie sich kurz auf eine Bank an die Sonne und döste im Nu ein. Als sie erwachte, war die Sonne weg; es war bereits fünf nach halb sechs Uhr. Marie erschrak, sie hatte fast zwanzig Minuten geschlafen.
Die letzte Bahn war um 17.30 Uhr gefahren. Nun musste sie wohl oder übel zu Fuss nach Unterwasser hinunter! Kein Mensch war mehr unterwegs. Zügig, aber immer noch leicht beschwipst, wanderte sie Richtung Iltiosbahn. Wie schon auf dem Hinweg konnte sie der Glockenbühne, dem Posten 6 des Klangwegs, nicht widerstehen. Sie musste die vielen an Ketten hängenden Glocken einfach in Bewegung setzen. Das Geläute beruhigte sie und nahm ihr das ein wenig unangenehme Gefühl, das sie verspürte, seitdem ihr klar geworden war, dass ihr eine für ihre Verhältnisse längere und anstrengende Wanderung bevorstand. Sie gab einer im hinteren Teil des Glockenfeldes hängenden Glocke einen kräftigen Schubs. Als sie sich umdrehen wollte, nahm sie einen grossen Schatten wahr, der sich auf sie zu bewegte. Sie hatte keine Zeit mehr, Angst zu empfinden: Ein harter Schlag, und alles war schwarz.
Er war einen Moment erschrocken und verwirrt darüber, was geschehen war. Vor allem überraschte es ihn, wie einfach es gewesen war, die Frau zu töten. Er hatte kräftig mit der grössten Glocke ausgeholt und sie gegen Maries Schläfe prallen lassen. Und sie war tatsächlich tot. Ihre offenen dunkelbraunen Augen blickten ihn erstaunt an, weder Angst noch Schmerz verzerrten ihre Gesichtszüge.
Rasch blickte er sich um. Kein Mensch war zu sehen. Er packte die grosse, schwere Frau unter den Armen und schleppte sie über den Weg Richtung Abhang. Hinter einem grösseren Gebüsch am leicht abschüssigen Hang liess er sie liegen und ging rasch weiter. Er war so euphorisch und aufgedreht, dass er ausnahmsweise keinerlei Schmerzen verspürte. Noch bevor