Kirche der Armen?. Группа авторов

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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063429



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und eine Verwaltungs- und Vollzugspraxis, die nicht den Bürger, sondern den Untertanen sieht. Vieles atmet den obrigkeitsstaatlichen Wohlfahrtsstaat, Vater Staat, der seinen minderjährigen Kindern Gaben zuteilt. Besonders auf den Sozialämtern wird in zahlreichen Studien ein willkürlicher und bürgerunfreundlicher Vollzug festgestellt.27

      Der Eintritt ein Gedicht. Der Zugang ein Lied. Der Türöffner eine Kurzgeschichte. Abends wird zum Treff in die Wiener Diakonie-Not-stelle s`Häferl geladen, dem Wirtshaus für Leute, die es eng haben und am Limit leben. Gekommen sind Anneliese, die mit ihrer Mindestpension mehr schlecht als recht durchkommt. Da ist Kurt, den der Arbeitsmarkt ausgespuckt hat wie ein ungenießbares Stück Fleisch. Gekommen ist Lisa, die mit Krankheit und dem Alltag kämpft. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Anneliese liest ihre vor einigen Tagen verfasste Kurzgeschichte über eine verflossene Liebe vor, Kurt gibt Stanzln aus seiner früheren Arbeit zum Besten, Lisa wagt sich an ein Gedicht, das ihr in der Straßenbahn eingefallen ist. Alle sind sie sonst als unbrauchbar abgestempelt worden, vom Arbeitsmarkt als chancenlos tituliert, in der Öffentlichkeit unsichtbar gemacht. Doch hier im Häferl wird das wie zu einer „Inventur der verborgenen Talente“, all die ökonomisch entwerteten Fähigkeiten und Kenntnisse von Menschen werden gehoben, sichtbar und hörbar.

      Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass nicht wahrgenommen werden ausgeschlossen sein bedeutet. Deshalb sei heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft untrennbar verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung.28 Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. In Paris gründete Rosanvallon ein „Parlament der Unsichtbaren“, das dazu dient, all die Geschichten und Lebensbiographien von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären: von Jugendlichen, die es schwer haben, von Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, vom alten Mann am Land. Die Unsichtbarkeit weist auf zwei Phänomene: einerseits auf das Vergessen, die Zurückweisung und die Vernachlässigung, andererseits auf die Unlesbarkeit der Verhältnisse. Für viele ist es schwierig geworden, die Gesellschaft noch zu lesen und sich selbst mittendrin. Das Projekt will dem Bedürfnis nach Erzählung der „gewöhnlichen“ Lebensgeschichten, dem Anhören der ungehörten Stimmen und der Beachtung der alltäglichen Sehnsüchte nachgehen. „Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden.29

      Wer das Wort ergreift, hat etwas zu erzählen. Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er oder sie ist. Das Wort zu ergreifen, heißt nicht fürsprechen, sondern selbst sprechen. Wenn Ausgeschlossene die eigene Lebenswelt sichtbar machen, schaffen sie einen Ort, von dem aus sie sprechen können. Der Vorhang öffnet sich zu einer Bühne, auf der die eigene Geschichte eine eigene Deutung – und zugleich Bedeutung – erfährt. Das Unspektakuläre des eigenen Lebens bekommt eine Bühne und wird besonders. Die, die das Wort ergreifen, können zur Sprache bringen, wer sie sind – und wer sie sein können.

      Es gibt etwas in unserem Leben, das einfach wichtig ist. Bestimmte Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Dazu gehören auch Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht. Der Psychologe Abraham Maslow beschrieb in seiner „Theorie der menschlichen Motivation“ fünf Mängel, die uns bei Nichtbefriedigung empfänglich für Hetze aller Art machen: Hunger und Durst, Gewalt und Arbeitslosigkeit, Isolation und Einsamkeit, fehlende Achtung und Wertschätzung, Brachliegen der eigenen Potenziale. „Wer dauernd hungert, wird jenen folgen, die Brot versprechen. Jene, die Sicherheit garantieren, werden bei Verängstigten und Traumatisierten einen Zuhörer finden“, analysiert der Netzwerkforscher Harald Katzmair.30

      „Jene, die Teilhabe anbieten, werden beim Einsamen Resonanz erzeugen. Jene, die sagen: So wie Du bist, bist du ein wertvoller Mensch, werden bei denen, die nie im Licht der Anerkennung stehen, Anklang finden. Die in Hierarchien eingepferchten werden jene, die neue Spielräume ermöglichen, als Befreier sehen.“31

      Wer diese Grundbedürfnisse nicht mehr auf dem Radar hat, wird auch nichts ausrichten gegen Ideologien der sozialen Ausgrenzung.

      „Vor allem das Bedürfnis nach Wertschätzung, Würde und Integrität von all jenen, die sich nicht täglich im Lichte des Erfolgs sonnen können, ist aus dem Blick geraten“.32

      Die einen verwandeln Armutsbetroffene in Objekte sozialmoralischer Pädagogik, in defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können. Die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwährende Opfer, die alles brauchen. Aber nie als Akteure, als Handelnde, als Personen. Es gibt eben Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht. Wer nicht im Licht steht, wird suchen, was in seinem Alltag verloren zu gehen droht: Achtung und Würde.

       Literatur

      Bacher, Johann, in: Lernen und Wachsen, Diakonie Themen, Diakonische Information 177 (3-2015), 10-12.

      Bachinger, Eva / Schenk, Martin, Wert und Würde. Ein Zwischenruf, E-Book, HanserBox 2016.

      Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1982.

      Dawid, Evelyn / Heitzmann, Karin, Österreichische Nichtregierungsorganisationen in der Armutsbekämpfung. Entwicklungen, Leistungen, Lücken. Durchgeführt von der Österreichischen Armutskonferenz und der Wirtschaftsuniversität Wien, Wien 2015.

      Die Armutskonferenz, Sozialhilfevollzug in Österreich. Eine vergleichende Studie, Wien 2008.

      Dimmel, Nikolaus / Fuchs, Michael, Im toten Winkel des Wohlfahrtsstaates. Am Beispiel der Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen, in: Dimmel, Nikolaus /Schenk, Martin /Stelzer-Orthofer, Christine, Handbuch Armut in Österreich, Bozen-Innsbruck-Wien 2014, 406-424.

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      European Parlament, The impact of the crisis on fundamental rights across Member States of the EU, Comparative analysis, Study for the LIBE Committee, Brüssel 2015.

      Eurostat 2017, http://ec.europa.eu/eurostat [Zugriff: 29.07.2017] Fessler, Pirmin / Schürz, Martin, Zur Mitte in Österreich, in: Sozialministerium (Hg.), Sozialbericht Berichtszeitraum 2015 – 2016, Wien 2017, 270-290.

      Hradil, Stefan, Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?, in: Richter, Matthias / Hurrelmann, Klaus (Hg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden 2006.

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      Maslow, Abraham, A Theory of human motivation, Wilder Publications 2013.

      Milanovic, Branko, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016.

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      Paugam, Serge, Die elementaren Formen der Armut, Hamburg 2008.

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