Friedens- und Konfliktforschung. Ines-Jacqueline Werkner

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Название Friedens- und Konfliktforschung
Автор произведения Ines-Jacqueline Werkner
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846354438



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qualitative Operationalisierungen anzunähern. Im Fokus quantitativer Definitionen steht die Anzahl der Kriegsopfer. Sie bezeichnen einen sozialen Tatbestand als Krieg, wenn die Zahl der (direkten oder indirekten) Todesopfer einer gewaltsamen Auseinandersetzung einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Hier dominiert der Ansatz von David Singer und Melvin Small, der in das Projekt Correlates of War der Universität Michigan eingegangen ist. Sie bezeichnen jeden bewaffneten Konflikt mit mindestens 1.000 getöteten Kombattanten (battle deaths) pro Jahr als Krieg. Quantitative Definitionen sind nicht unumstritten; auch differieren sie stark. Das beinhaltet zum einen den Schwellenwert selbst, ist dieser immer auch zu einem gewissen Grade willkürlich. Auch gibt es Konfliktdatenbanken wie die der Universität Uppsala in Schweden, die nicht nur getötete Kombattanten, sondern auch zivile Todesopfer (battle-related deaths) mit in ihre Analysen einbeziehen. Wieder andere mahnen an, gleichfalls die Größe der betroffenen Populationen mit zu berücksichtigen. Insbesondere würden quantitative Zugänge – so die Hauptkritik – keine Aussagen über zentrale Charakteristika des Krieges zulassen (vgl. Boemcken und Krieger 2006, S.12f.).

      Qualitative Definitionen stützen sich stärker auf die Beschaffenheit des Konfliktaustrags. In dieser Tradition sieht sich beispielsweise das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), auch wenn es an die eben beschriebenen quantitativen Ansätze anknüpfen kann. Das HIIK beschränkt sich in seiner Analyse nicht nur auf Kriege, sondern nimmt alle Konflikte in den Blick, die die „staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen“ (HIIK 2020b). Im Fokus steht die Konfliktintensität. In die Operationalisierung einbezogen werden Mittel (Waffen- und Personaleinsatz) sowie Folgen des Gewalteinsatzes (Todesopfer, Flüchtlinge und Ausmaß der Zerstörung). Dabei werden fünf Intensitätsstufen von Konflikten unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg (vgl. Schaubild 9). Ein politischer Konflikt wird als Krieg eingestuft, wenn physische Gewalt „in massivem Ausmaß angewandt wird“ und die eingesetzten Mittel und Folgen „in ihrem Zusammenspiel als umfassend bezeichnet werden“ (HIIK 2020b).

      Schaubild 9:

      Stufen der Konfliktintensität nach dem HIIK (2020b)

      Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) orientiert sich an der oben erwähnten völkerrechtlichen Definition. In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) gilt ein gewaltsam ausgetragener Konflikt als Krieg, wenn er alle der folgenden Merkmale aufweist:

       (a) „an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;

       (b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegsführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkriege usw.);

       (c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, das heißt beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern“ (AKUF 2020).

      Zudem differenziert die AKUF zwischen Kriegen und bewaffneten Konflikten. Letzteres bezeichnet militärische Auseinandersetzungen, die die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllen, beispielsweise wenn die Kontinuität der Kampfhandlungen (noch) nicht gegeben ist.

      Auch qualitative Ansätze unterliegen der Kritik. Zum einen bleiben diese in der Regel einer staatszentrierten Perspektive verhaftet (vgl. beispielsweise Punkt a der AKUF-Definition), die der zunehmenden Entgrenzung des Krieges nicht gerecht werden. Zum anderen werden Kriege und bewaffnete Konflikte als klar abgrenzbare Tatbestände begriffen. In der empirischen Wirklichkeit sind die Grenzen – zwischen Kriegs- und Friedenszuständen, zwischen militärischer und ziviler Sphäre sowie zwischen innen und außen – dagegen fließend. So lassen sich auch Entwicklungen und Phänomene wie die sogenannten neuen Kriege nur begrenzt in die klassischen Kategorien einordnen. Bis heute besteht eine offene Debatte darüber, wo der transnationale Terrorismus zu verorten sei: als Krieg oder krimineller Akt, verbunden mit differenten Strategien der Konfliktbearbeitung (ausführlicher dazu Kapitel 5.4).

      Was macht nun aber das Wesen des Krieges aus? Hier lassen sich drei zentrale Merkmale ausmachen (vgl. Jahn 2012, S.33): Erstens stellen Kriege – in Anlehnung an Carl von Clausewitz – eine Form der Politik dar. Damit bleiben andere gewaltsame Formen individueller oder gesellschaftlicher Konflikte wie Privatfehden oder kriminelle Bandenkriege außen vor (auch unabhängig von der Zahl der Opfer). Zweitens erfordern Kriege mindestens zwei kriegsbereite Akteure oder provokant formuliert: Krieg beginnt mit der Verteidigung. Und drittens unterscheiden sich die normativen Prämissen der Gewaltanwendung: Das Töten im Krieg ist – selbst heutzutage bei Einhaltung des humanitären Völkerrechts – rechtlich und häufig auch ethisch erlaubt. Dabei verlangen auch Demokratien ihren Soldaten und Soldatinnen im Krieg ab, entgegen gesellschaftlich etablierter Normen und Werte zu handeln, indem sie töten und zugleich die Bereitschaft eingehen, getötet zu werden.

      4.5 Kriegsursachen

      Warum kommt es zu Kriegen? Diese Frage ist für die Friedens- und Konfliktforschung essenziell. Die Kriegsursachenforschung hat sich zu einem etablierten Bereich des Fachs entwickelt. Dabei ist es selbstredend, dass Kriegsursachen hochkomplex und nur multikausal zu erklären sind (vgl. Matthies 2004, S.412).

      Kenneth Waltz (2001) verweist auf drei Ebenen von Kriegsursachen (vgl. Schaubild 10). Danach sind es auf individueller Ebene Aggressionen, das Menschenbild oder Machtkalküle von Eliten, die Entscheidungen zum Krieg befördern können. Auf staatlicher Ebene werden bestimmte Herrschaftsstrukturen wie nicht-demokratische, ungerechte oder schwache Staaten für einen gewaltsamen Konfliktaustrag verantwortlich gemacht. Auf internationaler Ebene wiederum seien es die Anarchie des internationalen Systems, das sich daraus ergebene Sicherheitsdilemma sowie eine (Un-)Balance of Power, welche die Anwendung militärischer Gewalt begünstigen.

      Schaubild 10:

      Typologie von Kriegsursachen nach Kenneth Waltz (2001)

      Waltz’ Perspektive ist eine spezifisch (neo)realistische und als solche bietet sie einen unmittelbaren konflikttheoretischen Zugang, geht sie „vom konkurrierenden Machtstreben politischer Einheiten und vom Konflikt als der Grundbedingung der Weltpolitik“ (Hubel 2005, S.19) aus.

      Zusätzlich dazu lassen sich in der Kriegsursachenforschung zwei zentrale Ansätze voneinander unterscheiden: systemische und strategische Ansätze (vgl. Rapoport 1966; ebenso Ruloff 2004, S.14). Strategische beziehungsweise entscheidungstheoretische Ansätze haben ihre Wurzeln bei Carl von Clausewitz und seiner Bestimmung des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie gehen davon aus, dass Kriege die Folge von Kalkülen von Akteuren seien. In dieser Perspektive lassen sich drei Theorien ausmachen: (a) Rational Choice-Ansätze, nach denen sich „die Rationalität des Entscheidens, zu den Waffen zu greifen, in einigen Fällen rein logisch nachvollziehen [lasse]“ (Ruloff 2004, S.15), (b) spieltheoretische Ansätze, die auf Dilemma-Situationen abzielen, sowie (c) organisationssoziologische und -psychologische Ansätze.

      Systemische Ansätze dagegen negieren die zentrale Rolle der Handelnden; sie verweisen auf vorrangig strukturelle Ursachen. Diese Perspektive findet sich prominent bei Lew Tolstoj, heißt es in seinem Epos „Krieg und Frieden“:

      „Obgleich Napoleon im Jahre 1812 mehr als je der Ansicht war, daß es von ihm abhänge, ob er das Blut seiner Völker vergießen wolle oder nicht […], so war er doch nie in höherem Maß als damals jenen unübertretbaren Gesetzen unterworfen, die, während er nach freiem Willen zu handeln meinte, ihn zwangen, für die Allgemeinheit, für die Geschichte