Kirche der Armen?. Группа авторов

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Название Kirche der Armen?
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063429



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Der Rückgang der Mittelschicht im Westen ist dort am stärksten, wo der Sozialstaat geschwächt und abgebaut wurde – ersichtlich in den USA, Großbritannien oder Spanien. Bei einem genaueren Blick auf die Mitte werden unterschiedliche Teile dieser – oft fälschlicherweise als einheitlich dargestellten – Schicht sichtbar. DIE Mitte gibt es nicht, wie aktuelle Daten der Nationalbank11 zeigen. Bezieht man neben Einkommen auch Konsum und Vermögen in die Analyse ein, dann zerfällt die Mitte in einen Teil mit Vermögen und in einen ohne. Etwa die Hälfte der Mitte ist in Besitz einer Wohnung oder eines Hauses. Die untere Hälfte hat kaum nennenswerten Besitz. Wobei „Unten“ und „Mitte“ einander näher sind als „Mitte“ und „Oben“. Und das macht einen Riesenunterschied. Die untere Mittelschicht lebt nämlich solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbies und Zukunftschancen für die Kinder, solange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht. Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sichern den Lebensstandard und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten. Die untere Mitte hat kein Vermögen, um Einschnitte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Und wäre sie gezwungen, Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wären ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.

      Auch die aktuellen Daten der Statistik Austria weisen auf diesen Zusammenhang hin. Die Haushaltseinkommen bleiben in Österreich insgesamt stabil. Einige Armutsindikatoren sinken seit 2008 – zwar nur auf das hohe Niveau von vor der Krise, aber: Die langfristige Entwicklung seit 2004 zeigt keine steigenden, aber konstant hohe Armutslagen.12 Das ist sehr ungewöhnlich im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Ohne Sozialleistungen und soziale Dienstleistungen wären auch mittlere Haushalte massiv unter Druck und stark abstiegsgefährdet.

      All das weist auf die Stärken des Sozialstaats hin:

      • Sozialleistungen wirken als automatische Stabilisatoren: Während Industrieproduktionen, Exporte und Investitionen in Folge der Finanzkrise stark gesunken sind, ist der Konsum der privaten Haushalte stabil geblieben, teilweise sogar gestiegen.

      • Ein stabiles Sozialsystem fördert stabile Erwartungen: Der Sozialstaat bedeutet eine Risikoabsicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter. Die Verlässlichkeit der sozialen Institutionen verhindert Angstsparen.

      • Länder mit hohen Sozialstandards performen besser: Sämtliche wirtschaftlichen Indikatoren (Beschäftigung – insbesondere Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Armutsgefährdung, Staatsfinanzen) zeigen, dass die skandinavischen und kontinentaleuropäischen Länder die besten Ergebnisse vorweisen.

      • Der Großteil wohlfahrtsstaatlicher Leistungen stellt eine Umverteilung im Lebenszyklus dar. Wir befinden uns im Laufe unseres Lebens auf verschiedenen Einkommensstufen. Die meisten wandern im Laufe des Lebens die Einkommensleiter hinauf und im Alter wieder eine gewisse Strecke zurück. Der kontinentaleuropäische Sozialstaat legt hohen Wert auf Versicherungsleistungen und Statuserhalt; daher profitiert die Mittelschicht stark von den Sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen.

      • Monetäre Transfers tragen entscheidend zum sozialen Ausgleich bei und wirken armutspräventiv. Sie reduzieren die Armutsgefährdung von 40% auf 12%. Am progressivsten wirken klassische Sozialausgaben wie Arbeitslosengeld, Notstands- und Sozialhilfe sowie Wohnbeihilfe. Staatliche Umverteilung erfolgt in Österreich fast ausschließlich über die Ausgabenseite: Ins erste Drittel der Haushalte fließen 44% aller Sozial- und Wohlfahrtsausgaben und belaufen sich dort auf 84% des Markteinkommens. Auch ohne Berücksichtigung der Haushaltsgröße fließen fast 90% der Arbeitslosenversicherungen, der Notstands- und Sozialhilfen sowie der Wohnbeihilfen ins untere Drittel bzw. der Hinterbliebenenpensionen in die unteren zwei Drittel. Deutlich weniger umverteilend wirken die übrigen wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Familienförderung, die im Wesentlichen nach der Anzahl der kranken Personen bzw. Kinder, SchülerInnen und StudentInnen verteilt werden. Aber auch sie wirken progressiv, d.h. ihre Bedeutung in Relation zum Einkommen nimmt in den höheren Einkommensschichten ab.13

       4. Herausforderungen: Wohnen, Gesundheit, Bildung, Pflege, Prekarität, Suche nach Anerkennung

      Was sind nun die großen Herausforderungen für die Armutsbekämpfung und Vermeidung? Zu den Schwächen des Sozialstaats kontinentaler Prägung wie Österreich oder Deutschland gehört, dass sich prekäre Arbeitsverhältnisse und nicht durchgängige Erwerbsbiografien ungebrochen in den Systemen sozialer Sicherung fortsetzen. Dem stark am Versicherungsprinzip und am männlichen Ernährerhaushalt ausgerichteten Sozialstaatsmodell fehlen echte Mindestsicherungselemente sowie universelle Leistungen und es mangelt an Bildungschancen unabhängig von sozialer Herkunft, eigenständiger Existenzsicherung für Frauen, sozialen Dienstleistungen und einer Demokratisierung des Wohlfahrtsmodells mit stärkeren partizipativen Elementen. Die neuen sozialen Risiken – new social risks – liegen quer zu den klassischen Risiken sozialstaatlicher Sicherungssysteme: neue Selbständige, prekäre Beschäftigung, Lebensrisiko Pflege, chronische Krankheiten. Neue soziale Herausforderungen brauchen auch neue soziale Antworten. Zurzeit drohen gegenläufige Entwicklungen: Dort, wo die armuts-präventive Wirkung des Sozialsystems ausgewiesen ist, wird gekürzt, und dort, wo Fehlentwicklungen und Armutsfallen im Sozialstaat auftreten, werden Reformen verweigert. So werden die Schwächen verstärkt und die Stärken geschwächt.

      4.1. Wohnen

      „Früher habe ich das oft gehabt in der Beratung. Foto vom Schimmel machen, an das Wohnungsamt schicken. Da haben die Leute wirklich innerhalb von ein paar Monaten eine neue Wohnung gehabt. Heute kannst du nicht einmal mehr ein Foto von einem Schimmel hinschicken, weil die sagen, ich habe schon 3000 Schimmelfotos da, das interessiert uns überhaupt nicht.“ So schildert eine Sozialarbeiterin die aktuelle Situation in Salzburg. Wohnen ist derzeit eines der heißesten von allen brennenden Themen. Das ergab eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien und der österreichischen Armutskonferenz.14 Die Mietpreise sind in den letzten Jahren – vor allem in den Städten wie Salzburg, Innsbruck und Wien – derart in die Höhe geschossen, dass viele kaum noch leistbaren Wohnraum finden, berichten die Studienautorinnen Evelyn Dawid und Karin Heitzmann. Ein ganzes Jahr haben sie sich auf die Spuren sozialer Alltagsprobleme begeben, mit Leuten gesprochen, sich Zeit genommen und genau hingehört. Prekäre Wohnverhältnisse und versteckte Wohnungslosigkeit sind angestiegen: Manche Armutsbetroffene leben in Räumen ohne Fenster, ohne Strom, ohne Wasser. Andere teilen sich eine kleine Wohnung, was zu krassen Überbelegungen führt, und wieder andere „wandern“ von hilfsbereiten Bekannten zu Bekannten, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Tatsächlich ist Wohnen massiv teurer geworden und macht einen immer größeren Anteil am monatlichen Haushaltsbudget aus. 6% der Bevölkerung in Österreich klagen über dunkle Räume, 11% leben in feuchten, oft auch schimmligen Wohnungen. 7% in Überbelag – davon sind untere Einkommen stärker betroffen.15 Die unterschiedliche Belastung durch Lärm, Luft, Hitze, Kälte und Umweltverschmutzung wird zunehmend auch in Europa unter dem Stichwort Umweltgerechtigkeit (environmental justice) diskutiert.

      4.2. Gesundheit

      Obige Studie verglich die Situation mit der vor 10 Jahren. Sozialorganisationen, die in der Armutsbekämpfung tätig sind, betreuen aktuell mehr Personen mit psychischen Erkrankungen als noch vor zehn Jahren. Deren Problemlagen sind tendenziell komplexer geworden. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass die gesundheitliche Hilfe bei psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen als äußerst lückenhaft beschrieben wurde: Es fehlt an leistbaren Psychotherapiemöglichkeiten, stationären Langzeittherapieplätzen, unterstützenden Maßnahmen für Familien, in denen ein Mitglied erkrankt ist und an niederschwelligen aufsuchende Angeboten.16 Als schwierig gestaltet sich der Alltag von ehemaligen BezieherInnen einer Invaliditätspension, die nach deren Abschaffung einen Wiedereinstieg ins Berufsleben versuchen sollen. Manche finden einen Job, viele pendeln aber frustriert zwischen Arbeitsmarktservice, Transitstelle und kurzen Phasen in regulärer Arbeit.

      Die Bevölkerung unter der Armutsgrenze weist einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als hohe Einkommen und ist doppelt so oft krank wie mittlere Einkommen.17