Spiritualität als Lebenskunst. Georg Pernter

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Название Spiritualität als Lebenskunst
Автор произведения Georg Pernter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783897975323



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menschenwürdig sowie lebensfreundlich »Unendlichkeit« offen zu halten und darauf hinzuweisen.

      Fragment 28: Dies gilt auch im therapeutischen Bereich, ist da allerdings differenzierter zu sehen. Die provokante Forderung bzw. das Postulat steht im Raum, für jeden Klienten eine eigene Therapie zu »erfinden«.8 Dies bedeutet, auf die Therapie bezogen, sich überraschen zu lassen, immer wieder ganz neu und mit frischem, wachem Blick dem Klienten9 zu begegnen, und nicht standardmäßig bestimmte Methoden und Techniken anzuwenden.

      Fragment 29: »Der Erleuchtung ist es egal, wo und wie du sie erlangst«10, Hauptsache du lebst und fragst dich (immer wieder und ab und an), du suchst und gehst deinen Weg und versuchst aus dem, was du bist, aus dem, wie du bist – mit deinen individuellen Begabungen, Anlagen und Problemen – das Beste zu machen.

      Fragment 30: An die Reinkarnation zu glauben ist nicht unbedingt notwendig. Es reicht dieses eine Leben und dafür steht im Prinzip genügend Zeit zur Verfügung. Denn: Was ist schon Zeit? Dieses »Zeitfenster« gilt es zu nutzen, mit dem, was zur Verfügung steht. Hoffentlich reicht es, Spuren zu hinterlassen, die »gut« sind. Der Wunsch? Die Menschen, denen man nahe steht, nicht zu sehr verletzen und mit ihnen »gut« zu leben und ins relativ kleine Lebens-Umfeld, wenn das geht, »auszustrahlen«. Die große Welt zu reformieren, zu missionieren oder gar zu therapieren ist nicht mein Anspruch. Das hat nichts mit einem biedermeierischen oder resignativen Rückzug ins Private zu tun und schließt – wo es notwendig ist und wird – »Mund-Aufmachen« und gesellschaftskritische Anliegen selbstverständlich mit ein und nicht aus.11

      Fragment 31: Das Wort »Glauben« zeigt in seinen verschiedenen Wurzeln interessante Bedeutungsvarianten auf, die auf Fragen hinweisen, die ebenso im Therapieraum gestellt werden, geht es dort doch auch immer wieder um ein Finden von Antworten auf folgende und ähnliche Fragen »Wohin zieht dich dein Herz?« »Woran hängt eigentlich dein Herz?« »Was gibt dir Boden und Halt?«

      Fragment 32: Glauben ist – normalerweise12 – kein heimliches Getue, sondern ein (freudig, begeistertes, überzeugtes, melancholisches, trauriges, verzweifeltes …) Reden, Erzählen, Feiern und Leben dessen, was mich erfüllt, ausmacht, was mir gut tut, was mich beschäftigt. Spiritualität zeigt sich im Alltag, im gewöhnlichen Leben, am Arbeitsplatz, in der Freizeit. Spiritualität hat zu tun mit: den eigenen Weg finden, klären, was wichtig ist, wofür ich einstehen will bzw. wofür es sich zu leben lohnt. Bei diesen Fragen hilft auch die Therapie weiter, weil diese Fragen u.a. Kern-Kompetenzen der Therapie sind.

      Fragment 33: Spiritualität hat Auswirkungen auf die konkrete, alltägliche Lebensgestaltung. Sie ist weltzugewandt und hat mit einer Rückbindung an den Alltag und einer Belebung bzw. Befruchtung des Lebens zu tun. Ansonsten verbleibt Spiritualität in einem Wolkenkuckucksheim, verkommt und degradiert. Therapie dient ebenso wenig allein dem Renommee des Therapeuten, sondern hat den Klienten im Blick und letztlich: Gutes Leben eben.

      Fragment 34: Spiritualität hat mit Integration zu tun. Therapie, insbesondere Gestalttherapie, hat ebenso mit Integration zu tun: »There is no end to integration« (F. Perls).

      Die Gleichung »Gestalttherapie = Spiritualität« scheint perfekt zu sein bzw. realistischer, das Naheverhältnis begründet genug zu sein.

       2. Der erweiterte Horizont

      »Ich glaube, wir sollten eher ein neues Weltbild entwickeln,

      in welchem das Bewusstsein als fundamentale Komponente der Realität gilt,

      als das Bewusstsein innerhalb der Begriffe der materiellen Welt

      zu erklären versuchen.«

       (Peter Russel 2002, 33)

      »Die psychologischen Wissenschaften stehen an der Schwelle

      einer spirituellen Revolution.«

       (Robert Emmons 1999, zit. n. Bucher 2007, 5)

      »Wir sind dazu gemacht, in die Zukunft zu sehen,

       damit wir rechtzeitig die Richtung unserer Schritte ändern können.«

       (Daniel C. Dennet, zit. n. Horx 2005b, 340)

      Keine Frage, der Horizont ist erweitert, wenn wir uns umsehen. Vielfältige Ansätze, unterschiedliche Tendenzen und Milieus sind erkennbar, viele Stimmen hörbar.

      Einige Schlaglichter, die nun als Einleitung folgen, sollen dies verdeutlichen. Kurz und bündig. Wie im Zeitraffer, in einem von der Regie schnell geschnittenen Film, der von der Leserin und dem Leser einiges abverlangt: Szene – Cut – nächste Einblende – Schnitt – weitere Klappe – Wechsel – Zoom: Film ab!

      Es erwartet Sie hier kein einführender Dokumentarfilm über Spiritualität, Gesellschaft, Psychoszene. Eher eine Melange nach Art der Familiensendung »Wetten, dass?«, ein bunt gemischtes Potpourri aus philosophischem Kabinett oder einer Lese-Sendung à la Heidenreich, mit Beiträgen aus diversen Wissensbereichen und unterschiedlichen Kommentatoren …

      Spiritualität ist »in«. Abseits der traditionellen Wege der Großreligionen, welche der wieder aufgetauchten Sehnsucht nach Transzendenz (meist) mit keinem adäquaten Angebot zu antworten vermögen, begeben sich viele Menschen »auf die Suche nach etwas – irgendeinem fehlenden Wert, irgendeinem abwesenden Ziel, irgendeinem neuen Sinn, irgendeiner Präsenz des Heiligen« (Keen 1996, 17).

      Der Markt boomt: Visionssuchen, Schwitzhütten, Feuerlauf, schamanische Reisen, Pilgerreisen nach Compostela, Zen-Meditation, Essenzarbeit, Hexen- und Vollmondrituale, (katholische) Benedetto-Events … Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

      Inflationäre Verwendung. Das Wort »Spiritualität« bzw. »spirituell« ist schon länger in aller Munde. Wer etwas auf sich hält, benützt dieses Wort. Auch Therapeuten. Konturlos. Undifferenziert. Nichtssagend, inflationär verwendet und dadurch entwertet, weil alles und nichts meinend, ist »Spiritualität« zu einem Begriff geworden, der Gefahr läuft, zur Stopfgans zu werden (Honecker 2000a, 14).

      Mit dem Wort »Spiritualität« verhält es sich meines Erachtens wie mit der Verwendung des Wortes »Gott«, worüber Martin Buber einmal gesprochen hat (vgl. Ratzinger 2005, 183). Es sei so missbraucht worden, dass man es fast nicht mehr in den Mund nehmen könne. Dennoch, um das Phänomen »Spiritualität« zu benennen, finde ich, müssen wir versuchen, es neu sehen zu lernen. Wir müssen es von bestimmten einseitigen Einengungen befreien, abstauben, wo alter Muff sich breit gemacht hat. Im Sinne von: »Nichts ist besser als eine gute Theorie« – wie es der Gestaltpsychologe Kurt Lewin formuliert hat.

      Spiritualität im Zeichen eines neuen Paradigmas. Das alte Galileische Wissenschaftsparadigma, der Fortschrittsglaube mit seiner Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten, das »Alles ist machbar« ist an Grenzen gestoßen. Sam Keen (1996, 24), Theologe und Psychologe, ortet eine – bereits seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts andauernde – spirituelle Krise. Sie erinnert an Zeiten, als der homo sapiens sapiens allmählich vom Jäger zum Bauern mutierte oder – viel später dann – an den Beginn der industriellen Ära. Den tiefgreifenden Wandel apostrophiert der Autor dadurch, dass alte Mythen schal geworden, Werte, Visionen und Weltanschauungen, aber auch gesellschaftliches sowie wirtschaftliches Leben in Wandlung begriffen sind. In solchen Schwellenzeiten wird stets die Tendenz sichtbar, in regressiver Weise an Althergebrachtem (verzweifelt, sektiererisch) festzuklammern, während andere versuchen, neue Wege zu beschreiten. Keen folgert daraus: »Ihres und mein Schicksal ist es, unser Leben inmitten des Krieges des Großen Paradigmas zu fristen, dem weltweiten Konflikt zwischen drei mythischen Systemen – dem technologischökonomischen Mythos des Fortschritts, der autoritären Religion und der im Entstehen begriffenen spirituellen Weltsicht.« (Ebd.)

      Die Zeiten eines allgemeingültigen Königsweges zur Transzendenz, in denen ein Herrscher bestimmte, was zu glauben war, gehören hinsichtlich der Vielschichtigkeit und Komplexität der postmodernen Kultur endgültig