Название | Jahrhundertwende |
---|---|
Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Es heißt, Gorbatschows Politik sie in eine »Sackgasse« geraten. Vielleicht ist es umgekehrt, und er hat das objektiv Mögliche, wenn auch nicht das subjektiv Gewollte bewerkstelligt.
Für die FAZ war er schon lange der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat. Von der für heute ursprünglich vorgesehenen, vom Putsch blockierten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags argwöhnt Reißmüller, »die Nationalitätenpolitik, das Verhältnis zwischen Zentralstaat und Unionsrepubliken, die Wirklichkeit der Sowjetföderation, das alles solle wieder so werden, wie es unter Breschnew war«. Doch Gorbatschows »reformerische Nationalitätenpolitik hat die Völker ermutigt, nach jahrzehntelanger erzwungener Stummheit ihre natürlichen Rechte geltend zu machen«. – Was für Euphemismen! Die »vielfältige Wirklichkeit nationalen Bewusstseins und Willens im Reich« ein Faktor, in den die FAZ gewissermaßen gewohnheitsmäßig investiert.
Scheitern eines zivilisatorischen und zivilgesellschaftlichen Projekts. Ein viel größeres Drama, als es zunächst schien. Ich versuchte, an meiner Sicht festzuhalten, die ein sozialistisches Subjekt voraussetzte, ohne mir darüber klar zu werden, wer dies sein könnte.
Gorbatschow zu beseitigen und Jelzin zu lassen, hätte keinen Sinn. Der neue russische Parlamentarismus muss das Ziel sein. Das Parlament von Panzern umstellt. Massenmedien unter Zensur. Ruhe und Ordnung des Polizeistaats. Was der Staat schon immer konnte: Notstandsstaat mit Ausnahmezustand. Restauration von Befehlsverwaltung.
Was ist das Programm der Putschisten? (Engholm: »man muss auch auf die Vernunft von Staatsstreichern setzen können«.) Markt ohne Demokratie? Woher sollen Konsens und Autorität kommen? Notstandsmaßnahmen zur Versorgung. Paradoxe Chance tatsächlicher Besserung vom gegenwärtigen Tiefpunkt aus auf ein Niveau, weit unterhalb des breschnewschen. ›Historisch‹ zum Scheitern verurteilt. Voluntarismus der Unfähigen.
Man muss sich immer wieder neu darüber verständigen, was das Rationale der Perestrojka sein konnte. Nicht das subjektive, sondern das historisch mögliche Worumwillen.
Es sind nicht die Gegner, die »schuld« sind, dass da etwas verloren wurde. Die Auszehrung kam von innen, als historische Unproduktivität.
21. August 1991
Während sich die Armee in Moskau bisher zurückhält, nimmt sie in den baltischen Staaten eine systematische Besetzung vor. Noch in der Nacht hat das Parlament Estlands den Austritt aus der Union erklärt.
Dass Schewardnadse auf der Moskauer Kundgebung zum Kampf gegen die Junta aufrief, zeigt mehr als alles andere den definitiven Bruch der bisherigen Balance, die G verkörperte. Point of no return: Umschlag im Aggregatzustand der politischen Kräfte. Sie werden nun alle vor die Entscheidung im latenten Bürgerkrieg gestellt. Das macht ihre Qualifikation für die Zukunft aus. Die Vergangenheit endet; eine neue Zeit beginnt. Man riskiert den Tod für seine künftige Identität, die nicht mehr die einfache Verlängerung der bisherigen ist.
Eine Ausflucht: Die Krankheiten greifen um sich. Pawlow, der Regierungschef, ist erkrankt und durch seinen Vize ausgetauscht worden; auch Besmertnich, der Außenminister, hat sich für zwei Tage krank gemeldet, wie es, merkwürdig, in den Nachrichten hieß. Sie warten ab, wer gewinnt.
Lange ging es immer weiter wie bisher, und immer sagte man sich, es kann nicht mehr so weitergehen. Heiner Müller: »Gorbatschows Sturz ist natürlich bedauerlich, aber er war leider vorauszusehen. Er hat sich zu lange zwischen Skylla und Charybdis bewegt, ohne sich wirklich entscheiden zu können. Es gab auch nur schwierige Alternativen.« Hier vertut sich Müller in den Mythen. Wer sich zwischen Skylla und Charybdis befindet, muss den Versuchungen sowohl der unmittelbaren Gewalt- als auch der Gefallenslösungen widerstehen, statt sich zwischen ihnen zu entscheiden. Eigentlich ist es genau das, was G getan hat, den Weg zwischen Skylla und Charybdis zu steuern.
*
Ich soll auf einer Kundgebung der PDS vor der sowjetischen Botschaft sprechen. Biete stattdessen einen Artikel fürs ND an.
21. August 1991 (2)
Tränen bei der Nachricht vom Scheitern des Staatsstreichs und der Rückkehr Gorbatschows. Und das, wie eine symbolische Revanche, am Jahrestag des Einmarschs in Prag 1968. »Freude« zu sagen, wäre untertrieben. Der artesische Brunnen des Gemeinwesens, Emotionen, die unter großem Druck eingeschlossen und normalerweise von der Oberfläche verbannt sind.
Die vielen Nachrufe auf G von gestern sind – von gestern.
Andrej Gurkow von Moscow News, der gestern sich um die Chance der Rückkehr in die Sowjetunion geredet zu haben schien, sprach aus, was auch mir durch den Kopf gegangen war: endlich haben die Moskauer, die Russen, hat das Volk einen Erfolg erlebt, nachdem seit langem alles immer nur das depressive Gefühl der Misere vermittelt hatte; dieses Erfolgserlebnis wird neue Energien freisetzen.
Otto Lazis, blass, mit depressiv hängenden Gesichtszügen, erklärte mit ausdrucksloser Stimme die KPdSU für »nicht mehr existent«. Seine Argumente: Die Partei wurde nicht konsultiert vor dem Putsch, war also nicht aktiv involviert, schwieg dann fast zwei Tage, bis endlich heute Iwaschko forderte, mit Gorbatschow zusammenzutreffen. Dieser war der Mann des Kompromisses, sagt auch Lazis, und die Zeit der Kompromisse ist vorbei.
Der Staatsstreich ist gescheitert, weil, wie es heißt, von drei Divisionen zwei »zu Jelzin« übergelaufen seien. Ausgerechnet jener General Makaschow, dessen Allüren des Starken Mannes schon vor dem Parteitag Putschgerüchte genährt hatten, stellte sich »als Russe« zu Jelzin.
Meinen Freitag-Artikel übers Telefon im Züricher Alternativradio »LoRa« verlesen. Obwohl gestern geschrieben, war er ganz heutig.
22. August 1991
Die FAZ liest sich den Umsturz des Umsturzes in Moskau so zurecht: »Der Kommunismus ist besiegt«; »Das Volk […] stand auf«; »der Held von Moskau«, Boris Jelzin, hat jetzt »freie Bahn, mit den reformerischen Halbherzigkeiten, welche die Politik des sonst so verdienstvollen Gorbatschows kennzeichneten, Schluss zu machen« – offenbar durch Erzeugung einer Privatwirtschaft von Unternehmern und Besitzern. »Denn dies zeichnet sich bei allen Reformversuchen in Osteuropa immer deutlicher ab: Je größer die Restposten sind, die vom Realsozialismus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mitgeschleppt werden, desto schlechter werden die Chancen eines raschen Wiederaufbaus« usw. (Fack im Leitartikel). Kreuzzug, x-te Folge: Sozialzersetzung (staatlich erzwungene Privatisierung). Versprechen: dann kommt das Wirtschaftswunder, dann wendet die unsichtbare Hand des Marktes rasch alles zum Guten. Derweil vertrustet sich der transnationale Kapitalismus weiter. Das blitzkriegartige Plattmachen der DDR-Wirtschaft wäre nur das Vorspiel. Nichts Eigenständiges käme hoch gegen die übermächtige Konkurrenz. Nur dass im weiten Russland riesige Gebiete verdumpfen würden. Und während in der winzigen DDR die bisherigen »Genossen« die Chance haben, entweder in Sozialrentner verwandelt zu werden oder in ganz normale Lohnarbeitende, deren Chefs zwar aus dem Westen kommen, aber zumeist Deutsche sind wie sie, also auch all dem unterworfen, was das Parlament an Sozialstaatlichem aushandeln mag, gibt es im Osten Europas, von den asiatischen Teilen der SU ganz zu schweigen, nichts davon. Die Rosinen aus jedem Kuchen werden vom Auslandskapital übernommen. Die ökonomische Gewalt, nunmehr dominanter Gewalttypus, kann nichts anderes sein als die der ökonomisch Gewaltigen: das sind heutzutage global planende komplexe Riesenapparate, Staaten nicht mehr im Staat, sondern quer zu den Nationalstaaten, eben transnationale Durchdringungen. Ihre Macht in einem Land ist desto größer, je geringer dessen politische Artikulationsmacht ist. Länder, die beides vereinen: strategische Knotenpunkte des transnationalen Kapitals und nationale Politikfähigkeit, die also den transnationalen Interessen einen »nationalen« Charakter aufzuprägen vermögen, bilden die Zentren dieser Weltordnung. In ihnen bildet sich eine strategische Allianz von Marktinteressen und national-demokratischen Interessen. Die machtgeschützte ›Naivität‹ ihrer Vertreter, ihre ignorante Selbstgerechtigkeit, ist eine wesentliche Bedingung ihrer imperialen Expansion. Indem sie den schwächeren Nationen oder Ländern ihr politisches System nahebringen, entfernen sie diese von der ökonomischen Fortüne,