Handbuch E-Learning. Patricia Arnold

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Название Handbuch E-Learning
Автор произведения Patricia Arnold
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349656



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      Transportperspektive des Lehrens ...

      Bereits vor zwei Jahrzehnten haben Brown/Duguid (1996) zwei gegensätzliche Entwicklungsrichtungen skizziert: Internettechnologien können in Lernprozessen entweder unter einer Transportperspektive oder einer Gemeinschaftsperspektive eingesetzt werden. Bei knappen Ressourcen können virtuelle Lernangebote als willkommene Möglichkeit zur Rationalisierung des Lehrbetriebs durch die Aufhebung der Subjektivität der pädagogischen Handlungen und ihrer Objektivierung in digitalen Medien aufgegriffen werden. Dabei wird eine Transportperspektive eingenommen, bei der Lernende Wissensempfänger und Lehrende Wissenslieferanten darstellen. Das Internet fungiert dabei als eine geeignete Technologie, um die Durchflussgeschwindigkeit und Verbreitung von Wissen zu erhöhen, unabhängig von den zur Verfügung stehenden Lehrkapazitäten und nachfragenden Lernenden. Dabei kann auf die individuellen Belange der Lernenden, z. B. auf ihre Nachfragen, wie dies im traditionellen expositorischen Lehren möglich war, nicht mehr eingegangen werden. Initiative und Kreativität der Lernenden werden ganz verhindert. Training ist so möglich, erfolgreiche Bildungsprozesse für den Erwerb ganzheitlicher Handlungskompetenzen nicht.

      ... oder Gemeinschaftsperspektive des Lernens?

      Soll gelingendes Lernen im Sinne eines Zuwachses an Handlungskompetenzen und gesellschaftlicher Teilhabe durch die Internetnutzung gefördert werden, muss da­gegen eine Gemeinschaftsperspektive die Virtualisierung der Lehr- und Lernkultur bestimmen: Virtuelle Lehr- und Lernformen müssen so gestaltet werden, dass den Lernenden ein Zugang und eine wachsende Teilhabe an Wissen schaffenden Gemeinschaften ermöglicht wird. Konkret knüpft diese Forderung an das zuvor skizzierte Prinzip an, im Lernen den Diskurs zwischen Lehrenden und Lernenden über den Lerngegenstand in den Mittelpunkt zu stellen. Lernenden sollte auch der direkte Kontakt zu Fachexperten und somit ein Hineinwachsen in die Praxis ermöglicht werden. Die durch die Nutzung von Web 2.0 herausgebildete anarchische Form der Kommunikation vieler Lernender im Internet ist dazu in einen planmäßigen Kommunikations- und Kooperationsprozess zur Produktion von Ergebnissen für die Lerngemeinschaften zu verwandeln. Die Qualität des Technologieeinsatzes in Bildungseinrichtungen zur Unterstützung des Lehrens und Lernens ist also daran zu messen, ob und inwieweit er einen solchen Diskurs sowie die Entstehung entsprechender produktorientierter sozialer Gemeinschaften fördert: Lerngemeinschaften, die in Verbindung zu Lehrenden und anderen Fachexperten stehen und in einem diskursiven Prozess ihre Lernaufgaben definieren, ausarbeiten sowie die Praxis und das Ergebnis ihrer Bearbeitung der Aufgaben gemeinsam bewerten und reflektieren und daraus Konsequenzen für das weitere Vorgehen ziehen. Dafür ist es sinnvoll, in der jeweiligen Bildungseinrichtung eine Bildungscloud (Kap. 3.5.1) einzurichten (Meinel 2017, 21).

      Lernende als Konsumenten …

      Fischer (2002) skizziert unter einem leicht anderen Blickwinkel zwei ähnliche Entwicklungsoptionen der Veränderung der Lehr- und Lernkultur durch virtuelle Studienangebote: Mit dem plakativen Bild „Beyond ‚Couch Potatoes‘: From Consumers to Designers and Active Contributors“ zeigt er auf, dass der Interneteinsatz an Hochschulen einerseits eine Konsumentenhaltung fördern kann, indem eine Vielfalt an Informationen und unterschiedlichen Studienangeboten relativ leicht zugänglich ist. Diese Angebote und Informationen können unaufwendig konsumiert werden, sind aber ohne aktiven Erschließungsaufwand, eigene Informationsbewertung und aktive Aneignung des Studiengegenstands für Bildungsprozesse relativ wertlos.

      ... oder als Designer und aktive Mitarbeiter?

      Andererseits kann der Interneteinsatz aber auch dazu beitragen, dass Studierende zu aktiven Designern von Lehr- und Lernprozessen werden. Mithilfe der Internet­technologie können Lernende eigene Anfragen, Diskussionsbeiträge sowie Arbeits- und Rechercheergebnisse leicht anderen Lernenden und auch Externen zugänglich machen und ihre Beiträge im Rahmen des Studiums zur Diskussion stellen. Darüber hinaus können vollständig selbst organisierte virtuelle Lernkontexte geschaffen werden, die zwar von den Beteiligten nicht notwendig als Lernkontexte bezeichnet werden, in denen aber durchaus erfolgreiches Lernen stattfinden kann. Solche internetbasierten Lerngemeinschaften sind z. B. PerlMonks, ein Zusammenschluss von Perl-Programmierern (Wiley/Edwards 2002), oder die FESA-Community (anonymisierter Name des Fernstudienanbieters in der Fallstudie), ein selbst organisierter Zusammenschluss von Fernstudierenden (Arnold 2003b).

      Expansives Lernen ...

      Expansives Lernen setzt in Anlehnung an Holzkamp (1993, 187 ff.) bei der Erfahrung eines Kompetenzdefizits an, das Lernende als bedeutsam erleben und durch expansive Lernschritte überwinden wollen. Ihr Lernen erfolgt mit der Intention, einen bedeutsamen Kompetenzzuwachs zur Erweiterung ihrer allgemeinen wie auch ihrer spezifischen Handlungsfähigkeiten zu erreichen. Durch die Individualisierung des Lernens, eine größere Auswahl an Lernressourcen, vielfältige Kontakte sowie die Entstehung sozialer Gemeinschaften kann nicht nur die Reflexion der Bedeutung der Lerngegenstände, sondern auch die Produktion eigener Ergebnisse angeregt werden. Lernende können durch eine größere kooperative Differenzierung ihre Lerntätigkeiten leichter an ihren subjektiven Begründungen ihres Lernens orientieren und damit ihre Kompetenzentwicklung expansiv zu verallgemeinerten Handlungskompetenzen erweitern.

      ... oder defensives Lernen?

      Defensives Lernen entsteht, wenn Lernende keine für sie bedeutsamen Lerngründe finden und ausschließlich aus Angst vor Sanktionen die Expositionen und Anforderungen der Lehrenden mit möglichst geringem Einsatz aufzunehmen und zu erfüllen suchen. Der Verlust des subjektiven pädagogischen Diskurses durch die mediale Objektivierung der expositorischen Lehrhandlungen und erwarteten Lernhandlungen der verallgemeinert vorgestellten Lernenden in digitalen Medien bringt die Gefahr einer weiteren Vertiefung defensiv begründeten und eng begrenzten Lernens mit sich. Die Kompetenzentwicklung der Lernenden findet dadurch quasi in fremdbestimmten Kompetenzkanälen statt und wird durch die in den Medien inhaltlich und methodisch errichteten Kanalwände formiert.

      Vision der Veränderung der Lehr- und Lernkultur

      Die Entwicklung der neuen, virtuellen Lehr- und Lernkultur – verstanden als sich gesellschaftlich-historisch herausbildende „Muster institutionalisierter Anordnungen pädagogischer Handlungen“ (Zimmer 2001, 121) – erfordert somit

       die Orientierung der Bildungsangebote an einer Gemeinschaftsperspektive,

       die Aktivierung der Lernenden als produktiv Mitarbeitende im Bildungsprozess,

       die Professionalisierung der Lehrenden zu Koordinatoren kooperativer und selbstständiger Bildungsprozesse,

       die Förderung des Erwerbs verallgemeinerter Handlungskompetenzen sowie

       die Beseitigung von institutionellen Behinderungen und Offenheit für die Entwicklung, Erprobung und Implementierung neuer pädagogischer Konzepte für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien.

      2.5.2 Potenziale virtueller Bildungsangebote

      (1) Orts- und Zeitflexibilität im Lernen und Lehren ...

      Durch virtuelle Lehr- und Lernformen wird die bisherige „prinzipielle Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit des Lehrens und Lernens“ aufgehoben (Zimmer 2000b, 103). Lehrende und Lernende gewinnen in zeitlicher und örtlicher Hinsicht bei der Gestaltung ihrer Lehr- und Lernhandlungen neue Freiheitsgrade. Allerdings muss die Orts- und Zeitflexibilität bzw. Orts- und Zeitdistanz durch eine Objektivierung der Lehrhandlungen und erwarteten Lernhandlungen sowie durch eine Intensivierung der technisch vermittelten Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden überbrückt werden. Ein berufsbegleitendes Fernlernen wird dadurch leichter möglich. Lehrende können wesentlich eher als zuvor auch andere Fachexperten in ihre Lehre, z. B. als virtuelle Gastexperten, einbeziehen. Und die Lernenden können auch unabhängig von den Lehrenden kommunizieren, beispielsweise durch Videokonferenzen (Gaiser 2002).