Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
6. Juni 1991
Gefühlsfelder, tief unter der Erdkruste, unter einem Druck, der sich, wenn sie plötzlich zufällig angebohrt werden, mit artesischen Effekten geltend macht. So das verlorene Kind, von dem du nicht weißt, bist du es oder wolltest du es finden.
11. Juni 1991
Die Siegesparaden in den USA, die größten seit Ende des Zweiten Weltkriegs, haben etwas Altrömisches. Vor allem machen sie den UNOAuftrag und die Zielsetzungen zur Farce. Überdies der »Sieg« doppelt lächerlich, einerseits wegen des hochtechnologischen »Truthahnschießens«, andrerseits wegen der Multiplikation der Probleme, die er hinterlassen hat. Zum Beispiel fällt in diesen Tagen das weltliche Algerien in die Hände des islamischen Fundamentalismus. Wird nicht Marokko folgen? Tunesien? Sowieso Jordanien?
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Auf der Fahrt zu den Bries hielten wir vor dem Haus in Hirschgarten, wo einst Friggas Großvater gewohnt und sie selbst viele Wochenenden verbracht hat. Das Haus verwahrlost, aber der Ginko lebte noch und schlug grade aus. Pathetisch das alte durchgerostete Gartentor zum Müggelseedamm, das von innen vom Flieder vollkommen zugewachsen ist und gehalten wird. Mit einer Art von Scheu betrachten wir den rostigen Klingelknopf und das Schild mit dem Namen »Kassler«.
Michael Bries Vater war Botschafter in Japan, kannte daher Wolfram Adolphi, den langjährigen Japankorrespondenten der DDR und jetzigen Berliner PDS-Vorsitzenden, der kürzlich seine Mitarbeit bei der Stasi bekannt hat.
13. Juni 1991
Die Askoldows zurück aus Moskau. Swetlana erzählt, sie hätten drei Wochen auf eine Platzkarte für die Eisenbahn warten müssen, und Eisenbahn musste es sein wegen der vielen Bücher, die diesmal mitzunehmen waren (sie richten sich anscheinend hier zur Arbeit ein). Der Zug überfüllt, viele wirkten auf sie wie Kriminelle. Ihr gesamter Wagen wurde vom sowjetischen Zoll übergangen. Die Schaffnerin, von ihr nach den Gründen befragt, meinte, jemand aus ihrem Wagen habe den Zoll »gekauft«.
19. Juni 1991
Dieter Senghaas (»Es gibt eine große Unbekannte: Die Sowjetunion«, FR) beschreibt den Effekt der Perestrojka als »Osmanisierung« der SU, Einleitung einer vielleicht langen Siechphase, weil weder in Politik, noch in Ökonomie ein wirklicher Schnitt vollzogen worden sei. Er sieht die Lösung in der Auflösung. Jetzt herrsche »Anomie«, das heißt »eine tendenzielle Chaotisierung der Lebensverhältnisse, eine gesamtgesellschaftliche Regression«.
23. Juni 1991
Dass Berlin wieder Hauptstadt werden soll, lässt uns einerseits kalt, andrerseits schwant uns, dass das zum Teufelspakt für die Stadt werden könnte.
25. Juni 1991
Merkwürdige Wirtschaftsnachrichten: Die FAZ spricht von einer »Gründerwelle in der Bundesrepublik«, worunter sie versteht, dass 230 500 Geburten »nur« 162 000 Todesfälle von Unternehmen gegenüberstehen. Aus dem DDR-Gebiet aber meldet sie 40 000 (Aus-)Löschungen gegenüber 169 000 Gründungen, die wiederum rund 100 000 Arbeitsplätze brächten oder 1,69 Arbeitsplätze pro neugegründeter Firma. Falls da nicht ein gewaltiger Druckfehler vorliegt, kann die Misere im Osten als aufgeklärt betrachtet werden.
28. Juni 1991
In »Sinn und Form« ein erstaunliches Gespräch zwischen dem Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt und Hans-Georg Gadamer. Kleinschmidt war zu diesem als der Personifikation von Hermeneutik gepilgert. Gadamer begegnet ihm wahrhaft grandseigneural, fast ›liberal‹ in seiner gegnerlosen Gelassenheit. Schön, wie die Rolle des Calvados in diesem Gespräch wie ein Refrain vorkommt, nicht ohne Platon als Kronzeugen einzuführen. In den ›Wonnen der Vergeblichkeit‹ findet dann die Wiedervereinigung zwischen den Gesprächspartnern, einschließlich Marion Kleinschmidts, statt. Gadamer erscheint ›links‹ von den gewendeten Ossis: So viel ist ihm »doch klar, dass irgendetwas sehr falsch sein muss in unserem gesellschaftlichen Tun, wenn junge Menschen nur von der Vergeblichkeit überzeugt sind«. Er setzt auf die Angst, die er als den Affekt der Freiheit begreift und von der er erwartet, dass sie »die Funktion« hat, »dass wir im Laufe von hundert oder zweihundert Jahren […] so etwas wie eine Selbstkontrolle dieser aus den Fugen geratenen Natur, die man Mensch nennt, aufbauen«. Maliziös sein spitzes Diktum: »Habermas sagt immer, er kenne die Wirklichkeit nicht, und ich sage immer, Habermas kennt die Wirklichkeit nicht. Wir sind uns völlig einig in dieser Uneinigkeit. Manchmal denke ich, […] er weiß gar nicht, wie ideologisch er ist.«
29. Juni 1991
Zwischen Atemlosigkeit und langem Marsch der Philologie bei der Übersetzung von Gramscis Gefängnisheften. So vieles zu besorgen. Vor allem der Aufruf zur Rettung der MEGA hat viel Zeit gekostet.
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Gestern Abend mit Otto Zonschitz in der Voraufführung des Schwejk, eingeladen von Wekwerth, der Regie geführt hat. Das Stück von Brecht, mitsamt zwei eingebauten Passagen aus den Flüchtlingsgesprächen, ist hervorragend. Die Inszenierung lag glücklos darüber. Fand (suchte?) keinen Ansatzpunkt in der Gegenwart. Wekwerth im Verhalten und Reden ungenau, hatte vielleicht getrunken. Das stand im Widerspruch zu seinem »genauen« Aussehen. Äußerte sich zu meinem Entsetzen begeistert über Nicolai Hartmann. Er hat offenbar eine Zeitlang bei Harich studiert.
Traf Lothar Scharsich wieder, der das Bühnenbild gemacht hat: »Zum Kelch« als eine Art Kellerlokal über zwei Stockwerke, Eingang im dritten Stock, die Treppen ein zentraler Handlungsraum, das Ganze nur ein ziemlich schmaler vertikaler Ausschnitt aus der Bühne. In der Kantine lernte ich Scharsichs Frau kennen, die schriftstellerisch arbeitet, und den sechsjährigen Max, einen gelockten Amor.
Aus Japan schreibt Toshiaki Kobayashi, auch dort sei nun »die Autorität des Marxismus zusammengebrochen. Das gilt nicht nur für die alten Linken, sondern für die neuen.« Er schreibt übrigens »Autolität«. Als er mich im März 1990 besuchte, erzählte ich ihm, dass die Koreaner, mit denen ich es in Pyongyang zu tun gehabt hatte, den Namen Luise Rinser als »Ruise Linsel« aussprachen.
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Institutionalisierte Restauration. – Die FAZ definiert die »Treuhand« als »diejenige Einrichtung, die wegen der friedlichen, das heißt, eigentlich ausgebliebenen Revolution in der einstigen DDR den ›amtlichen‹ Versuch macht, einen wesentlichen Teil der von den Kommunisten nach dem Krieg durchgesetzten Ordnung in Ostdeutschland rückgängig zu machen«.
5. Juli 1991
Die deutschen Kapitalexporte sind 1990 im Vergleich zu 1989 um fast die Hälfte gestiegen (40 Prozent Zuwachs) auf knapp 30 Mrd DM. Runde Dreiviertel gingen in die EG: GB 5,5, Benelux 6,6, Irland 3,3, Frankreich 1,86, Spanien 1,58. In die USA gingen 3,6. Es handelt sich darum, Positionen im »Gemeinsamen Markt« zu besetzen. Offenbar sagen sich die Unternehmer, die DDR ist eingesackt, kann also warten. Erstaunlich die Liste der Kapitalimporteure: Schweden 0,953, Japan 0,898, Italien 0,741. Erstaunlich daran, wie wenig und dass Schweden die Liste anführt.
14. Juli 1991
Gestern Abend im Gorki-Theater Steffen Menschings und Hans-Eckardt Wenzels Programm »Die Meisenwürger vom Friedrichshain«, dessen Titelsong im nächsten Argument erscheint. Die Situation einer einstmals oppositionellen DDR-Szene ins Atmosphärische verschoben bearbeitet. Die ästhetisch-traumhafte Verschiebung bringt es mit sich, dass die ›Bearbeitung‹ die Situationsempfindungen in der Schwebe, also auch wiederum unbearbeitet lässt. Sehr eindrückliche kulturelle Spezifik. Das Publikum fast nur aus dem Osten, eine Fan-Gemeinde im Wechsel von Atemlosigkeit