Spiritualität als Lebenskunst. Georg Pernter

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Название Spiritualität als Lebenskunst
Автор произведения Georg Pernter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783897975323



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auf dieser Welt gelingt und Feuer nicht nur im Bauch, sondern auch im Kopf und in den Füßen entfacht wird.1 Ist das Leben – überspitzt formuliert – nicht zu kurz, um in jahrelanger mühevoller Arbeit auf dem Sitzkissen auszuharren und auf persönliche Erleuchtung zu warten?

      Spiritualität ist Vielfalt. Ich bekenne vorab: Ich habe einiges an spirituellen Ausdrucksmöglichkeiten ausprobiert. Dabei habe ich viel gelernt: Die Fröhlichkeit und den Witz in »tiefgehenden«, auch ernsten religiösen Ritualen bei Indianern, das strenge Ausharren im Sitzen und die lauschende (nicht immer friedliche) Stille in der Kontemplation, die achtsame Awareness und Fokussiertheit auf den Augenblick im Zen, die Bewegung und Ausgerichtetheit bei den Sufis, die Wiederentdeckung der Natur, ihre erfrischende Belebung und Inspiration durch Franziskus, eine berührende Sinnlichkeit in einem umsichtigen Tantra, die Zentrierung und das körperlich-heilsame Eintreten in ein räumlich-leibhaftiges Mantra im Sacred Dance …

      Es geht mir hier um ein Plädoyer für eine Ausprägung vielgestaltiger Formen von persönlicher Spiritualität. Eine solche hat das realistische Wachstum des Menschen im Sinne und lässt Persönlichkeitsentwicklung zu. In der Achtung vor der Vielgestaltigkeit menschlicher Lebenswege geht es um das Finden, Erkennen, Umsetzen von verschiedenen Ausdrucksformen: je nach Charakter, Lebensphase, Befindlichkeit, Anforderungen, Bedürfnissen.

      Spiritualität, Therapie, Lebenskunst. Ein ungewöhnliches Trio? Das Projekt, Spiritualität und Therapie zusammenzubringen, steht vor dem prinzipiellen Problem, von Experten verschiedenster Fach-Disziplinen argwöhnisch oder skeptisch betrachtet zu werden. In meinem Falle werden das Psychologen sein oder Theologen oder selbsternannte »Spiri«-Gurus (vgl. Bucher 2007, 6).

      Ich schlage hier einen gut begründbaren Weg ein. Beide, Therapie wie Spiritualität, haben meines Erachtens nämlich ein gemeinsames Ziel und Grundanliegen, unabhängig von den erreichten Bewusstseinsstufen und der Tiefe des Erlebten. Denn schließlich – auch dies ist ein Grundtenor seriöser spiritueller Ansätze – geht es um das Sein in dieser Welt. Spiritualität muss sich im Alltag, beim Einzelnen, in seinem Lebens-Zeit-Fenster bewähren. Dort hat sie ihren – wenn ich es theologisch ausdrücke – »Sitz im Leben«. In Therapie und Spiritualität geht es letztlich um Lebenskunst. Dies ist ein alter, nun wieder populär gewordener Begriff. Die Kunst, gut zu leben, hat u.a. Wilhelm Schmid, der Berliner Philosoph und philosophische Seelsorger (!), in seinen Büchern einem breiten Publikum ausführlich und kenntnisreich dargestellt (Schmid 1998 und 2007). Hier möchte ich anknüpfen.

      Es geht mir um eine persönliche, um individuelle Spiritualität, die vom Begriff her nicht notwendigerweise oder a priori traditionelle Religion oder ein personales, konfessionell verankertes Gottesverständnis voraussetzt, wohl aber den Gedanken, die Annahme einer letzten, tragenden Macht, etwa im Sinne des »Numinosen« bei Otto Rudolf (1927) oder des »Ultimaten« bei Oser und Gmünder (1984) zulässt. Ich denke, dass sich mein Ansatz ebenso mit einer »Spiritualität ohne Gott« im Sinne des französischen Philosophen André Comte-Sponville (2008) gut verträgt. Spiritualität ist eine Lebenshaltung, die mit transzendenter Wirklichkeit rechnet bzw. auch darauf ausgerichtet ist oder auch nicht.

      Das Buch beginnt mit ganz persönlichen, satirischen Gedankensplittern zum umfangreichen Themenkomplex »Psychotherapie – Gestalttherapie – Religion – Spiritualität«. Diese Fragmente spiegeln meinen ersten Reflexionsstandpunkt im weiten Feld von Spiritualität wider und fußen auf meinen Erfahrungen als ehemaliger Buchhändler (in einem ganz besonderen Laden) und als Mitarbeiter eines Zentrums, das sich der Integration von Spiritualität und Therapie verschrieben hat. Darauf folgt eine überblicksartige Einleitung zum Thema Spiritualität im postsäkularen Zeitalter.

      Im zweiten Teil geht es um eine Kennzeichnung und »Definition« von Spiritualität und dann um eine inhaltliche Konkretisierung im Hinblick auf therapeutische Arbeit.

      Den dritten großen Abschnitt widme ich verschiedenen Sichtweisen von Psychotherapie und Spiritualität sowie einigen Hinweisen auf empirische Studien. Spiritualität ist eine Ressource, wenngleich amerikanische Studien damit mitunter lediglich den Kirchgang messen und die Ausgangslage alles andere als übersichtlich ist. Daran anschließend kommen spirituelle Wirkfaktoren im therapeutischen Raum zur Sprache, die Hundt (2007) in einer empirischen Studie herausgearbeitet hat. Sie sollen aufzeigen, dass spirituelle Therapie ganz schlicht mit dem »Wunderbaren« (Schellenbaum) umgeht, dass kein Klamauk und Brimborium veranstaltet werden muss, nur weil von Spiritualität die Rede geht.

      Der vierte Teil nähert sich der Gestalttherapie. Mit dem Begriff »Lebenskunst« glaube ich, eine gute Verbindung gefunden zu haben, ein gemeinsames Feld, in dem Spiritualität und Gestalttherapie sich finden und aufeinander treffen können. In der Kunst des Lebens, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, treffen sich meines Erachtens beide Ansätze am besten.

      Im fünften Teil ist der Fokus auf Gestalttherapie und eine offene Spiritualität gerichtet. Auch hier ist lange noch nicht alles ausformuliert. Es geht um die Richtung. Denn nicht das Ziel ist hier wichtig, sondern, wie es einmal der Wiener Gestalttherapeut Alfred Grillmeier sinngemäß formuliert hat, »in der Wüste muss nur die Richtung stimmen, da sich Ziele oft als bloße Fata Morgana erweisen und dir alles vorgaukeln können«.

      Die Abbildungen stellen eine graphische Übersicht dar, die das Thema kurz zu umreißen versuchen und auf einer anderen Ebene das verdeutlichen, worum es geht. Sie sind bewusst vereinfachend; diesbezüglich gilt auch hier zu beachten, was Korzybski in ein Bonmot gefasst hat: »Die Landkarte ist nicht das Territorium.« (zit. n. Yontef 1999, 230)

      Die vorangestellten Zitate aus unterschiedlichen Quellen sind zum einen Leitmotive für die betreffenden Absätze, zum anderen als Motto, das ich verfolge, gedacht. Manchmal sind sie einfach nur prägnante Sätze, die in ihrer Essenz das Thema aufreißen oder sich wie ein Kontrabass durchziehen.

      »Sehnsucht nach Mehr leben – Sehnsucht nach mehr Leben.« So lautete das Manuskript, das als Vorlage für dieses Buch diente. Es ist nicht bloß in theoretischer, professoraler Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur im stillen Kämmerlein entstanden, sondern stellte eine Reflexion meiner Praxisarbeit mit Klientinnen und Klienten und des Umfeldes dar, in dem ich gearbeitet hatte.

      Klarzustellen ist: Spiritualität soll keinesfalls dafür herhalten müssen, die eigene therapeutische Unprofessionalität zu kaschieren. Ich hoffe, mögliche Bedenken von Kollegen und Kolleginnen zerstreuen zu können, dass durch den Einbezug von Spiritualität Gestalttherapie ihrer Vitalität und ihrer therapeutischen Effizienz beraubt wird. Von den relativ jungen Anfängen bis in die Gegenwart hinein wurde Gestalttherapie immer wieder mit Spiritualität verknüpft. Oftmals jedoch zu kurzsichtig. Der Verweis auf Fritz Perls, der irgendwann im Verlauf seines Lebens eine Zen-Shessin gemacht hat, genügt nicht, um Gestalttherapie und Spiritualität miteinander zu verbinden. Im Übrigen war seine Replik darauf äußerst abschätzig. In der mir vorliegenden gestalttherapeutischen Literatur wird Spiritualität eigentlich nie begrifflich definiert. Oft wird mit Spiritualität bedingungsoder kritiklos ein mystischer Weg verstanden. Das ist meines Erachtens nicht unbedingt notwendig bzw. ein gedanklicher Kurzschluss. Spiritualität ist mehr als ein konkreter spiritueller Weg. Andersherum: Der Begriff »Spiritualität« ist weiter angesetzt und nicht ausschließlich auf Mystik beschränkt bzw. bloß für diese reserviert.

      Mein Anliegen ist es, eine ganz »alltäglich-gewöhnliche« Spiritualität aufzuzeigen, die Leben durchdringt und zu Ganzheit und Lebendigkeit inspiriert.

      Abgrenzungen und Eingrenzungen. Spiritualität ist ein weites Feld, auch Gestalttherapie. Die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas erfordert für die Zukunft ein verstärktes interdisziplinäres Vorgehen. Ansätze sind bereits sichtbar: Kongresse, Buchprojekte u.a. Ich führe keinen expliziten Dialog mit philosophischen Bemühungen um Transzendenz-Erfahrungen, obgleich mir ein solcher Austausch fruchtbar erscheint, gerade im Hinblick auf den Ansatz von Spiritualität, den ich hier vorlege.

      Während der Lektüre, nicht nur im Rahmen dieser Arbeit, haben Ausführungen über Spiritualität bei mir einen eigenen »Geschmack« hinterlassen. Sie mundeten nicht, weil zu