Pine Ridge statt Pina Colada. Katja Etzkorn

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Название Pine Ridge statt Pina Colada
Автор произведения Katja Etzkorn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948878122



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zu schälen, beeilte Sannah sich Jeans und Pulli anzuziehen. Als sie auch ihre Schuhe anhatte, trat sie wütend gegen den Schrank.

      „Hey“, sagte Jonas tröstend. „Nimm es nicht so schwer. Bei diesem massiven Trauma war nichts mehr zu machen, das weißt du so gut wie ich. Wir sind eben nur Halbgötter“, beendete er sarkastisch seinen Satz.

      „Ich denke über eine Umschulung nach. Kennst du einen Job, der Spaß macht?“, fragte sie desillusioniert.

      „Klar!“ Wieder blitzte dieses jungenhafte Grinsen über sein Gesicht. „Weihnachtsmann. Einen Tag arbeiten, dreihundert vierundsechzig Tage frei und der Chef weit weg.“ Sannah rang sich zu einem halbherzigen Lächeln durch.

      „Also nichts für mich. Ich bin eine Frau.“

      Jonas machte ein erstauntes Gesicht. „Ehrlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

      Sie warf ihm mit gespielter Entrüstung ihr Handtuch an den Kopf und musste nun doch schmunzeln. Das Leben ging weiter. Sie mochte seinen Humor und seine lockere Art. Gerade in solchen Augenblicken wie diesem. Trotzdem ignorierte sie seinen Hundeblick. Kollegen waren für Sannah tabu, und das wusste auch er. Der kurze Augenblick verging, und sie informierte den wartenden Beamten über den Tod des jungen Mannes. Bisher hatte man noch keine Angehörigen ausfindig machen können, und so blieb die traurige Pflicht an ihm, den Angehörigen die Nachricht zu überbringen. Sannah war erleichtert darüber.

      Auf dem Weg zum Auto genoss sie die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings auf der Haut und verfluchte gleichzeitig ihren Dienstplan. Es versprach ein schöner Tag zu werden, und sie konnte ihn nicht nutzen. Nach ihrem Nachtdienst war sie völlig ausgelaugt und brauchte Schlaf. Während der Fahrt nach Hause grübelte Sannah über ihr Leben nach. Der Dauerfrust der letzten beiden Jahre machte ihr zu schaffen. Sie liebte ihren Beruf, aber an Tagen wie diesem wurde ihr manchmal alles zu viel. Schon als Kind war sie ehrgeizig gewesen und hatte sich selbst hohe Ziele gesteckt. Unterstützt von ihren Eltern und Lehrern hatte sie zwei Klassen übersprungen und fand sich als „Baby“ auf dem Gymnasium wieder. Trotzdem war die Schule die Hölle für Sannah gewesen. Bedingt durch den Altersunterschied fand sie keine Freunde in ihrer Klasse. Niemand wollte mit dem jüngeren, aber altklugen Mädchen etwas zu tun haben. Die Hänseleien waren verletzend gewesen, und so zog sie den Stoff nur um so verbissener durch. Abitur mit siebzehn und Bestnoten. Das Studium und die Facharztausbildung absolvierte sie in Minimalzeit. Nun war sie neunundzwanzig und steckte in einer Sackgasse. Sie hatte alles erreicht. Oder fehlten ihr einfach nur neue Herausforderungen? Aber welche?

      „Du brauchst dringend einen Mann!“, dozierte Annegret, ihre Freundin aus Studienzeiten, immer, wenn die beiden Zeit fanden sich auf ein Glas Wein zu treffen. „Oder wenigstens hin und wieder mal Sex!“

      Sannah verdrehte im Geiste die Augen, wenn dieser Spruch kam. Sollte sie etwa den erstbesten Kerl an der Krawatte ins Schlafzimmer zerren? Ihr limbisches System, zuständig für das Mixen von aphrodisierenden Hormoncocktails und die damit verbundene geistige Umnachtung in puncto Männer, lag schockgefrostet als Eismumie in ihrem Oberstübchen. Eine Tür weiter, im präfrontalen Kortex, hatte Fräulein Rottenmeier das Zepter an sich gerissen und regierte mit eiserner Selbstdisziplin, Askese und verkniffenen Mundwinkeln. Eine baldige Änderung dieses Zustandes war nicht in Sicht. Sannah verbrachte den Großteil des Tages in der Klinik. Abends hatte sie dann keine Lust mehr, sich in Schale zu schmeißen und auszugehen. Und alleine schon mal gar nicht. Sie kam sich dann immer vor wie bestellt und nicht abgeholt. Männer und alles, was mit ihnen zusammenhing, waren nicht die Lösung, sondern das Problem. Ein Kollege kam auch nicht in Frage. Ihre letzte Beziehung mit einem Kollegen endete in einer hässlichen Scheidung. Das Trennungsjahr eingerechnet hatte ihre Ehe gerade mal drei Jahre gedauert.

      ‚So viel zum Bund fürs Leben‘, dachte sie bitter. Wieder Sackgasse, oder war das alles nur Jammern auf hohem Niveau? Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, um auf andere Gedanken zu kommen. Sannah parkte vor ihrer kleinen Jugendstilvilla in einem der teuren Randbezirke Hamburgs mit Blick auf die Elbe. Nach den heutigen Immobilienpreisen war das Haus ein Vermögen wert, aber für Sannah noch viel kostbarer. Es war ihr Elternhaus. Hier war sie aufgewachsen und bis zum Unfalltod ihrer Eltern immer glücklich gewesen. Hierher war sie nach dem Scheitern ihrer Ehe geflüchtet und hatte sich eingeigelt. Sie besaß alles, was man sich nur wünschen konnte, aber dafür hatte sie einen hohen Preis zahlen müssen.

      Sie stieg aus dem Auto und lief die kleine Treppe hoch, fischte die Post aus dem Briefkasten und schloss die Tür auf. Im Flur legte sie ihre Jacke auf einen Stuhl und nahm die Post mit in die Küche. Sie setzte Wasser für einen Tee auf und sah flüchtig die Briefe durch. Eine Karte von Annegret war dabei aus irgendeinem Allinclusive-Club samt Spa am Mittelmeer mit dem etwas protzig klingenden Namen Villa Palma. Sannah grinste. Ihre Freundin ließ es mal wieder krachen! Nächste Woche würde sie sich von Annes Urlaubseroberungen berichten lassen. Ein Brief von dem Förderverein, für den sie monatlich spendete, fiel ihr ins Auge. Es ging um ein Horsemanship-Projekt für Kinder und Jugendliche in der Pine Ridge Reservation in South Dakota. Alkohol und Drogenmissbrauch waren dort ein großes Problem. Durch den Umgang mit Pferden versuchte man, die Kinder von Drogen fernzuhalten und sie gleichzeitig ihrer alten Kultur wieder näherzubringen. Sannah wusste aus eigener Erfahrung, wie positiv sich Pferde auf die Entwicklung von Kindern auswirkten. Wenn man etwas von diesen schönen Tieren lernen konnte, dann Respekt, Verantwortung und Geduld. Geduld und noch mal Geduld. Mal abgesehen davon, dass man dann sowieso keine Zeit mehr hatte, auf dumme Ideen zu kommen. Der Verein suchte jemanden, der drei Monate Zeit erübrigen konnte, um die Arbeit dort zu dokumentieren. Man wollte den Spendern gern zeigen, wofür die Spenden verwendet wurden, und sie an den Fortschritten der Kinder teilhaben lassen. Eine Unterbringung auf der Ranch sei kein Problem, die Kosten dafür musste man allerdings selber tragen.

      Sannah war fasziniert von dieser Idee. Sie liebte Pferde, es wäre eine Art von Urlaub, in dem sie sich nicht wie bestellt und nicht abgeholt fühlen würde. Sie hätte eine sinnvolle Aufgabe, und es wäre der Tapetenwechsel, den sie so dringend brauchte. Aber drei Monate waren eine verdammt lange Zeit. Sie schlürfte ihren Tee und öffnete einen Brief von der Personalabteilung. Man machte sie darauf aufmerksam, dass ihr Resturlaub aus dem Vorjahr bald verfallen würde. Sannah war wie elektrisiert. Mit dem Resturlaub, den angehäuften Überstunden und einem Teil ihres diesjährigen Urlaubsanspruches könnte sie drei Monate zusammenbekommen. Blieb nur die Frage, ob man ihr das auch bewilligen würde. Entschlossen griff sie zum Telefon und rief die Personalabteilung an. Angespannt lauschte sie dem Klingelton und wartete darauf, dass sich jemand am anderen Ende an den Hörer bequemte.

      „Personalabteilung, Jansen“, ertönte es mit einem unfreundlichen Unterton.

      „Susannah Hammeken, guten Tag, Herr Jansen. Ich habe gerade Ihr Schreiben bezüglich meines Resturlaubs erhalten.“

      „Dr. Hammeken“, antwortete Jansen nun bedeutend freundlicher – bei den Ärzten wurde immer geschleimt. „Worum geht es denn?“

      Sannah zögerte einen Moment. „Das kommt jetzt etwas aus heiterem Himmel“, begann sie. „Ich würde gerne meinen Resturlaub, die Überstunden und einen Teil meines diesjährigen Urlaubs zusammenlegen und am Stück nehmen.“ Die Stille am anderen Ende der Leitung ließ nichts Gutes erahnen. Offenbar sammelte „Feldwebel“ Jansen gerade seine Truppen in Form von Vorschriften und Dienstanweisungen. Sannahs Kampfbereitschaft stieg. „Von wie viel Urlaub sprechen wir denn da?“, kam es schließlich misstrauisch von Jansen zurück. Sannah verdrehte die Augen. Sie hasste Jansens überhebliche Art, in der ersten Person Plural zu sprechen. Sie fragte ihre Patienten schließlich auch nicht: Wie geht es uns denn? Haben wir heute schon Stuhlgang gehabt?

      „Drei Monate“, antwortete sie höflich, aber bestimmt. Sie wollte nicht kampflos vor Feldwebel Jansen die Waffen strecken. Der Stuhlgang der ersten Person Plural folgte prompt.

      „Drei Monate?“, tönte Jansen nun deutlich lauter durch den Hörer, damit auch alle in der Abteilung mitbekamen, wie dekadent diese Halbgötter waren. „Na, wenn wir uns das denn leisten können.“ Jansen lief zur Höchstform auf. „ Aber ich kann Ihnen sagen, Frau Dr. Hammeken“, er machte eine Pause, um sicherzugehen, dass auch alle den Namen verstanden hatten. „Ein derart langer