Название | In aller Stille |
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Автор произведения | Wolfgang Breuer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783961360147 |
Mist! Wohin jetzt? Nach rechts ging es nicht weiter. Da endete die Buschgruppe. Und man hätte ihn von der Straße aus sehen können. Also nach links. Nach ein paar Metern wehte ihm der verräterische Duft der Imbissbude um die Nase. Pommes und Bratwurst. Augenblicklich bekam Plosicz Hunger. Aber er konnte sich beherrschen. Für eine Portion Pommes rot/weiß war die Bedrohung viel zu groß. Lieber hungrig davonkommen, als beim Essen von diesem durchgedrehten Typen erwischt zu werden. Kurz darauf hatte er den Lidl-Parkplatz erreicht.
Vor und neben dem „Wittgensteiner Hof“ hatten die von der SpuSi das ganz große Besteck aufgefahren. Mindestens fünf Leute in weißen Raumfahreranzügen und mit blauen Plastiküberschuhen wuselten dort herum. Die Parkstraße war nach wie vor voll gesperrt. Der Verkehr wurde über den Berlebach, an den Kliniken vorbei, umgeleitet. Noch immer standen Neugierige an den Absperrungen herum und erzählten sich die wildesten Räuberpistolen. Nur Clemens Finger, der freie Journalist, hatte mittlerweile eine klarere Sicht der Dinge. Auf allen Vieren kriechend, um den Polizeiblicken zu entgehen, hatte er sich hinter der Schlossmauer in Position gebracht und direkt in die Gasse blicken können, an deren Ende der Leichnam gefunden worden war. Jede Einzelheit hatte er mit seinem ofenrohrgroßen Tele eingefangen. Die Bilder waren längst per Mail zu einer Fotoagentur gegangen.
Und weil er aus seiner unbequemen, aber strategisch optimalen Position heraus so ganz nebenbei manches Gespräch der Ermittler belauschen konnte, manchmal auch nur Gesprächsfetzen, baute er sich aus dem Erlebten und Gesehenen seine ganz eigene Geschichte zusammen. Für die Boulevardpresse. Nicht umsonst hatte er in der Branche von den seriösen Kollegen den Spitznamen „Schlimmer Finger“ bekommen.
Eigentlich war es purer Zufall, dass Finger diesen Aufreger in Bad Berleburg mitbekam. Denn sein Augenmerk hatte er ursprünglich auf das Flüchtlingserstaufnahmelager in der ehemaligen Rothaarklinik gelegt. Mal sehen, wie sich dort die Wachmannschaften aufführen. Nach den wirklich furchtbaren Zuständen in Burbach und anderswo, nicht nur für einen Boulevard-Reporter ein Thema, an dem man eigentlich nicht vorbeikommt.
Doch irgendwie kam er hier nicht zu Potte. Die Lage schien unaufgeregt zu sein, dort oben. Und die Flüchtlinge, die er unterwegs traf, meist Menschen aus Syrien, wussten nichts besonders Negatives zu berichten. Außer, dass sie durch ihre Unterkunft sehr weit entfernt von der Stadt waren. Tatsächlich war das schon eine elendige Latscherei von dem Klinikkomplex am „Spielacker“ runter in die Innenstadt. Und zurück erst recht. Da waren einige Höhenmeter zu überwinden.
Die hatte übrigens auch Clemens Finger aus Dortmund-Hombruch in den Knochen. Denn wer Geschichten von Menschen erfahren will, die zu Fuß unterwegs sind, sollte tunlichst auf das Nebenherfahren mit dem Auto verzichten. Schweren Herzens hatte er sich also selbst per pedes auf den wirklich beschwerlichen Weg gemacht, um seine Story „rund“ zu bekommen, wie die Journalisten sagen. Allein, es war ihm trotz heftiger Bemühungen und einigem Rauf auf den Berg und Runter in die Stadt nicht gelungen, auch nur einen der meist Englisch sprechenden Flüchtlinge dazu zu bekommen, so richtig abzulästern. Das, was er von den Leuten am häufigsten als Antwort bekam, war „thank you Germany“. Frustrierend für einen, der ausgezogen war, einer Schweinerei auf die Spur zu kommen.
Bis er auf einem seiner Wege über das Rainchen hinauf zur Oberstadt plötzlich auf die Polizeiabsperrung Ecke Parkstraße traf. Fünf Minuten Recherche, den Gaffern zuhören und beobachten, reichten dem routinierten Schlagzeilenhai völlig aus. Schlagartig switchte er im Kopf um, vergaß augenblicklich die emotionsgeladene Geschichte von misshandelten Menschen im Flüchtlingslager. Hier lauerte die wahre Geschichte. Ein grausames Verbrechen in der Provinz. Eine Story, die es in sich hatte – und Geld brachte. Das hatte er im Urin.
Nachdem der Tote abtransportiert worden war, hatte der fiese Gestank in der Oberstadt stark nachgelassen. Verschwunden aber war er noch nicht. Kein Wunder. Denn der Leichensaft, oder wie immer man die Flüssigkeit bezeichnen wollte, die da aus dem Plastiksack ausgetreten war, hatte das Erdreich getränkt. Und das müsste dringend abgetragen und entsorgt werden. Allerdings waren da die Herren im Ganzkörperkondom strikt dagegen. „Zunächst müssen die Spuren dort akribisch gesichert werden“, hatte Gert Steiner, Chef der Spurensicherung, bereits den Nachbarn mitgeteilt. Und damit deren Illusion zerstört, bald wieder befreit einatmen zu können. „Sorry, das dauert noch. Wir haben ja bis jetzt nicht einmal eine Ahnung, wie der Mann überhaupt dort unten hingekommen ist. Vom Warum ganz zu schweigen. Aber das müssen die Kollegen von der Kripo klären.“
Und die hatten richtig was zu tun. Erst die Leiche am Rainchen. Und jetzt auch noch der versuchte Mord in der Limburgstraße. Das war mehr, als man in dem eher verbrechensarmen Wittgenstein seit Jahrzehnten erlebt hatte. Vorsichtshalber hatte Hauptkommissar Klaiser in Absprache mit Dienststellenleiter Bernd Dickel schon mal die Kollegen in Siegen um Mithilfe gebeten. Denn die Aufgaben, die jetzt auf sie zukommen würden, überschritten ihre personellen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Selbst wenn sie sich die Fälle teilten, was im Übrigen bereits geschehen war.
Während er an dieser ausgesprochen seltsamen Sache mit dem Toten am „Wittgensteiner Hof“ bleiben wollte, übernahm Kriminalkommissarin Corinna Lauber den versuchten Mord am Truck. Und jeder von ihnen hatte lediglich einen Kollegen als Unterstützung an der Hand. Corinna konnte auf die dauerhafte Hilfe von Polizeiobermeister Pattrick Born zählen. Und Klaiser hatte eigentlich auf Jürgen Winter gebaut, der ihm schon in der jüngeren Vergangenheit immer wieder mal mit hervorragender Arbeit zur Seite gestanden hatte. Doch der war nach seinem Sturz auf dem Lastzug zur Untersuchung und Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Wie lange er ausfallen würde, dazu war keine Prognose zu bekommen.
Also holte er sich Obermeister Sven Lukas als Teamkollegen. Der war zwar ein unglaublicher Computerfreak und daher eher für IT-Ermittlungen in Wirtschaftskriminalfällen geeignet, aber Klaiser wusste, dass dieser Mann sich in komplizierte Fälle richtiggehend reinbeißen konnte. Recherchieren bis der Arzt kommt. Genau das, was jetzt gefragt war.
Längst hatten sie alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen der Schutzpolizei auf den Schlossberg geschickt, um Befragungen bei den Anwohnern zu machen. Hatte jemand etwas Verdächtiges gesehen, gehört? Und, wenn ja, was und wann? Wem waren Fahrzeuge und/oder Leute aufgefallen, die zwischen „Wittgensteiner Hof“ und Café etwas abgeladen hatten, oder zumindest abgeladen haben könnten; eventuell eine Leiche.
Wadim Plosicz schnappte noch immer heftig nach Luft. Die Flucht bis zu dieser Mauer am Hilgenacker hatte erstaunlich viel Kraft gekostet. Überraschend viel für den Mann, der sich eigentlich sportlich fit wähnte. ‚Wahrscheinlich machen dich die K.-o.-Tropfen so fertig’, dachte er, während er nach wie vor den spielenden Kindern gegenüber zuschaute.
Plötzlich war am Himmel ein Hubschrauber zu hören. Erst nur vage. Dann schien er zügig immer näher zu kommen. Und dort, von wo aus er geflohen war, startete ein Fahrzeug mit Martinshorn. Neugierig versuchte der Flüchtende zu verstehen, was da abging. Aber er traute sich nicht einmal, um die Hausecke hinter seinem Rücken zu schauen.
Der Hubschrauberpilot schien auf einem Platz ganz in der Nähe landen zu wollen. Vadim kannte das verräterische Knattern der Rotorblätter, wenn sie vom Piloten verstellt werden, um Höhe zu verlieren. Immer näher kam er und wurde immer lauter. Und dann war der Eurocopter zu seinem großen Erschrecken auf einmal direkt über ihm und zog eine Schleife. Deutlich konnte er von unten „ADAC Luftrettung“ an der knallgelben Maschine lesen. Dann war sie schon wieder weg. Hinter den Hausdächern verschwunden.
Die Kinder von gegenüber, die die Erscheinung am Himmel genau so hatte zusammenfahren lassen wie Plosicz, rannten jetzt quer über die Straße in Richtung des Landeplatzes. Deutlich hörte man, wie der Heli jetzt