Spiritualität als Lebenskunst. Georg Pernter

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Название Spiritualität als Lebenskunst
Автор произведения Georg Pernter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783897975323



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Säkularisierung – nicht ausgestorben. Die Parole vom Tode Gottes (Nietzsche) ließ sich nicht auf die soziologische Großmacht Religion umlegen. Manche Autoren sprechen – an der Wende zum dritten Jahrtausend – sogar von einem »Megatrend Religion« (Polak 2002). Sie ist präsent, sei es in Form fundamentalistischer Ausprägung oder in aufblühenden, unterschiedlichen spirituellen Bewegungen mit einer zum Teil kreativen Mixtur von trendigen News und traditionellen, uralten Elementen (Nägeli 2005, 27; Horx 1995b).

      Im säkularistischen Paradigma hatte Religion keinen Platz mehr (Zulehner et al. 2001, 13) und wurde tabuisiert. Im postmodernen Paradigma kommt es nun zu einem vielgestaltigen Comeback von Spiritualität, zu einer Individualisierung bei gleichzeitiger Pluralisierung von Religion und Spiritualität durch Atheisten, Humanisten, Religionskomponisten, traditionell Religiösen …

      Spiritualität – ein Thema mit Zukunft. Der augenscheinliche Wandel im Bereich des Religiösen und der Spiritualität erfordert eine Standortbestimmung. Unvoreingenommen. Mit Interesse am »Fremden«. Dialog eben und Kontakt. Die Beschäftigung mit dem Thema atmet Zukunft und ist von einer gewissen Dringlichkeit für die Menschheit, »die allzu lange die Sinnfrage als belanglos ausgeklammert hat« (Nägeli 2005, 27). Die Globalisierung hat auch die Spiritualität erfasst. Mittlerweile haben wir es mit einer »spirituellen Globalisierungsbewegung« (Leutwyler 2005, 23) zu tun. Neu ist die Vielzahl an Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen spirituellen Erfahrungsangeboten.

      »Nur der Nüchterne ahnt das Heilige, alles andere ist Geflunker, glaub mir, nicht wert, daß wir uns aufhalten darin.« Dieses Zitat von Max Frisch (zit. n. Zahrnt 1989, 11) ist aktueller denn je.

      Angesichts des religiösen Rückenwindes reaktionärer, fundamentalistischer Gruppierungen – nicht erst seit dem Angriff auf die Twin Towers – erscheint es notwendiger denn je, dem gesellschaftlichen Phänomen Spiritualität mit Vernunft zu begegnen und andererseits dem offensichtlichen aufkeimenden Grundbedürfnis des Menschen nach Sinn und persönlicher Spiritualität mit aufrichtiger Offenheit und Sensibilität nachzugehen. Hier sind Psychologie und Therapie gefordert. Es gilt – angesichts des sich auftuenden Sinnvakuums – die Aufsplitterung der einzelnen Wissens- und Lebensbereiche interdisziplinär zu vernetzen (Rutishauser 2005, 186; Utsch 2005, 202).

      Von medizinischer Seite wird neuerdings sogar gefordert, zementierte Positionen, die noch zu sehr auf die mittelalterliche Trennung zwischen Wissen und Glauben zurückgehen, aufzulösen. Es sei höchste Zeit, dass Spiritualität im Kontext von Universitäten und Wissenschaft angegangen werde, meinte unlängst der Mediziner Heusser (2006b, 22). Und er spitzt diese Forderung sogar noch zu: »In der Zukunft wird es darauf ankommen, dass die Gewinnung spiritueller Erfahrungen und Erkenntnisse selbst zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Dass also eine empirische Wissenschaft des Realgeistigen sich entwickele.«

      Sehnsucht nach Ganzheit? In letzter Zeit ist ein starker Zuwachs an Veröffentlichungen zu verzeichnen, die sich mit Fragen von Spiritualität, mit der menschlichen Sehnsucht nach Ganzheit befassen. Spiritualität wird wohltuend enttabuisiert und nicht mehr infantilisiert (Bucher 2007). Verschiedene Wissenschaftszweige wie Medizin, Psychologie, Soziologie, Theologie, Wirtschaft usw. nähern sich der Komplexität des Themenbereiches auf differenzierte Weise (Leutwyler & Nägeli 2005; Utsch 2005; Heusser 2006a; Hundt 2007). Für die Zukunft ist eine noch intensivere Zusammenarbeit wünschenswert, in einem interdisziplinären Dialog diverser Fachdisziplinen ohne Scheuklappenmentalität und Diskreditierung. Dazu ist eine grundsätzliche Offenheit und Unvoreingenommenheit sinnvoll. Das Phänomen Spiritualität erfordert meines Erachtens einen solchen mehrperspektivischen Ansatz. Denn, wie C.G. Jung (1973, 98) trocken festgestellt hat: »Wie auch immer religiöse Erfahrungen gewertet werden, ihr Auftreten ist ein Bewusstheitsphänomen und damit eine ›psychologische Tatsache‹« (zit. n. Utsch 2005, 235).

      Spiritualität – ein heilsamer Gegentrend. Unserer Fast-Food-Gesellschaft mit ihrer Schnelllebigkeit sowie jeglichem Glaubenswahn einer Instant-Erleuchtung bzw. »Instant-Spiritualität« (Keen 1996, 28) und Eventisierung bzw. Nutzenorientierung möchte ich bereits in dieser Einführung eine klare Absage erteilen. Entwicklung geschieht zwar manchmal auch in Sprüngen, in der Regel ist sie jedoch ein langwieriger Prozess, der Zeit braucht, weil alles Werden und Wachsen ohne (Inkubations-)Zeit nicht realistisch ist (Mack 1999, 150). Zuweilen braucht es ein Leben lang, bis wir begriffen haben und Gewissheit erlangen. Ein Blick hinaus in die Natur würde genügen, um diese Hauruck-Mentalität zu entkräften.

      Diese Einsicht – darauf hat Walach (2006, 91) schon hingewiesen – trifft auch auf das in der Vergangenheit angespannte Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität zu. Auch ein wissenschaftliches Paradigma ändert sich nicht von heute auf morgen.

      Ein Wissenschaftsprozess ist immer ein

      »sozialer Prozess, bei dem einzelne Wissenschaftler in Kommunikation mit ihren Kollegen, im Austausch mit der belebten und unbelebten Natur, im Ringen um Ressourcen für Forschung und um Raum für Publikation Tatsachen gestalten, neue Ordnungssysteme vorschlagen, neue Begriffssysteme erfinden«.

      Das Entdecken von »Tatsachen« hängt immer auch davon ab, ob der gewählte Ansatz im Mainstream der Wissenschaftsakademie gebilligt wird und ob die Forschungsergebnisse so kommuniziert werden, dass der neue Ansatz in das herrschende System stringent und überzeugend eingebunden werden kann (ebd. 91f). Ein berühmtes Beispiel aus der europäischen Tradition ist Galileo Galilei, der die kopernikanische Wende (und damit eine »Kränkung« der Menschheit) einläutete und erst im vorigen Jahrhundert offiziell rehabilitiert wurde.

      Die Zeiten der Inquisition sind vorbei. Trotzdem: Spiritualität ist ein »heikles« Thema, sowohl auf der persönlichen Ebene wie auch im wissenschaftlichen Diskurs. Indem sie an überkommenen (weltanschaulichen) Überzeugungen »kratzt«, indem sie wissenschaftliche Weltbilder in Frage stellt. Auch therapeutische Schulen und Therapeuten dürfen sich fragen, ob das eigene Weltbild vielleicht blind macht, eingeschränkt oder hinreichend ist …

      Wo bleibt das neue Paradigma? Die Quantenphysik rüttelt schon länger an unserem kausal-analytischen Weltbild. Als Stichworte seien genannt: die Heisenbergsche Unschärferelation, die Quantenmechanik, der Welle-Teilchen-Dualismus, Quarks …

      Klar ist: Obwohl es einen historischen Paradigmenwechsel in der Physik gegeben hat, ist dieser in anderen Wissenschaftsbereichen noch nicht »in das allgemeine Bewusstsein gedrungen« (Hartmann-Kottek 2004, 97). Max Plank (zit. n. Russell 2002, 23) beweist diesbezüglich eine stoische Ruhe: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit trumpft nicht auf, indem ihre Gegner überzeugt und erleuchtet werden, sondern dadurch, dass diese Gegner allmählich sterben.« Physiker selbst äußerten sich in der Vergangenheit bezüglich Spiritualität in seltener Offenheit (z.B. Heisenberg, Einstein). Russell, ein Physiker und experimenteller Psychologe, plädiert zu Recht für eine kritische Hinterfragung unseres Metaparadigmas, das unhinterfragt unser Leben bestimmt. Darauf aufbauend setzt er sich dann für einen konsequenten Paradigmenwechsel bzw. für eine Paradigmenkonvergenz ein, in der »Bewusstsein« ein entscheidender Faktor ist. Ausgehend von Kants Unterscheidung, dass wir nur das Phänomen (das Produkt des Geistes) wahrnehmen können, nicht aber das Noumenon, die Welt, der die Wahrnehmung entspringt, möchte er Brücken schlagen zwischen Wissenschaft und Spiritualität. Er verweist auf spirituelle Lehrer, denen es möglich war, andere Bewusstseinsmodi zu erlangen sowie zu erfahren, dass sich alles aus dem Bewusstsein heraus manifestiert.

      Unabhängig, ob man dieser Argumentationslinie folgt oder nicht, zuzustimmen ist ihm – mit vielen anderen Autoren und Autorinnen – in dem Punkt, dass wir ein Weltbild brauchen, das den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand berücksichtigt und der Spiritualität – am Puls der Zeit – Raum gibt in einer angemessenen Sprache, in einem Bewusstsein, das auf der Höhe der Zeit ist.

      Vielleicht wird Spiritualität erst dann zu einem »Mega-Trend«, zu einer Investition in unser Humankapital.