Sepp Kerschbaumer. Josef Fontana

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Название Sepp Kerschbaumer
Автор произведения Josef Fontana
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788872838051



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und Italien keine größeren Grenzverschiebungen vorzunehmen. Das hieß mit anderen Worten, dass Südtirol bei Italien zu verbleiben hatte. Ganz Tirol reagierte auf diese Entscheidung mit einer Welle von Demonstrationen. In Innsbruck trat die Landesregierung zurück. In ganz Nordtirol wurde ein Generalstreik ausgerufen. In Südtirol kam es zu einer Reihe von Kundgebungen: Am 5. Mai 1946 forderten in Sigmundskron, in Brixen und in Meran Zehntausende Südtiroler eine Volksabstimmung. Am 12. Mai vereinigten sich die Wipptaler in Sterzing, am 19. Mai die Eisacktaler in Klausen und die Vinschgauer in Schlanders, am 28. Mai die Pusterer, die Enneberger, die Ampezzaner und die Buchensteiner in Toblach zu Kundgebungen für das Selbstbestimmungsrecht.12 Alles umsonst. Auf der Friedenskonferenz in Paris konnte der österreichische Außenminister nur mehr mit Italien ein Abkommen schließen, das Südtirol eine Autonomie in Aussicht stellte. Der Volksbote in Bozen bedauerte, dass Südtirol die Entscheidung über seine staatliche Zugehörigkeit verweigert worden war. Doch machte er den Lesern auch etwas Mut. Immerhin, meinte das Blatt, sei den Südtirolern das beschränkte Recht eingeräumt worden, sich selbst zu regieren.13

       Vom Pariser Vertrag bis zum Autonomiestatut

      Wurde Südtirol wirklich das Recht eingeräumt, sich selbst zu regieren? Darüber kamen schon in Paris Zweifel auf. Die Tinte der Unterschriften war noch nicht trocken, da wartete der italienische Ministerpräsident Alcide Degasperi mit einer Interpretation auf, die Schlimmes ahnen ließ. Und in der Tat nahm Rom bei der Umsetzung des Abkommens Abstriche vor, die den Autonomiegedanken in sein Gegenteil verkehrten. Statt der allseits erwarteten Landesautonomie wurde praktisch nur eine Regionalautonomie gewährt, in der die Trentiner das Sagen hatten und die Italiener insgesamt über eine Zweidrittelmehrheit verfügten. Dass eine von Christdemokraten geführte Regierung die Politik der Entnationalisierung und Unterwanderung der Faschisten fortsetzte, das war für den katholischen Fundamentalisten Sepp Kerschbaumer wohl eine der größten Enttäuschungen seines Lebens. Denn für ihn war es nicht nur eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Politik an christlichen Grundsätzen zu orientieren hatte. Ein ebenso selbstverständliches Gebot war es ihm, Religion und Lebensführung grundsätzlich in Einklang zu bringen, im Großen wie im Kleinen. Wie kann die freie Welt ihrem Hauptfeind, dem Weltkommunismus, offen entgegentreten, wenn in ihrem Innern grundsätzliche Freiheitsrechte missachtet werden, fragte er sich immer wieder. Dass selbst christliche Demokraten nur Machtpolitik betrieben und nur die Interessen ihres Staates sahen, machte Sepp Kerschbaumer schier fassungslos.

      Es scheint, dass sich Sepp Kerschbaumer in der ersten Nachkriegszeit primär lokalen Aufgaben widmete. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er der Südtiroler Volkspartei beitrat. Wie bei allen Dingen war auch hier sein Einsatz total. Halbheiten gab es keine. Schon 1946 wurde er zum Fraktionsvorsteher von Frangart bestellt. Diese Funktion übte er bis 1956 aus. Überzeugt, dass eine gute Schulbildung das größte Kapital ist, das man einem jungen Menschen auf den Lebensweg mitgeben könne, setzte er sich als Fraktionsvorsteher mit ganzer Kraft für den Bau eines Schulhauses in Frangart ein. Wenn er sich ein Projekt dieser Art vornahm, dann zog er es rasch durch. Für bürokratische (manchmal auch vom Gesetz vorgeschriebene) Umständlichkeiten hatte er kein Verständnis. Die Gemeindeverwaltung in Eppan hatte es da nicht immer leicht mit ihm. „Anfangen und fertig machen“, war seine Devise. Bereits 1948 wurde das neue Gebäude eingeweiht und bezogen.14 Ungefähr von 1946 bis 1958 – Anfang und Ende lassen sich nicht mehr genau ermitteln – war er auch Obmann der SVP-Ortsgruppe von Frangart. Auch diese Funktion nahm er ernst. Hermann Nicolussi-Leck berichtete 1957 dem Parteiausschuss, dass Kerschbaumer seine Ortsgruppe „ausgezeichnet beisammen“ hat; er genieße volles Vertrauen; ganz Frangart stehe hinter ihm.15 Es gibt Hinweise, die den Schluss nahelegen, dass er um 1958 diese Funktion niederlegte, weil er die SVP nicht gefährden wollte. Im Laufe dieses Jahres war er nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass der italienischen Majorisierungspolitik nur mehr mit Dynamit Einhalt geboten werden könne. Und daraus zog er die ihm erforderlich scheinende Konsequenz. Mit seinem Rücktritt als Ortsobmann setzte er sich aber innerlich nicht von der Südtiroler Volkspartei ab. Sie war und blieb – allem Ärger und allen Enttäuschungen zum Trotz – seine politische Heimat.

       Halt in der Familie

      Wie war der Mensch und Familienvater Sepp Kerschbaumer? Da ist einmal seine Religiosität, die sein Denken und Handeln bestimmte. Für die Tochter Helga sind die Wurzeln hierfür wahrscheinlich im Heim gelegt worden. Disziplin, Pflichtbewusstsein und Strenge – vor allem Strenge gegen sich selbst – waren für ihn immer selbstverständliche Leitlinien; auch das wahrscheinlich ein Erbe der Heimerziehung.

      „Früh aufstehen und hart arbeiten, das war das Motto seines Lebens. Er hat gerne hart gearbeitet“, erinnert sich die Tochter. Vor allem die Arbeit in den Obstwiesen machte ihm Freude. Doch ein Bauer sei aus ihm nie geworden: „Dem Vater haftete einfach eine gewisse Ungeschicklichkeit an, er konnte besser mit der Feder als mit der Sense umgehen.“ Von seiner äußeren Erscheinung her aber war er der Bauer. Kam er in der blauen Schürze und im abgetragenen karierten Jöppl daher, glaubte man, er trage das Festtagsgewand. Zog er den schwarzen Anzug an und band er sich eine Krawatte um, so stellte er nichts Besonderes vor.

      In den Jahren bevor er sich intensiv mit Politik befasste, ergriff er verschiedene Initiativen, um das Einkommen zu verbessern. Er war ein Mensch voller Ideen und Tatendrang. Einmal verlegte er sich auf eine Hasenzucht, dann ging er zur Schafzucht über, schließlich widmete er sich dem Gemüseanbau. Und so nebenbei erbaute er, um 1956/57, das Gasthaus Schloßwirt in Frangart.16 Wenn er glaubte, dass es sich arbeitsmäßig gerade gut ausgehe, konnte er für ein paar Tage auch alles hinwerfen und eine Fahrt unternehmen. Solche Entschlüsse waren nicht das Ergebnis langer Planung, sondern eines spontanen Einfalls. So unternahm er 1950 ganz plötzlich mit seinem Freund Willy Alessandri einen Ausflug zum Gardasee, und weil es so schön war, vom Gardasee nach Genua, und von Genua ging die Reise auch noch nach Mailand.17 Nicht immer glücklich über solche Initiativen war seine Frau, die sich von einem Tag auf den anderen darauf einstellen musste, dass sie den Laden für mehrere Tage oder für eine ganze Woche allein weiterzuführen hatte. Wenn die Tochter Helga sagt, dass aus ihm nie ein Bauer geworden sei, hat sie noch in einem weiteren Sinne recht. Bei der Arbeit in den Feldern war er mit seinen Gedanken mehr bei der Politik als bei der Arbeit. Beim Umstechen oder beim Baumschneiden in der Obstwiese, so erzählte er einmal Pepi Fontana, seien ihm meistens die besten Gedanken gekommen. Er trug stets Bleistift und Papier bei sich. Fiel ihm ein Gedanke für das nächste Rundschreiben ein, so hielt er ihn sofort fest. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass die beste Idee und die glänzendste Formulierung unwiederbringlich weg waren, wenn er sie nicht gleich zu Papier brachte.

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       Sepp Kerschbaumer und Willy Alessandri vor dem Mailänder Dom bei der Motorradfahrt Frangart–Genua–Mailand–Frangart, um 1950

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       Sepp Kerschbaumer in seiner Obstwiese

      So etwas wie einen Achtstundentag kannte Sepp Kerschbaumer nicht. Er war ein Frühaufsteher und blieb es sein Leben lang. Jeden Tag, ob der Himmel klar war oder trüb, ob es regnete oder schneite, fuhr er mit dem Fahrrad oder mit dem Vicky nach Bozen zur Fünf-Uhr-Messe. „Mit Vorliebe besuchte er die Herz-Jesu-Kirche oder verweilte im Gebet vor dem historischen Herz-Jesu-Bild im Dom.“18 Dass er unter keinen Umständen die Sonntagsmesse ausließ, versteht sich von selbst. Der Sonntag gehörte dem Herrgott, der Familie und – in zunehmendem Maße – der Politik. Seine Tochter Helga erinnert sich, dass er jede freie Minute nützte, um zu lesen oder zu schreiben. „Die Sonntage vor allem, da war er den ganzen Tag zu Hause und hat geschrieben“. Er dürfte es immer als Mangel empfunden haben, keine höhere Schulbildung genossen zu haben. Umso mehr war er darauf bedacht, seine Kinder mit guter Lektüre zu versorgen. „Er hat uns Bücher gekauft und ist auch in die Bücherei