Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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mit auf dem Spiel stehen. Eine fast ekstatische Wiedergewinnung von Zukunft nach der nostalgischen Zukunftslosigkeit vom vergangenen Oktober schildert Kathrin in Gestalt einer Parisreise zu Sylvester: »Ich habe mich (obwohl ich kein Französisch kann) sofort heimisch gefühlt. Als ich im Musée d’Orsay vor ›meinem‹ Cézanne und vor ›meinem‹ van Gogh, nun allerdings vor den Originalen, stand und als ich ›meine‹ Montmartretreppen runter- und wieder raufstieg, wusste ich nicht, ob ich schwebte oder fiel und fiel. Ich hab’ getanzt, gelacht und geheult zugleich. Zum ersten Mal habe ich gefühlt, dass MIR nun die Welt offensteht. Es war wie eine Befreiung.«

      Die Rezension meines »Perestrojka-Journals« im ND hat K. übrigens so verstanden, dass das Buch »jetzt auch hier erscheint«. Da spricht noch die alte DDR.

      18. März 1991

      Bei einer Tagung des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft sagte der Vorstandsvorsitzende der Asia Brown Boveri, Eberhard von Koerber, es sei wichtiger, »Arbeitsplätze zu erhalten, als im Eiltempo in Ostdeutschland eine lupenreine Marktwirtschaft einzuführen«. Er scheint an befristete Schutzzölle zu denken. Anlass des Treffens war der »Zusammenbruch« der Ostmärkte.

      Auf dem Binnenmarkt selbst bei Fahrrädern die übliche Verlagerung von Produktion (und Arbeitsplätzen) von Ost- nach Westdeutschland: in der DDR 300 000 Räder weniger, in der BRD 300 000 mehr, dazu ging die gesamte Produktionssteigerung von 100 000 Rädern an den Westen, wo also unterm Strich ein Zuwachs von 400 000 herausgekommen ist.

      19. März 1991

      In der SU zeichnet sich eine Zweidrittelmehrheit für den neuen Unionsvertrag ab. In »Sowjetunion heute« lese ich einen Hinweis darauf, dass die Einheit der USA Ergebnis eines Bürgerkriegs war.

      Karl Otto Pöhl (Bundesbank) hat die Währungsunion vor einem EGGremium heute als katastrophal eingeschätzt. Die BBC berichtete es voller Genugtuung. Ebenso, dass in Leipzig gestern eine Montagsdemo gegen die Ruinierung der vormaligen DDR-Wirtschaft stattgefunden hat. Die ARD-Nachrichten enthielten uns beides vor. Immerhin bekam man etwas mit von einer Demonstration in Leuna, wo der IG Chemie-Vorsitzende »Rechtsideologen« bezichtigte, auf Kosten der Arbeitsplätze den Übergang zur Marktwirtschaft »übers Knie zu brechen«.

      In den USA ist der Energie-Erzeugerpreis im Februar (also während des Ölkriegs) um 0,1 Prozent zurückgegangen. Jetzt steigt und steigt der Dollarkurs. Scheint mir logisch, weil die Kriegskontributionen, die kuweitischen Lohnaufträge an die US-Armee und Saudi-Arabiens Waffenkäufe die Dollarnachfrage um rund hundert Milliarden in die Höhe getrieben haben müssen.

      Morgen soll Band 1 unserer Gramsci-Ausgabe ausgeliefert werden, und gestern realisierte ich, dass der Vertrag, den Georg Stenzaly mir geschickt hat, keine Unterschriften trägt. Im Brief versucht er, diesen Tatbestand bauernschlau zu verstecken, liefert aber zugleich andeutungsweise die Gedanken, die in seinem Kopf vorgegangen sind: Gramsci schon 50 Jahre tot, also die Rechte frei verfügbar.

      Rundbrief. – Liebe Freundinnen und Freunde, seit Monaten (oder sind es Jahre?) fange ich die meisten Briefe (falls ich zum Schreiben komme) mit einer Entschuldigung an. Als Ein-Person-Betrieb (auch an der FU), der neben Lehre und Forschung auch noch einige Projekte mit-betreibt (Gramsci, die Volksuniversität, Philosophie im deutschen Faschismus, dazu ein Kooperationsprojekt mit der IG Metall und ein »Antiken-Projekt«), bricht mein Zeithaushalt spätestens immer dann zusammen, wenn ich mich in Schreibklausur begebe, um ein Buch fertigzustellen. Dann bleiben Briefe monatelang liegen, die freundlichsten Einladungen unbeantwortet. Übrigens geht es Frigga, zu deren Projekten die Frauenkrimireihe hinzugekommen ist, nicht anders; wie in meinem Zimmer gibt es auch im ihrigen drückende Schichten aus unbeantworteter Korrespondenz. Eigentlich bräuchten wir ein »Privatsekretariat«, wenn dieser Schuldenberg nicht immer weiter anwachsen soll. Aber das ist Zukunftsmusik. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass wir uns bei denen, die wir versetzt haben, entschuldigen. Es gibt mildernde Umstände:

      In den letzten drei Jahren bin ich in eine atemlose Produktionsdynamik gerissen worden. Es fing mit der Studie über die Perestrojka an (1987–89), die, kaum veröffentlicht, schon von der Krise der Perestrojka überholt schien. So begann ich im Juni 1989 das »Perestrojka-Journal«, wodurch der Zusammenbruch der DDR mich schließlich unvermutet in dessen Chronisten verwandelt hat, der, obwohl von der dort herrschenden Ideologie negiert, selber keineswegs alles an der DDR negiert hatte und nun sein Denken und alle bisherigen Überzeugungen seines Milieus radikal in Frage stellen lassen musste. Parallel zu diesem politischen Tagebuch erschienen die »Wahrnehmungs-Versuche«. Im Sommer 1990 ließ ich mich sogar verführen, als Pressekorrespondent zum 28. Parteikongress der KPdSU zu fahren.

      Wenn die Verhältnisse plötzlich in Bewegung geraten, wenn nach langen und langsamen tektonischen Verschiebungen das große Erdbeben geschieht, dann ist es unmöglich, geruhsam und schonlich zu handeln. Es herrscht ein Ausnahmezustand, der die Lebensweise verändert. So ging es uns 1989/90. Jetzt ist, um ein anderes Bild zu nehmen, die Lawine ins Tal gerauscht; auch wenn Trümmer umherliegen und neue Not wächst, ist doch die relative Ruhe einer gewöhnlicheren Gangart wieder eingekehrt.

      Ende 1989/Anfang 1990 habe ich zusammen mit dem Leipziger Romanisten Klaus Bochmann und dem Ostberliner Übersetzer Joachim Meinert, dazu aus Westberlin mit Pit Jehle und Leonie Schröder, eine neue Arbeit angefangen: die kritische Gesamtausgabe von Gramscis Gefängnisheften ins Deutsche zu übersetzen. Dieser Tage erscheint der erste Band, im Herbst der zweite. Einschließlich eines Registerbandes werden es zehn Bände, und wir werden, falls wir sehr gut arbeiten, Ende 1995 damit fertig sein. Die Übersetzergruppe, zu der Ruedi Graf und Gerhard Kuck gestoßen sind, veranstaltet Intensivseminare, wo Probleme besprochen und die Standards und Kriterien vereinheitlicht werden. Jede Übersetzung wird gegenlektoriert, dann wird der Gesamttext vom Bandherausgeber ein drittes Mal durchgearbeitet und schließlich von der Gruppe noch einmal von vorne bis hinten Korrektur gelesen. Ihr seht, wir sparen keine Mühe. Natürlich wollen wir eine möglichst eng am Original sich haltende Übersetzung machen, die keine Unebenheit ausbügelt.

      Nachdem ich seit 1988, wegen der Arbeit an dem Gorbatschow-Buch, unser anderes Großprojekt, das Neue Wörterbuch des Marxismus, etwas stiefmütterlich behandelt hatte, nicht nur wegen der Zeitökonomie, sondern auch wegen der stürmischen Veränderung der Verhältnisse im »Weltmarxismus«, wende ich diesem Projekt nun wieder einen erheblichen Teil meiner Arbeitskraft zu. Ich nutze dafür mein Forschungssemester. Wer sich an die Gründungsbedingungen des Projekts erinnert – Boykott durch DKP, DDR, ML, das Ausweichen ins Internationale etc. –, der wird verstehen, dass dieses Projekt nach dem Zusammenbruch der DDR umzubauen war. Nicht nur müssen die neuen Erfahrungen verarbeitet werden, nicht nur hat sich unsere Perspektive geändert, nachdem eine ganze Formation historisch geworden ist, sondern auch das marxistische theoretische »Personal« hat sich verändert. Das lässt sich an der Wörterbuchredaktion ablesen, zu der inzwischen drei Redakteure aus der vormaligen DDR gestoßen sind. Dem Projekt sind zusätzliche Aufgaben zugewachsen, an wissenschaftlicher Kommunikation und Erneuerung in der marxistischen »scientific community« mitzuwirken. Das Projekt wird uns zweifellos bis zum Jahr 2000 beschäftigen, aber wir sind entschlossen, den ersten Band (A bis G) tatsächlich zum Jahresende 1991 zu schaffen. Manche Autoren haben Mühe, an solche Versicherungen zu glauben, weil wir ähnliches schon vor dem großen Umbruch im Osten gesagt hatten. Ich hoffe, sie werden meine Ernsthaftigkeit an den inzwischen vorgelegten Arbeiten ablesen und die Chance begreifen, die der Aufschub geboten hat. Anders hätten wir ein inzwischen bereits veraltetes Werk vorgelegt.

      So viel über die allgemeinen Projekte, an denen ich mitarbeite. Dazu kommt die Fertigstellung von Band 3 des Pluralen Marxismus, einem Ketzerwerk, dem inzwischen die orthodoxe Inquisition abhanden gekommen ist, dessen Funktion (und daher auch dessen Inhalt) ich völlig neu überlegen muss. Ferner steht die Neuauflage meines Sartre-Buchs von 1966 an.

      Ich weiß, das alles sieht nach individual overstrech & overstress eines Menschen aus, der einen voluntaristischen Schlag hat und so unweise ist, Glücksgüter und -haltungen dem zu opfern, was er als Aufgabe ansieht.

      20. März 1991