Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Brigitte Hering erzählte, beim ND sei es erst richtig schlimm geworden, nachdem Günter Schabowski den Usus eingeführt hatte, alle Artikel vorher bei Günter Mittag einzureichen. Sie meint, Kurt Hager sei entmachtet gewesen. Aber Neubert sagt, Hermann Axen habe bis zuletzt Angst vor Hager gehabt. Axen, fett und klein von Statur, war nicht dumm, aber feige.
Jürgen Kuczynski soll eine schlimme Rolle gespielt haben, als die Kybernetik entlarvt und die sich abzeichnende wissenschaftlich-technische Revolution geleugnet wurde. Er soll Ulbricht und später Honecker mit Zahlen beruhigt haben, von einer technologischen Revolution könne noch lange überhaupt keine Rede sein. Obwohl ich den alten ›Kutsch‹ mag, kann ich mir das vorstellen. Erinnere mich, wie FH in ihren ersten Auseinandersetzungen als Automationsforscherin auch auf Kuczynskis Leugnung der Möglichkeit von Automation im faulenden Kapitalismus stieß – und zwar stieß wie gegen eine Rezeptions-Barriere, denn die westlichen Nachplapperer der DDR machten sich derlei sogleich zu eigen und entlarvten alles, was dem widersprach.
Wie aus einem Königsdrama, wenngleich aus der Materie kleiner Leute: Als Honecker seinen Glückstraum erlebte, jenen Fackelzug der Zehntausende, die winkenden Jugendlichen, die am 40. Jahrestag der Republik an ihm vorbeizogen, da erlebte er den Vorabend seines Sturzes. Der Triumph ging mit dem Untergang schwanger. Kann für jeden gelten, mutatis mutandis.
26. März 1991
Traf mich mit Jens-Uwe Heuer, Jahrgang 1927, Akademiemitglied, Jurist, jetzt Bundestagsabgeordneter der PDS. Wie in alten Zeiten war das Treffen am Ausgang des Bahnhofs Friedrichstraße verabredet worden. Heuer hat ein vorzügliches Buch über Demokratie geschrieben, das Ende 1989, also nach dem (bzw. mitten im) Umbruch, herausgekommen ist. Das Vorwort datiert vom Mai 89, und das Buch hatte seit 87 fertig beim Verlag gelegen. Es dokumentiert, dass in der Schlussphase der DDR ein ganz neuer Theorietyp herangereift war, der nach Übergang in die Praxis verlangte. Heuer ist ein Wissenschaftler, den es in die Politik verschlagen hat. Er arbeitet mit einem Kollegen an einem Buch über die letzte (freigewählte) Volkskammer. Er zeigt, wie strategisch verhindert worden ist, dass sich die DDR vor dem Anschluss noch als Rechtsstaat rekonstruieren konnte. Sie musste unterhalb der Ebene juristischer Normalität bleiben, um als Konkursmasse behandelt werden zu können. Aufgrund veralteter Unterlagen mache ich einen peinlichen Fehler: gewinne Heuer für den Wörterbuchartikel »Demokratie«, erst später merkend, dass dieser nicht nur vergeben, sondern sogar schon geschrieben ist.
Die Krise zwingt die Regierung zu einem Strategiewechsel, ja sogar teilweise zu einem ideologischen Paradigmenwechsel. Dies ist der Moment der Opposition.
27. März 1991
Michael Zöller (Professor für politische Soziologie und Erwachsenenbildung an der Universität Bayreuth) kriegt in der FAZ eine Seite, um Krieg als Mittel der Politik zu rechtfertigen, ja selbst perspektivisch eine Politik ohne Krieg zur schlechten Utopie zu erklären. Da wird der Sieg im Golfkrieg verarbeitet. Dass Saddam Öl in den Golf hat pumpen lassen, wird den westlichen Kriegsgegnern und Umweltschützern angelastet. Eine bemerkenswerte Tui-Leistung. Im Westen war gefordert worden, zu verhandeln, um Umweltschäden abzuwenden. »Das Umweltmotiv konnte sich im Westen politisch auswirken und brachte deshalb eine propagandistisch einfallsreiche Phantasie auf die Idee, Öl in den Golf zu pumpen. […] So zeigt das Lehrbeispiel, dass die Forderung nach Gewaltverzicht nicht nur das Ziel verfehlt hat, ein höheres Gut, nämlich die Unversehrtheit der Umwelt zu schützen, sondern die bewusste Schädigung der Umwelt erst attraktiv gemacht hat.« – Die Kritik am Videospiel-Charakter der Kriegsberichterstattung des Fernsehens dreht Zöller mit einem anderen Tui-Trick um: Wer die Zurschaustellung der Vernichtungsschläge kritisiere, ästhetisiere den Krieg und klage dessen »Ernsthaftigkeit« ein. In Wahrheit hätten die neuen gezielt einsetzbaren Waffen eine »Humanisierung des Krieges« bewirkt. Damit rehabilitiert Zöller ein altes konservatives Axiom, wonach »Politik und Gewalt oder auch Krieg und Frieden nicht voneinander getrennt werden können, sondern nur verschiedene Aggregatzustände sozialer Beziehungen sind«.
Auf der Leserbriefseite spricht dagegen Herbert Vonach, Professor am Institut für Kernphysik in Wien, von den »Kriegsverbrechen« der USA, deren blindwütige Bombardierung der Städte, vor allem in der letzten Phase, bei Hinauszögern des Waffenstillstands, er mit der Zerstörung Dresdens vergleicht.
29. März 1991, Karfreitag
Einheitseffekte. – Was Westdeutschland gewinnt, verliert Ostdeutschland. Kurz, Westdeutschland gewinnt.
Der Dollar weiter nach oben. Fasziniert betrachtete Arnold Schölzel am Mittwoch immer wieder die Überschrift des FAZ-Börsenberichts: »Montagsdemos treiben den Dollar hoch«. Dass die Art der Wiedervereinigung die Ostdeutschen als die Dummen dastehen lässt, hat die internationale Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik erhöht.
Arbeitslosigkeit. – Die französische Ökonomie führt eine für die Epoche typische Bewegung vor: Die Wirtschaft wächst 1,5 Prozent weniger als die Produktivität. Das drückt sich in steigender Arbeitslosigkeit aus (derzeit 9,2 Prozent der aktiven Bevölkerung). Große Unternehmen, darunter der Rüstungs- und der Autobranche, haben Massenentlassungen angekündigt. Heute früh habe ich im Radio gehört, dass IBM vier Prozent seiner Beschäftigten (15 000) entlässt.
Sowjetunion. – Die Unionsregierung belagert von einer Hauptstadtbevölkerung, die gegen sie ist. Gorbatschow hat nicht verloren, aber er hat seit langem die Initiative und fast allen Konsens verloren, mehr noch unterhalb des Konsenses die Tiefendimension des Glaubens an eine Zukunft. Noch unklar, wohin die Preisreform führt. Die Schwarzmarktpreise noch immer das Zehnfache der (hochgesetzten) regulären Preise. Laut FAZ wird der Privatsektor beeinträchtigt durch die Preiserhöhungen, weil er die Löhne anpassen müsse. Heißt das, er hat bisher schon zu Schwarzmarktpreisen produziert?
30. März 1991
Im Radio wird Schewardnadses warnende Empfehlung berichtet, »die beiden sowjetischen Führer« müssten sich arrangieren, weil es sonst keinen Weg gebe. Von wegen Zivilgesellschaft! Da sind zwei Führer wie Naturtatsachen, um sie herum muss das Land sich bauen. Zufällig übersetze ich gerade § 75 aus dem zweiten der Gefängnishefte. Einen Artikel Robert Michels’ lesend, der sich auf Max Weber stützt, beschäftigt sich Gramsci dort mit charismatischen Führern und jenem Typ von Parteiung, der um sie herum aufgebaut wird. Nach Gramscis Einsicht »fällt das sogenannte ›Charisma‹ im Sinne von Michels in der modernen Welt immer mit einer primitiven Phase der Massenparteien zusammen, mit der Phase, in der die Doktrin sich den Massen als etwas Nebulöses und Inkohärentes darstellt«. Gramsci schreibt das Nebulöse mit Blick auf die faschistische Partei der Tatsache zu, dass hier eine absterbende Klasse sich mit vergangenem Ruhm bewusstlos gegen die Zukunft abschirmen will. Gorbatschow führt die rationale Programmpartei, Jelzin verschafft jenem glühenden Nebel Ausdruck, der den Bürgerkrieg birgt. Launisch, wechselnd, intensiv und unklar folgt er dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Unzufriedenheit, um deren desartikulierenden Strahl just immer dorthin zu bündeln, wo Gorbatschow an der Rahmenkonstruktion der Zivilgesellschaft und eines ihr dienenden Staates arbeitet.
In der Wochenendbeilage der FAZ ein hintergründiger Erlebnisbericht von Sonja Margolina über eine riesige Demonstration gegen Gorbatschow und für Jelzin. Sonderbare Perspektive, die den Phänomenen mit einem Ja begegnet, in dem sie sich fangen und verlieren wie in einer Falle. Und sonderbare Kategorien. So die des Ästhetischen: »Gorbatschow […] hat die Ästhetik des letzten Schritts der Rettung des Imperiums und dem Machterhalt geopfert, nun verliert er wohl beides.« Die Demonstration schildert die Margolina als einen Karneval, den vor allem die 50 bis 55-Jährigen betreiben und dem vor dem orgiastischen Höhepunkt die Luft ausgeht. Sie schildert sie als zum Absterben verurteilte Klasse, die bewusstlos am eigenen Untergang arbeitet: »Die Menschen sind überwiegend gut gekleidet: in Pelz, Lamm-Mänteln und schicken Mützen. Es sind keineswegs arme Leute, die ungeachtet der Wirtschaftskrise über ihre Verhältnisse leben. Sie sagen ›nein‹, aber ahnen nicht, was auf sie zukommt. Sie haben das Wort ›Abwicklung‹ noch nicht gehört und können sich kaum vorstellen, dass ihre tollen Pelze vielleicht die letzte