Spiritualität als Lebenskunst. Georg Pernter

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Название Spiritualität als Lebenskunst
Автор произведения Georg Pernter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783897975323



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      Die schwierige Ausgangsfrage: Wie heute von Spiritualität reden und schreiben? Nach der Emanzipation der Wissenschaft von kirchlichen Obrigkeiten, die im Westen lange Zeit das Primat über Welt- und Sinndeutung hatten und den Wissenschaftsdiskurs mitbestimmten, steht fest: »Für Sentimentalitäten und rückwärtsgewandtes Religionsgefasel scheint kein Platz zu sein, außer in fundamentalistischen Enklaven. Inwiefern kann dann überhaupt noch von Spiritualität im wissenschaftlichen Kontext vernünftig informiert und aufgeklärt die Rede sein?« (Walach 2006, 93f). Hier müsse – so Walach weiter – eine notwendige Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität getroffen werden. Viele Autoren sehen das ähnlich und differenzieren Spiritualität als einen umfassenderen, offenen Begriff, der nicht unmittelbar mit Religion deckungsgleich ist (Bucher 2007; Utsch 2005; Hundt 2007; van Quekelberghe 2007).

      Die gängige Masche »Spiritualität ja – Religion nein« greift zu kurz. Spiritualität und Religiosität schließen sich nicht prinzipiell aus. Sie überlappen sich, wenn man letztere spezifischer fasst als »Beziehung des Menschen, die er zu jener Wirklichkeit eingeht, die für ihn göttlich oder heilig ist« (Bucher 2007, 54). Und um diese Wirklichkeit bemühen sich seit Jahrhunderten Religionen. Ihre Aufgabe war und ist es, den Geschmack nach dem Unendlichen (Schleiermacher) aufzuzeigen, herzustellen, wachzuhalten.

      Die andere Seite der Medaille ist, was deren Vertreter daraus machten und machen. Fairerweise ist dies festzuhalten. Die Einstellung »institutionalisierte Religion nein, weil einengend – Spiritualität ja, weil befreiend, erfahrungsorientiert« greift zu kurz. Dies belegen auch etliche empirische Studien. Eine differenzierte Sichtweise ist hier vonnöten. Bucher bringt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung Erich Fromms ein, die diesbezüglich einen Schritt weiter in die richtige Richtung geht. Er unterscheidet zwischen »biophil« und »nekrophil«. Das Kriterium lautet demnach nicht lediglich »Spiritualität ja – Religion nein«. Es gilt zu differenzieren, ob Religiosität lebensförderlich ist oder lediglich Menschen einengt, kleinmacht. Diese Messlatte lässt sich genauso gut auf das Phänomen der Spiritualität anwenden. Denn eine bloß äußerlich praktizierte Spiritualität ist genauso wenig intrinsisch und authentisch, wie eine nur in sozialen Konventionen eingebettete und vollzogene Religiosität.

      Den eigenen Stil und Standpunkt finden. Wenn Spiritualität also nichts mehr mit einer Konfession oder Religion im engeren bzw. tradierten Sinne zu tun hat, dann kann es nicht um Indoktrination oder ein Festschreiben dessen, was »richtige« Spiritualität ist, gehen. Vielleicht ist ein bescheidenes Aufzeigen von großen Linien oder genauer, von Erfahrungsräumen angezeigt, innerhalb derer jeder seinen eigenen Weg und jede ihren Standpunkt reflektieren kann.

      Spiritualität heißt dann meines Erachtens, den eigenen »Stil« ausmachen. Oder: Einen Ausdruck finden für das je Eigene. Oder: Zu leben. Seinen Platz zu finden im Kreislauf des Lebens. Oder: Die Erfahrung, Teil eines Ganzen zu sein. Den Platz einzunehmen im ewigen Werden und Vergehen, so wie es im erfolgreichen Walt-Disney-Film »Der König der Löwen« umgesetzt wird. Rafiki, der weise Affe, verhilft darin dem Löwenjungen Simba sinngemäß zu folgender Erfahrung: »Erinnere dich, wer du bist!« Erinnern verstanden als »Eingedenk-Werden«: Den Stil finden (nicht im ästhetischen Sinn), die eigene Lebens-Figur, Gestalt herausbilden auf dem Hintergrund des Lebens, die dann subjektiv – und auch von anderen – sehr wohl als schön und ästhetisch empfunden werden kann.

      Eine solche Einstellung hat nichts mit einem Laissez-faire-Denken zu tun, auch nicht mit einem biederen Anpassen an den Lifestyle. Den eigenen Weg oder den authentischen Stil zu finden ist mitunter kein Honigschlecken. Es ist nicht etwas, das sich während eines Wochenendseminars in einer Sitzung herauskristallisiert und dann für immer und ewig zum Besitz wird.

      Spiritualität bedeutet für mich ebenso wenig, keine Zweifel mehr zu haben. Vielleicht vermag sie modernen Menschen zu vermitteln, dass es eine Art Intuition gibt, dass sie eingebettet sind, dass es Sinn macht, hier zu sein in dieser Welt. Dieses »Wissen« kann dann Ausdruck werden für eine persönliche Überzeugung, für ein »Sich-im-Einklang-Befinden« mit dem, was man ist, denkt und für wertvoll hält.

      Einige bedenkenswerte Tatsachen. Im Alltagsleben sind immer noch Tendenzen anzutreffen, die zum Nachdenken herausfordern, weil sie einem ganzheitlichen Verständnis entgegenstehen. Nicht auszurotten ist die Unterteilung in die Kategorien »spirituell« und »weltlich«. Auch die rigorose zeitliche Einteilung in das westlich-christlich tradierte Schema von Wochentagen und besonderen spirituellen Zeiten (meist sonntags zwischen 9 und 11 Uhr) geht in diese Richtung. Oder es werden qualitativquantitative Bewertungsmaßstäbe angesetzt, indem behauptet wird: »Der ist mehr spirituell als …« oder »Die ist schon weiter …« (impliziert im Grund ein Ziel, einen Zustand …).

      Neuplatonisches Gedankengut scheint sich besonders in spirituellen Anschauungen widerzuspiegeln. Der Geist (Seele) wird als eingekerkert und damit getrennt vom wahren Sein bezeichnet oder von der reinen, wahren, strahlenden Essenz. In einem solchen Sinne kann Spiritualität immer nur ein Aufstieg aus der Höhle Platons in das Reich der Ideen sein. In etwas Höheres, Reineres. Ein Reinigungsprozess (Katharsis) und ein Sich-Erinnern an das Ur-Eine, an die Einheit.

      Persönliche Lebensart. »Wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich gehe, gehe ich usw.« lautet ein bekannter Meditationsspruch. Wenn wir Spiritualität in diesem Sinn verstehen, dann wird sie zu einer Lebenshaltung, zu einer individuellen, persönlichen Lebenskunst, aus der kein »niedrigerer Teil«, in welcher Weise auch immer, ausgeschlossen wird.

      Ein leidenschaftliches Plädoyer für Ganzheitlichkeit. Bei der Frage nach dem persönlichen Lebensstil taucht die Frage auf, wie jeder von uns konsequent lebt. Fromm oder spirituell sein wird in bestimmten Kreisen oft noch mit Antiquiertheit assoziiert, riecht vordergründig immer noch nach Mottenkugeln.

      Ein Grund mag sein, dass Spiritualität im Westen eine Domäne der Volks- und Massenkirchen war und bis heute daran gekoppelt erlebt wird. Salopp formuliert heißt das berechtigte Vorurteil gegenüber den tradierten Kirchen: Alles, was man nicht darf, was Lust, Freude, Leichtigkeit heißt, was Spaß macht, ist nicht spirituell. Somit kann Spiritualität auch nicht in Mode sein, höchstens bei einigen wenigen Frommen.

      Wenn es aber um eine Grundhaltung dem Leben gegenüber geht, um innere Freiheit und Frieden mit mir und mit den Menschen, mit denen ich in meiner Lebenswelt lebe, wenn ich mich getragen weiß von einem größeren Ganzen, einer Transzendenz im weiteren Sinne, dann gilt es, gerade leibliche, lust- und lebensfreundliche Aspekte im Sinne der Ganzheitlichkeit einzubeziehen.

      Spiritualität heißt Abstand nehmen, Entscheidungen finden und leben. Es geht um Aufmerksamkeit im Alltag, um das, was persönlich wichtig ist, wie jedes Individuum mit allen Sinnen den eigenen Lebensweg gestalten kann. Spiritualität ist Lebenspraxis, die zum notwendigen Abstand im Trubel des Alltags hinführen soll. Diese Auszeit fordert, ehrlich angegangen, heraus. Sie tut gut, wenn wir dadurch notwendige Distanz erhalten und den Mut erlangen, längst fällige Entscheidungen anzugehen und wenn wir eine andere Perspektive erhalten, aus der wir mit einem »Mehr« an Freiheit wieder in unseren Alltag gehen können.

      Ist das Gras denn nicht überall grün? Die Flucht in den Osten. »Auf der anderen Seite ist das Gras grüner« – so lautet ein englisches Sprichwort. Es scheint, auf den Trend »Spiritualität« angewandt, auf Westeuropa zuzutreffen. Ohne theologische Wehmut: Viele pflegen den fernöstlichen Dialog bzw. spirituelle Wege des Ostens, ohne westliche Wege zu kennen. Der Osten scheint eine Faszination auszuüben. Der Meditationslehrer Willigis Jäger (1991) weist darauf hin, dass der westliche Weg ein Weg von Einzelnen war, am Rande der Klöster, teils im