Название | Teresa hört auf |
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Автор произведения | Silvia Pistotnig |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903184831 |
Er hatte recht, natürlich. Aber. Aber. Sie hinterfragte ihre Mutterrolle, ihren Ehrgeiz, ihre eigene Kindheit, ihre Mutter; sie analysierte, woher ihre Gefühle kamen, doch die Eifersucht blieb, bis Cloé wieder mit dem Flugzeug davonflog, weit weg, zurück in den Süden.
Am Flughafen hob Edith ihre Tochter hoch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Meine kleine Königin«, flüsterte sie, und dachte: Mutter sein, völlig verrückt.
XX
»Okay, ab der zweiten Woche seid ihr also unten, alles klar?« Christian zeigt auf Sandra – heißt sie überhaupt so? – und auf mich. Obwohl Sandra versucht, sich nichts anmerken zu lassen, kann ich erkennen, wie sie blass wird und ganz leicht ihr Gesicht verzieht. Ich kann es ihr nicht verübeln. An ihrer Stelle würde ich genauso reagieren, würde ich mit mir, der Langweiligsten und Uninteressiertesten aller Kolleginnen, auf eine Maturareise fahren müssen.
Es ist ihre erste Maturareise als Mitarbeiterin. Wahrscheinlich war sie irgendwann selbst als Maturantin dabei. Wie alt ist sie? Mitte zwanzig? Dreißig? Sie hat ja keine Ahnung. Keine Sekunde wird sie entspannen können, zwischen den feiernden, saufenden, speibenden und sexualisierten Jugendlichen.
Sandra ist Mitte zwanzig, beschließe ich, ohne sie zu fragen. Sie erhofft sich Spaß nach der ganzen Plackerei und den Überstunden, und sie hat ihn verdient, nur wird sie keinen haben. Sie weiß es, genauso wie sie weiß, dass so viele Jobs besser klingen als sie sind, dass es am Ende immer dasselbe ist, und alle nur nach der perfekten Work-Life-Balance suchen, aber die gibt es nicht, mein Mädchen, du verwöhntes Stück.
War ich jemals so? Wie war ich? Wann war ich? Habe ich auf Spaß, auf Entspannung gehofft, hatte ich Spaß, war ich entspannt? Um zu wissen, wer ich bin, müsste ich mich erinnern, wer ich war.
Ich war eine gute Schülerin. Ich war beliebt. Ich war ehrgeizig. Ich war hübsch. Das behaupten meine Eltern. Das zeigen Fotos. Wann hat das aufgehört?
Ich öffne unsere Instagram-Seite. Instagram potenziert Facebooks Einfachheit. Nicht mal mehr wenige Worte. Nur noch Bilder. Bikinis, Comics, verkleidete und besoffene Teenager und Spaßvideos springen mir entgegen. Ich poste ein Foto unseres Pic-Contests, unseren Countdown und suche nach Videos, lade eines hoch. Drei Personen gefällt es, JoLa postet: »Geilo.« Es ist zehn Uhr Vormittag. Geilo.
In der Mittagspause trinke ich Kaffee. Den Hunger spare ich mir für später auf, der Magen knurrt und meine Hände zittern, aber das halte ich aus. Mein Wille ist eisern, das – daran kann ich mich auch ohne die Hilfe meiner Eltern und von Fotos gut erinnern – war er schon immer.
Lachend und schwatzend kehren die Bienchen zurück und setzen sich in ihre Kojen, während ich die Passagierlisten durchgehe und mit den DJs oder deren Managern telefoniere. Sie sind mir unbekannt, ich mache mir nichts aus Musik, im Grunde kann ich Musik nicht ausstehen, lärmende, dröhnende Geräusche und nervtötende Stimmen, die einen nicht einmal beim Einkaufen in Ruhe lassen. Woher kommt diese Angst der Menschen vor der Stille?
Auch daran kann ich mich erinnern, die klassische Musik, die meine Mutter immer hörte, die Klänge meiner Kindheit. Ich hämmerte so lange auf den Topf, bis sie das Radio ausstellte. Ist das eine wirkliche Erinnerung oder spielt mir mein Gedächtnis einen Streich? Und wenn schon. Es macht keinen Unterschied.
Am Nachmittag trinke ich zwei weitere starke Kaffee, in meinem Bauch ist ein Loch, und das Loch ist die Leere, die ich bin, in einer Hülle, die ich nicht kenne. 100 % Party, Main Floors, Chill Out Areas, Flyboard & Jetsurf, Life Acts und Relax Lounges. Hier bin ich, mittendrin statt nur dabei, organisiere den Maturantinnen und Maturanten die geilste Woche ihres Lebens, die sie nie vergessen werden. Ich hoffe, ihr Gedächtnis trügt sie genauso, wenn sie daran denken, Versprechen werden nicht erfüllt.
Es ist spät, als ich nachhause gehe, in meinen Händen drei Einkaufssäcke, ich schone die Umwelt genauso wenig wie mich. Kein Pagenkopf auf einem Luftballon ist im Geschäft. Es ist wenig los im Laden, dafür klicke ich in meinem Kopf ein Like.
Doch dann steht sie vor der Tür meines Wohnhauses und lächelt mir entgegen. Es ist wie selbstverständlich, dass sie da ist. »Sie verfolgen mich«, sage ich und schließe auf.
»Schön, dass Sie doch noch kommen«, erwidert sie. Sie streckt mir ihre Würstelfinger entgegen, und zum ersten Mal berühre ich ihre verschwitzte Hand. »Nicole«, sagt sie, und ich nicke, gehe vor und drücke den Liftknopf.
»Schön«, sagt sie, als ich die Wohnungstür öffne, ohne sich umzusehen. Sie zieht ihre Schuhe aus und geht mit leisen Schritten durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, wo sie sich auf einen der beiden Stühle setzt. Ihre Füße berühren den Boden nicht, welch ein kleines Wesen, wie eine Puppe, denke ich.
Sie sieht mir zu, wie ich für jede einen Teller hinstelle, mehr brauchen wir nicht. Ich packe das Essen aus. Die Sonne verschwindet hinter dem Dächerdschungel und lässt nichts zurück außer zwei Frauen und einem Essensgebirge; schwindelerregende Pfade aus Fertigpasta, schlammige Abgründe aus Nougatcreme, Türme aus Stelzen und fettigem Schweinsbraten; strahlend weiße Gletscher aus Schlagobers, die sich ausbreiten, nach unten zerfließen, sich auf den Fleischtürmen ihren Weg bahnen. Schokokekse und -riegel säumen diesen Weg, alles mündet in einer Schlucht aus Gebäck, Torten und Billigkuchen, alles ergibt eine wunderschöne Einheit, und hier, in diesem Krater, rasten zwei Gipfelstürmerinnen und kosten ihre Eroberung aus, laben sich, bis jede Quelle versiegt, alle Wege verschwunden und kein Gipfel mehr zu sehen ist.
Ich kotze 412,45 Euro in das Klo, wobei, nein, es ist nur die Hälfte, den Rest hat sich Nicole einverleibt.
»Danke«, sagt sie, »war gut.« Es sind die ersten Worte nach langer Zeit, es ist spät geworden.
»Das freut mich«, antworte ich, und es ist nicht gelogen. Sie lächelt mich an, die Lichter rundherum erhellen ihr Gesicht, in dem keine Falten zu sehen sind. Sie steigt umständlich vom Stuhl hoch, ihr Atem geht schwer, es strengt sie an. »Es ist spät«, sagt sie und schlurft leise zur Tür, wo sie in ausgelatschte Schuhe schlüpft. Wir geben uns die Hand, und ich sage nicht, dass sie wiederkommen soll, ich weiß, dass sie morgen wieder da sein wird und übermorgen und danach.
XX
Wenn man Teresa später Bilder von Cloé zeigte, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Auf dem Foto war sie als Baby neben einem ihr unbekannten Mädchen mit einer dunkleren Hautfarbe zu sehen. »Deine erste Freundin«, erklärte ihre Mutter, und Teresa zuckte die Schultern.
Teresa war die Jüngste im Kindergarten, einer teuren Privateinrichtung, in der die Kinder besser gefördert wurden als sonst, und die damals schon das Konzept der Montessori-Pädagogik propagierte. Dennoch spürte Edith die schiefen Blicke anderer Mütter und hörte spitze Bemerkungen der Schwiegereltern heraus. Ende der Achtziger gab man sein Kind nicht mit eineinhalb Jahren ab. Sie verschob alle Termine auf den Vormittag, um Teresa mittags abholen zu können. Ihr schlechtes Gewissen blieb bestehen, es ließ sie nie vergessen, dass es für eine Mutter nicht in Ordnung war, ein Kind herzugeben, abzugeben, wegzugeben.
Sie meldete Teresa wieder ab und engagierte ein Kindermädchen, das bis zum frühen Nachmittag dablieb. Eine unscheinbare, langweilige junge Frau, die alles mit sich machen ließ und nichts von Cloés Lebensfreude hatte. Erst mit drei Jahren kam Teresa wieder in einen Kindergarten, und diesmal blieb sie.
Sie war kein auffälliges Kind, entwickelte sich durchschnittlich, sowohl was Größe, Gewicht, Zähne, Sprache als auch Emotionen betraf.
Teresa konnte sich durchsetzen, sie war extrem stur und sprachlich begabt. Damit glich sie ihre motorische Ungeschicklichkeit aus. Sie hatte Freundinnen, spielte mit Puppen und kleidete sich, obwohl es die Familie nicht forcierte, am liebsten rosarot.
Sie war integriert, ein fröhliches, lustiges,