Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
13. Mai 1991
Gestern im Gorki-Theater »Mein Kampf« von Tabori. Unterhaltend, weil oft witzig und manchmal anrührend. Aber Tiefeleien ohne Tiefe; der Nazismus als Quatsch aus dem Männerasyl. Endlich Lösung vom Makel, der etwa noch am Kapitalismus haftete. Und fürs heutige Israel hochbequem, weil Juden als gewaltfreie Erben der Weisheit der Völker. »Schuhplattler zu Donner«. Großartig gespieltes – Studentenkabarett.
Nach der Vorstellung trafen wir uns mit Ernst Schumacher in der Kantine. Er beschwor uns, irgendetwas zu tun für die DDR-Intelligenz, der man jetzt ihre Renten unter die Armutsgrenze drücken will. Sie haben den Kalten Krieg verloren.
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Zu meiner Verwunderung hat Dieter Claessens mir einen Korb erteilt, als ich ihn um Unterzeichung des Aufrufs für die MEGA anging. Er habe die MEGA nie in die Hand genommen und werde es auch künftig nicht tun. – Merkwürdig private Einstellung zu einem gewaltigen Stück theoretischer Weltliteratur.
14. Mai 1991
Von einer »reaktionären Wende« Gorbatschows spricht der Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST), Heinrich Vogel. Das ist die Perspektive jenes fiebernden und widersprüchlichen Gemischs, das sich rechts von sozialistischen Reformperspektiven formiert hat. Hinter der vermeintlichen »Wende« Gorbatschows verbirgt sich dessen Verlust der Balance. Das zentristische Spielen mit und zwischen rivalisierenden Kräften war irgendwann zu Ende. Vogel hält eine Konsolidierung der Umgestaltung für unmöglich.
16. Mai 1991
Leonid Luks, Chef der Osteuroparedaktion der »Deutschen Welle« erklärt in der FAZ (»Droht der Sowjetunion ein Bürgerkrieg?«) Gorbatschows »Inkonsequenz« zum »Geheimnis seines Machterhalts, seiner Verwandlung in einen eigenständigen politischen Faktor, ja in eine Institution«. Dem liege »das labile Gleichgewicht« ganz heterogener Kräfte zugrunde, die nicht mit einander können und deren keine stark genug ist, die andere unterzukriegen: Gorbatschow der »Puffer«. Stärken und Schwächen sind demnach kontrapunktisch verteilt: die KPdSU und ihr Apparat halten effektive Verwaltungsmacht, aber kaum nennenswerte Konsensmacht (nur noch 6 Prozent sollen sie stützen); die »Demokraten« sind insofern Erben der Dissidenten, als sie den Massen misstrauen, eine These, der Jelzins Populismus zu widersprechen scheint. Jede der antagonistischen Formationen hält laut Luks die Perestrojka von ihrem Standpunkt für gescheitert. Die Krise des Landes scheint dem recht zu geben. »Das zerfallende Kommandosystem und die im Entstehen begriffene zivile Gesellschaft funktionieren nach völlig unterschiedlichen Mustern und lähmen sich gegenseitig.« Aber man solle sich vom »immer weiter voranschreitenden Zerfall der wirtschaftlichen und politischen Mechanismen« nicht täuschen lassen: »Dennoch handelt es sich hier wohl um ein schöpferisches Chaos, in dem sich die Verwandlung der sowjetischen Gesellschaft von einem Objekt in ein Subjekt der Geschichte vollzieht.«
Ich stelle mir vor, wie Georg Fülberth höhnen würde, wüsste er, dass ich die Dinge nicht in jeder Hinsicht anders sehe. Aber kann es noch die sowjetische multinationale Gesellschaft sein? Kann es sie überhaupt geben, nachdem sie als solche im befehlsadministrativen System keine Rolle eigenen Rechts spielte?
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Einen Packen Theaterkritiken zu Zonschitz’ Aufführung der Schatten gelesen. Totschlag mit Worten. Ich wundere mich, dass Otto das überlebt. Roland Wiegenstein vom WDR von allen der Fahrlässigste. Widerwärtig. Insgesamt muss, da wohl keine Verschwörung, ein struktureller Effekt vorliegen, den ich nicht begreife. Es muss etwas mit der Gesamtsituation der Theater in dieser Doppelstadt zu tun haben, wobei sich das Unheil ausgerechnet über der Theatermanufaktur entlädt, die das Pech hat, in dem Haus zu spielen, aus dem die Schaubühne!! hervorgegangen ist.
Detlev Albers äußert sich »entsetzt« über Friggas Beitrag zur Situation der Linken im vereinten Deutschland in der Märznummer von »Z«; er habe daran gemerkt, »in welch verschiedenen Welten wir inzwischen leben«. Ich rätsle, was den Anstoß gegeben haben könnte. Ist es, weil Frigga den westdeutschen Linken nahelegt, »sich mit den verbleibenden Linken aus der ehemaligen DDR zu verbinden«? Ich merke daran, dass die Sozialdemokratie sich weiter nach rechts bewegt haben muss.
17. Mai 1991
In der SU Zeichen der Politikfähigkeit, wieder auf Grundlage der sich zusammensetzenden Republikführungen unter Moderation von Gorbatschow: 13 von 15 Präsidenten haben sich mit der Sowjetregierung auf ein Antikrisenprogramm geeinigt. Georgien und Estland blieben weg. In den USA soll sich Schewardnadse für die Einschaltung der UNO zur Beilegung regionaler Konflikte in der SU ausgesprochen haben.
Kathrin am Telefon: ist glücklich, die Russischprüfung mit drei bestanden zu haben, war einen Monat »krankgeschrieben«, kommt jetzt nach Berlin und – ich falle aus allen Wolken, wie ich das höre – beabsichtigt eigentlich nicht, zur Volksuniversität zu kommen, weil sie vormittags schlafen muss, nachmittags nicht so recht weiß. Ich finde das ›vollkommen unmöglich‹, wie man so schön kontrafaktisch sagt. Banges Vorgefühl, ob die VU in Ostberlin ankommt. Das Risiko scheint größer als gedacht.
21. Mai 1991
Der Jurist Friedrich-Christian Schroeder von der Universität Regensburg verlangt in der FAZ, die PDS für Umweltschäden in der vormaligen DDR haftbar zu machen. Will auf Enteignung hinaus. Merkwürdig das Eventualargument, »dass die PDS illegale Ersatzorganisation einer verbotenen Partei« sei. Phantasiert er ein Verbot herbei? Das von ihm aufgemachte Schadensbild lässt sich auf jede Regierungspartei einer Industriegesellschaft anwenden. Die Begründung der Schäden im einzelnen nach der Logik des Hexenhammers. Ausgerechnet die SED mit ihrem Erbepathos soll die historische Vergangenheit auszulöschen versucht haben. Dass vieles abgerissen wurde, steht auf einem andern Blatt. Von vielen westdeutschen Städten weiß man, dass die Bomben des Zweiten Weltkriegs nicht so viel an alter Stadtsubstanz zerstört haben wie die »Sanierungen« der Wohlstandsjahre. Und sind in der BRD etwa nicht auch »schwerste Umweltschäden eingetreten«? Müssen die Regierungsparteien fürs Waldsterben aufkommen? Schroeder argumentiert mit der Generalkompetenz des Politbüros, das über der Regierung stand. Das ist tatsächlich ein gewaltiger struktureller Unterschied zur bundesdeutschen Machtstruktur. Aber man kann dieses Faktum (und viele haben das getan) auch als Verstaatlichung der Partei auslegen. Nicht die Partei regierte, sondern in der Partei wurde regiert. Der beherrschte Staat beherrschte die Partei. Er war in der Partei wiedergekehrt. Schroeder ruft nun nach Prozessen gegen die PDS, in denen irgendwie Geschädigte Schadensersatz einklagen. Er verheißt Finanzierung ihrer Prozesskosten.
22. Mai 1991
Kathrin erschien tatsächlich nur kurzzeitig, ihr Freund überhaupt nicht, er wollte Fallschirmspringern zusehen. Aber die VU »kam an« in Ostberlin. Von mir habe ich freilich (wie zumeist) das Gefühl, dem historischen Moment nicht genügt zu haben, ein alterndes Füllen, stets bereit, loszusprengen, natürlich nicht in irgendeine Richtung, sondern schon in eine der »richtigen«, aber einseitig: wenn ich die Suppe fad finde, würze ich sie, das sieht dann für manche so aus, als böte ich Würze statt Suppe.
Reinhart Mocek fragte nach dem »Gedankensystem« von Marx (fragte also unverändert marxistisch-leninistisch. Ohne Rede von der historischen Mission der Arbeiterklasse sei Marxismus oder auch nur marxistische Theorie sinnlos. Er hat Brechts vernichtende Kritik an dieser Figur nie zur Kenntnis genommen. Seine weiteren Kriterien sind: Geschichtsgesetze, Materialismus, Dialektik (letztere sieht er in Selbstorganisations-Forschung weiterverfolgt). Die Diskussionsanordnung erlaubt keine Bearbeitung der von Mocek genannten Fragen. Mir fehlt es an gesammeltem Überblick und kalkulierter Argumentation. Ich lege los bei Agnolis