Sepp Kerschbaumer. Josef Fontana

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Название Sepp Kerschbaumer
Автор произведения Josef Fontana
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788872838051



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hat es bei den Kerschbaumers gegeben, und das hatte zur Folge, dass die Familie automatisch der Treffpunkt für die Jugend von Frangart wurde. „Vielleicht wollte er uns unter Kontrolle haben“, deutet die Tochter die Großzügigkeit des Vaters. Eine Zeit lang lernte er sogar Ziehorgel spielen, um daheim musizieren zu können.19 Wahrscheinlich waren es später die steigenden Ansprüche der Politik, die ihn zwangen, das Musizieren aufzugeben.

      Dem disziplinierten, ernsthaften Menschen bedeutete die Familie alles. Die Familie war ihm vielleicht auch deshalb wichtig, weil er die eigene so früh verloren hatte. „Er war immer daheim“, erinnert sich die Tochter. Die Erziehung der Kinder habe eindeutig der Vater bestimmt, wobei die Strenge, die er sich selbst zumutete, auch für die Familie zur Richtschnur wurde. Bei aller Bescheidenheit und Demut: Herr des Hauses blieb er. Die Geschäftsführung hat er nie abgegeben, selbst in den Zeiten nicht, als die Politik und die Vorbereitung des Kampfes im Untergrund ihm praktisch kaum mehr Zeit für das Geschäft ließen. Doch wusste er immer, dass seine Frau und die Töchter den Laden schon schmeißen würden.

      Wenn man sagt, dass Sepp Kerschbaumer ein Familienmensch war, dann ist das in einem etwas weiteren Sinn zu verstehen. Zur Familie gehörten auch die Nachbarsleute. Die Grenzen von seinem eigenen Hausstand zur Dorfgemeinschaft waren fließend. Wenn auch im Auftreten bescheiden und zurückhaltend, war er ein kontaktfreudiger und geselliger Mensch, der die Bekanntschaften und Freundschaften pflegte. Freilich war es nicht die laute Gesellschaft, die er suchte, sondern das abendliche Gespräch mit Freunden und Nachbarn, kurz mit Leuten, mit denen er sich gut verstand.

      Das Gebot, dass man den Sonntag heiligen müsse, stand für Sepp Kerschbaumer außer Diskussion. „So war ihm besonders die Sonntagsarbeit ein Dorn im Auge. Und zwar hätten nach ihm nicht bloß die knechtlichen Arbeiten an Sonn- und Feiertagen abgeschafft werden sollen, sondern auch die Nachtarbeit.“20 Konsequent wie er war, aß er sonntags nie frisches Brot, weil er es nicht für richtig fand, dass die Bäcker in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag arbeiten mussten. Streng hielt er sich auch an das Gebot, dass man den Namen Gottes nicht verunehren dürfe. Er war gewiss nicht die personifizierte Sanftmut. Im Gegenteil, man konnte ihn auch aufbrausend und zornig erleben. Nie aber kam ein Fluchwort über seine Lippen, selbst in der höchsten Erregung nicht. Gerade die Politik bietet Anlässe, sich aufzuregen und die Beherrschung zu verlieren. Aber da gab es für ihn Grenzen, die nicht überschritten wurden. Das schärfste Kraftwort, das er sich durchgehen ließ, war Porzellana.21

      Zu den Wesenszügen Kerschbaumers gehörte, dass er ehrlich war. Das hatte dann aber zur Folge, dass er auch ein ehrlicher Steuerzahler war. Gib Gott, was Gottes ist, und dem Staat, was des Staates ist. Ein Grundsatz, der aber nur selten wörtlich genommen wird. Im Allgemeinen herrscht die Meinung vor, dass sich der Staat eh schon mehr nehme, als ihm zustünde. Dieser Ansicht war auch Kerschbaumers Steuerberater, ein Nonsberger, der mit ihm nicht sehr zufrieden war. Mehrmals bemerkte er: „Herr Kerschbaumer, es ist richtig und in Ordnung, dass Sie ein guter Tiroler sind, aber beim Steuerzahlen müssen Sie ein guter Italiener sein. Nur in diesem einen Falle, wohlgemerkt!“22 Für Sepp Kerschbaumer aber war es nicht einfach, seine Persönlichkeit in diese zwei Hälften aufzuspalten.

      Sepp Kerschbaumer hielt auch Maß im Essen und Trinken. Alkohol trank er von einem bestimmten Tag an überhaupt keinen Tropfen mehr. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. Es war im Frühjahr 1957 oder 1958, dass er mit einigen Freunden die Weinkost im Hotel Laurin in Bozen besuchte. Als das ganze Ritual der Verkostung durchgespielt war, verließ die Runde leicht angesäuselt und in herrlicher Stimmung das Hotel. Die frische Luft dürfte dazu beigetragen haben, dass die gute Laune bei Kerschbaumer in Übermut umschlug. Er erblickte auf der anderen Straßenseite einen Polizisten. Da überkam ihn die unbändige Lust, den Mann zu provozieren. Er ergriff einen Ligusterstock am Gehsteig und wälzte ihn in die Straßenmitte. Prompt eilte der Polizist herbei und fragte ihn, was ihm denn einfalle, ein solches Verkehrshindernis hier in den Weg zu stellen. Er hieß ihn ihm auf die Quästur zu folgen, die damals im Palais Widmann ihre Büros hatte. Bei der Durchsicht der Papiere stellte der Polizist fest, dass Kerschbaumer Vater von sechs Kindern war. Zu seinem Kollegen gewandt bemerkte er: „È padre di sei figli, lasciamolo andare – Er ist Vater von sechs Kindern, lassen wir ihn gehen.“ Der andere nickte. Dann zu Kerschbaumer: „Vada a casa Kerschbaumer, man non faccia più questi scherzi – gehen Sie nach Hause, Kerschbaumer, aber mache Sie keine solchen Scherze mehr.“ „Da waren sie doch wieder menschlich“, bemerkte er Pepi Fontana gegenüber. In der Tat: Ein verknöcherter Bürokrat oder ein Fanatiker hätte den Fall zu einem Skandal hochspielen können. Sepp Kerschbaumer war der Ausrutscher eine Lehre fürs ganze Leben. Er hatte zum ersten Mal erfahren, dass ihn der Alkohol zu einer Handlung verleiten konnte, die ihm sonst gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Von diesem Tag an trank er keinen Tropfen Wein mehr, gar nicht zu reden von Spirituosen. Keine Runde und kein Anlass konnten ihn bewegen, auch nur an einem Glas zu nippen. Der Grundsatzmensch Kerschbaumer hatte einen Beschluss gefasst, und dabei blieb es.

       Kerschbaumer und die Italiener

      Eigenartigerweise hat die Politik in der Familie Kerschbaumer keine Rolle gespielt. Sepp Kerschbaumer, der so leidenschaftlich gern diskutierte und sich stunden- und nächtelang mit Freunden und Bekannten über die Landes- und Weltpolitik streiten konnte, hatte diesbezüglich in der Familie keinen Ansprechpartner. „Wir waren absolut unpolitisch und sind es auch heute noch“, betont Helga Kerschbaumer. Es wäre auch für seine Söhne und Töchter nicht ganz einfach gewesen, das Verhalten des Vaters zu verstehen. Er hatte eine Wut und oft auch so etwas wie einen heiligen Zorn auf das offizielle Italien, gleichzeitig aber griff er italienischen Zuzüglern unter die Arme, wenn sie in Not waren. Er unterschied nämlich streng zwischen den Menschen und der Politik. Das wird von allen, die ihn kannten, herausgestellt. Obwohl der ständige Zustrom von Neueinwanderern einer der Hauptgründe für die Radikalisierung innerhalb der deutschen Volksgruppe war und das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen schwer belastete, hat dies Kerschbaumer nicht daran gehindert, dem einen oder anderen italienischen Industriearbeiter aus der Verlegenheit zu helfen, wenn er einmal ohne Mittel dastand.

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      Um die italianità Südtirols zu unterstreichen, veranstalteten nationalistische Kreise am 4. November 1955 in Bozen einen plebiscito tricolore. Associazioni patriottiche verteilten diese Karte mit der Aufforderung „Ad ogni finestra una bandiera“. Die Veranstaltung nahm den Charakter eines widerlichen faschistischen Spektakels an.

      Einige von ihnen hatten sich auf der Suche nach billigem Wohnraum Ende der 1950er-Jahre auch in Frangart niedergelassen und so mit dem wohltätigen Menschen Sepp Kerschbaumer Bekanntschaft und auch Freundschaft geschlossen. Einem mittellosen Zugewanderten gab er in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Südtirol Lebensmittel auf Kredit. Einem anderen Italiener gewährte er ein Darlehen, ohne auch nur eine Quittung zu verlangen. Und wieder einem anderen schenkte er ein Fahrrad, damit er den weiten Weg zum Arbeitsplatz nicht zu Fuß gehen musste.23 Ein Industriearbeiter und ein Angestellter bei der Post haben ihm das auch vergolten, indem sie dann beim Mailänder Prozess für ihn ausgesagt haben, obwohl er das selbst nicht wollte, denn „was die Rechte getan hat, darf die Linke ja nicht wissen“.

      „Der Einzelne kann ja nichts dafür“, lautete stets der Leitspruch des Christenmenschen Sepp Kerschbaumer. Die Politiker und die Regierung waren für ihn verantwortlich für die gespannte Situation in Südtirol.

      „Mein Vater war mit mehreren Italienern regelrecht befreundet“, weiß Helga Kerschbaumer zu berichten. Ein Bekannter aus Süditalien, mit dem er in Kriegszeiten Bekanntschaft geschlossen hatte, sei immer wieder auf Besuch gekommen. „Es hat bei uns kein fanatisches Klima gegeben“, betont sie, „denn das wäre schon aus religiösen Gründen niemals möglich gewesen.“ Ein Klima selbstverständlicher Toleranz, und das in einer Zeit größter Spannungen, in der der BAS-Chef schon konkret ans Bombenlegen dachte: Dass das möglich war, hat mit der religiösen Geistigkeit von Sepp Kerschbaumer zu tun.