Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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      Kohl, der große Vereinigungskanzler, zahlt jetzt die Rechnung, die Lafontaine verfrüht präsentiert hatte. Die Sozialdemokraten reden von Regierungswechsel.

      24. April 1991

      Wechselbalg-Waren. – Als Indikator für die Fäulnis der sowjetischen Gesellschaft berichtet Kerstin Holm (keine unverdächtige Zeugin), dass es auf einem Moskauer Markt kaputte Glühbirnen zu kaufen gibt, das Stück zu 1 Rubel, deren »Gebrauchswert« darin besteht, dass man sie am Arbeitsplatz in eine Lampe schraubt und die funktionierende mitgehen lässt.

      Der schlingernde und schwindende Gorbatschow hat wieder einmal einen Kompromiss schließen können: sein Antikrisenplan ist, mit Zugeständnissen versehen, von acht Republikchefs, darunter Jelzin, unterzeichnet worden. Noch immer beim Umstellen von der Befehlsadministration auf eher horizontale Vereinbarungen, die von beidseitigem Vorteil sind. Marx war zu schnell mit seinem Spott über Bentham. Gewiss fangen nun alle Probleme des Marktes wieder von vorne an, aber die Probleme der Despotie lauerten im blinden Fleck von Marx, dem Wie einer nicht marktförmigen großräumigen Vergesellschaftung der Produktion.

      Merkwürdigerweise stiegen zur Zeit des Anschlusses der DDR die deutschen Auslandsinvestitionen, während ausländische Investitionen in Deutschland sanken. An der DDR wurde verdient, aber (noch) nicht dort investiert. Die Vorbereitungen für den »gemeinsamen Markt« gingen vor. Ende 1989 waren es 185 Mrd DM Direktinvestitionen westdeutscher Unternehmen im Ausland, vor allem in Frankreich und Großbritannien. In Osteuropa 1/2 Mrd. Europäisches Kapital übertraf erstmals mit 45 Mrd DM das amerikanische (40 Mrd DM).

      In der FAZ schimpft Barbier auf die FDP, die, wohl als Reaktion auf den politischen Gegenwind, den Ausdruck »soziale Offenheit« in ihre Phraseologie aufgenommen hat: »Die Botschaft einer liberalen Partei müsste doch lauten: ›Nichts sichert das Soziale so sehr wie eine marktwirtschaftliche Politik.‹ Nur für diese Botschaft wird die FDP auf Dauer gebraucht.« – Ob »soziale Offenheit« ein Wink an die SPD ist, also die Koalitionsfrage mit dieser aufmacht?

      Kohl, der Sieger von 1989/90, sieht nicht mehr gut aus. Im Osten wirkt der kapitalistische Marktkult verheerend. In der FAZ dekretiert diese Ideologie heute: »Im Vergleich zu Westdeutschland werden in den neuen Bundesländern zu viele Menschen beschäftigt.« Sartres Zuvielsein kriegt Bedeutungszuwachs. Dabei wird mitgeteilt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der ehemaligen DDR vom ersten Quartal 89 bis Ende 90 um 1,7 Mio zurückgegangen ist. Könnte es sein, dass dieses »Verschwinden« von Arbeitsbevölkerung bereits aus den Arbeitslosenzahlen herausgerechnet ist? Der Durchschnittsbruttolohn lag Ende 90 bei 1357 DM oder bei knapp 37 Prozent des westdeutschen. Die Produktivität wird mit 28,5 Prozent der westdeutschen angegeben.

      *

      Gestern die Überarbeitung des Sartre-Buchs abgeschlossen. Nur das neue Vorwort steht noch aus. Es müsste gelingen, die Weise zu bestimmen, wie der Absurdismus in die geistige Situation nach dem Zusammenbruch des Sozialismus neu eingeschrieben ist. Wenn es keine Alternative (oder keinen Glauben an eine mögliche Alternative) mehr gibt, dann sind viele dagegen, ohne ändern zu wollen. Muss nicht das wie ein Generator des Absurden wirken?

      26. April 1991

      Gestern und heute mit Gerhard Scheumann einen Aufruf »Rettet die MEGA« besprochen und schließlich geschrieben. Scheumann, der als »Schnauze des Regimes« abgestempelt wird, deshalb letztes Jahr aus der PDS ausgetreten ist und auch das Kapitel Film in seinem Leben beendet hat, ein Musterbeispiel freigesetzter Kraft. Von ihm lerne ich, dass die DDR-spezifischen Anoraks, neben den Jeans die wahre Volkskleidung, »Frischhaltebeutel« genannt wurden.

      Unser Kultursenator Rohloff soll Wekwerth zum Rücktritt von der Intendanz des BE aufgefordert haben. Der aber widersetzt sich, schon weil er dann nicht einmal Arbeitslosengeld kriegen würde. Wekwerth inszeniert übrigens gerade den Schwejk. Bin neugierig darauf.

      Vor einigen Tagen habe ich gehört, dass Ehrenfried Galander, der einen Teil der ökonomischen Manuskripte im Rahmen der MEGA betreute, jetzt Gebrauchtwagenhändler ist. Es verschlägt mir die Sprache. Klaus Schulte, der mich heute besuchte, rechnet damit, dass die vorenthaltene machbare Verarbeitung von Geschichte und Zusammenbruch des Sozialismus durch seine bisherigen Träger »fürchterliche Spätfolgen haben wird, moralische Schäden größten Ausmaßes«.

      27. April 1991

      Im Septemberheft 1989 von »Sinn & Form« eine Rede Werner Mittenzweis auf Jürgen Kuczynski lesend, finde ich lauter Eigenschaften als notwendig gelobt, die mir abgehen: sich beim Schreiben von Büchern nie in Klausur begeben, Kritik richtig dosieren, sich nie ins Abseits drängen lassen.

      2. Mai 1991

      Vor der Vereinigung hat eine öffentliche Diskussion Biedenkopfs mit DDR-Intellektuellen stattgefunden, eingeleitet von Christa Wolf. »Sinn und Form« hat eine schriftliche Fassung abgedruckt, die sich rückblickend fast wie eine Anhörung liest, durch die Konsens für eine politische Kandidatur beschafft wird. Ich lese sie zur Vorbereitung eines Referats bei der PDS.

      Biedenkopf erklärt, »eine elementare Bedingung […] der Existenz menschlicher Gesellschaft, nämlich ihre Zukunftsfähigkeit, [ist] selbst zur Utopie geworden«, nachdem er im Satz zuvor die »Notwendigkeit utopischer Zielvorgabe« betont hat. Geben wir also, mag er sich sagen, den Leuten als »utopisches Ziel« ihr Überleben vor. Da ist die Utopie in sich selbst zurückgefesselt, vom Guten Leben aufs Leben schlechthin. Der Konsumismus wie eine Katastrophe, die man den Vielen doppelt vorhält: ihr Verlangen nach Gütern wird ihnen als Treibsatz der Katastrophe erklärt, und ihr Verlangen nach Mitbestimmung als das, was die Rettung blockiert. »Eine Hauptursache fand ich in der Schwierigkeit, unter demokratischen Bedingungen in bestehende Besitzstände einzugreifen.«

      Solche Diskurse sprechen zumal durch ihr Schweigen. Dieser verlangt stillschweigend undemokratische Bedingungen, um auf eine nachhaltigere Wirtschaftsweise umsteigen zu können. Dabei war es doch gerade eine Blockierung realer Demokratie, die in der Geschichte der BRD wie in anderen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften überschüssige Energien in den quantitativen Verteilungskampf umlenkte.

      Die enorme Dynamik entsteht aus der Überlagerung zweier Dynamiken: der des kapitalistischen, über den Weltmarkt vermittelten Mechanismus und der politischen der Konsensbeschaffung durch Klassenkompromisse, wobei bis 1989 der Kompromissdruck auf die Kapitalseite durch die Systemkonkurrenz verstärkt wurde.

      Das schwarze Loch in Biedenkopfs Diskurs ist der Kapitalismus, der gegenwärtig, auf hochtechnologischem Produktivkräfteniveau, die Organisationsform des transnationalen Kapitalismus angenommen hat. »Weltmarkt« hat unter diesen Bedingungen eine neue Stellung bekommen. Er ist nicht mehr nur gleichsam der Zwischenraum nationaler Volkswirtschaften, sondern diese sind zu bedrängten Nischen in ihm herabgesunken. In diesem Prozess hat u.a. auch die DDR ihre ökonomische Basis in Gestalt ihrer Akkumulationsfähigkeit verloren, lange vor dem Verlust ihrer staatlichen Existenz.

      Biedenkopf kennt nur mehr soziale Marktwirtschaft, deren staatlich vermittelten Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital er im Sinne der Sozialbindung des Eigentums als »normative Durchdringung des Ganzen« fasst. »Das unterscheidet die Marktwirtschaft vom Kapitalismus«. Sie beruhe darauf, »dass eine Koordination der gesellschaftlichen Subjekte untereinander im Rahmen bestimmter Spielregeln wesentlich leistungsfähiger ist als die Planung weniger für viele«.

      Wo Biedenkopf diese Leistungsfähigkeit konkretisiert, spricht er auf einmal doch von Kapitalismus, und sagt, in diesem würden »wie im Sozialismus« die Bedürfnisse als »grenzenlos« definiert, und im Ziel gebe es »zwischen den beiden Systemen keinen Unterschied«: »Die Steigerung selbst ist das Ziel.« In der Steigerung aber, der Akkumulation, erwies der Kapitalismus sich als leistungsfähiger.

      Das scheint im Resultat zu stimmen, und doch kann man die Erklärung so nicht stehen lassen, denn die »Akkumulation um der Akkumulation willen« (Marx) ist die systemische Bewegungsform des Kapitalismus; in jeder Spielart von Sozialismus würde sie als Widersinn wirken.