Teresa hört auf. Silvia Pistotnig

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Название Teresa hört auf
Автор произведения Silvia Pistotnig
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783903184831



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Bruder und ich sind im Wohnzimmer gesessen und haben alles angesehen. Sogar die Sendungen für die Erwachsenen. Aber dann hat meine Mutter das alles auf einmal beendet. Sie hat gemeint, wir dürften nur noch einmal pro Woche zu unserem Vater. Und Schluss.

      Mein Bruder gab klein bei. Aber mir war das nicht genug. Ich habe mit meiner Mutter gestritten, so wild, dass ich ihr am Ende gedroht habe, zu meinem Vater zu ziehen. »Dann tu es doch!«, hat sie geschrien, und ich hatte keine Argumente mehr. Ich musste mich fügen.

      Auch wenn sie nett waren, mir war immer klar, dass ich nie bei meinem Vater hätte wohnen können. Wir haben nicht einmal darüber gesprochen, bei ihnen zu übernachten. Es gibt wohl stillschweigende Übereinkommen, bei denen keiner die Grenze überschreiten möchte. Meinem Bruder und mir war klar, wo diese Grenze lag.

      Heute weiß ich, was in meiner Mutter vorgegangen ist. Aber Kinder sind schonungslos. Für mich war sie eine frustrierte Geldzählerin. Ich habe sie nur noch als Spaßverderberin angesehen. Mit einem Mal habe ich verstanden, warum mein Vater sich die Nachbarin geangelt hat. Sie war vielleicht auch ein Speckbrot – aber eins mit Butter darunter. Aus Protest habe ich ihr Essen nicht mehr angerührt. Dafür habe ich mein Geld für Chips und so ausgegeben. Geld haben wir von meinem Vater jede Woche zugesteckt bekommen, und ich habe es sofort für Süßigkeiten verbraucht.

      Er hat nie nachgefragt, warum wir nicht mehr jeden Tag kommen. Mittlerweile weiß ich, dass er es gewesen ist. Er hat meine Mutter angerufen, dass sie sich mehr um uns kümmern soll, weil wir zu viel bei ihnen sind. Das hat mir meine Mutter erst Jahre später erzählt. Doch jetzt macht es keinen Unterschied mehr.«

      Sie streckt sich und gähnt, ihre kleine Hand stülpt sich elegant über ihren Mund, um ihn zu bedecken. »Es ist spät«, sagt sie, und ich weiß, dass sie jetzt gehen wird. Ich begleite sie zur Tür. »Ich freue mich, dass wir so nett geplaudert haben«, meint sie höflich und streckt mir die Hand hin, als seien wir alte Bekannte, die sich zufällig wiedergetroffen haben.

      Ich schließe die Tür, stelle mich vor den Spiegel und ziehe mich aus, betrachte die Teile meines Körpers, die ich einzeln erkennen kann. Ich beginne an meinem Hals und inspiziere am Ende die Zehenspitzen. Doch ich entscheide mich für meinen kleinen Finger: seine Haut, seinen Nagel, das Weiße unter dem Nagel, die Hautfalten, die Schattierungen. Er wird mein heutiges Modell.

      Vielleicht ist es besser, nicht der Reihe nach vorzugehen, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht ist eine zufällige Detailauswahl interessanter. Ich werde Nicole bitten, sich jeden Tag eine Stelle meines Körpers auszusuchen, die ich zeichnen soll. Nach der Namensgebung ein weiteres Spiel, das uns unterhalten wird. Ganz plötzlich spüre ich, wie sich mein Gesicht unwillentlich verzieht zu einem – ja: Ich lächle.

      XX

      Korrekterweise hätte Teresa es im Sommer machen müssen. Sie entschied sich aber für die angenehmere Jahreszeit. In Wahrheit scheute sie sich davor und hatte es immer vor sich hergeschoben. Jetzt war es kühl, manchmal roch es nach Schnee. Zwei Monate hatte sie Zeit dafür. Danach würde sie in der Maturareisen-Agentur, in der sie bereits ein Praktikum absolviert hatte, zu arbeiten beginnen.

      Sie holte einen großen Mistsack und warf alles hinein. Wie erstaunlich, welche Kosmetika sich angesammelt hatten, überall gab es noch eine Tube, noch eine Dose, noch eine Flasche Handcreme, Conditioner, irgendwelche Parfumproben, die sich seit ihrer Jugend angesammelt hatten, nichts davon hatte sie je entsorgt. Teresa sah sich die Dinge genauer an: einen Lidschatten, den sie mit dem Finger auf das Waschbecken strich. Die braune Farbe verwässerte, einzelne Tropfen rannen in das Becken, während am Rand eine Puderschicht übrig blieb. Mit der Wimperntusche malte sie Streifen auf den Spiegel, machte Insekten daraus, Fliegen, Spinnen, kleine Mücken, die nur als Punkt angedeutet waren. Shampoo, Duschgel und die Flüssigseife kippte sie in die Badewanne und ließ mit warmem Wasser ein riesiges Schaumbad entstehen. Immer wieder fasste sie mit den Händen hinein, der Schaum glitt durch ihre Finger. Die Zahnpastatube warf sie mitsamt Inhalt weg. Beim Waschmittel zögerte sie. Nein, sie würde es behalten, als Kontrast zu sich selbst.

      Die Rechnung ging auf. In der ersten Woche erkannte sie keine große Veränderung nach außen. Das schmutzige Gefühl auf den Zähnen war als Erstes da. Bereits am Abend breitete sich der Belag aus, legte sich pelzig über die Zähne. Am nächsten Morgen hatte er auch die Zunge befallen. Ob sie bereits Mundgeruch hatte, konnte sie selbst nicht feststellen. Durch die Kälte und die mangelnde Bewegung war der Schweißgeruch erst nach einer Woche bemerkbar. Er fiel noch nicht stark auf, durch die dicken Jacken blieb er verdeckt. Ihre Haut war schmutziger geworden, vor allem auf den Händen und unter den Nägeln hatte sich Dreck angesammelt, gleichzeitig fühlte sie sich weicher an.

      Ihre schnurgeraden Haare waren nach einigen Tagen so fettig, dass sie auf dem Kopf zu kleben schienen. Nach zwei Wochen legte sich das wieder. Dafür verschlechterte sich ihr Körper- und Mundgeruch.

      In der Apotheke ließ sie sich lang über alternative Behandlungsmethoden gegen ständigen Schnupfen beraten, um die Reaktion des Gegenübers kontrollieren zu können. Teresa zog dafür extra die Jacke aus. Die Apothekerin rümpfte dezent die Nase, als Teresas Geruch sich ausbreitete. Kurz darauf blickte sie sich um, als wollte sie kontrollieren, woher der Schweißgestank kam. Teresa schien für sie nicht in Frage zu kommen, sie war zu gut gekleidet, zu eloquent und zu vornehm in ihrer Erscheinung, um die Verursacherin zu sein. Teresas Haut juckte, vor allem in den Armbeugen. Während sie mit der Apothekerin redete, schob sie sich einen Ärmel zurück und kratzte sich auffällig. Kleine Schmutzspuren gerieten sofort unter ihre Nägel. Sie ließ sich ein Mittel zeigen und nahm es in die Hände, sodass die Frau die dreckigen Nägel sehen konnte.

      Die Apothekerin versuchte weiterhin, sich nichts anmerken zu lassen, aber Teresa erkannte nun eine leichte Veränderung in ihrer Stimme. Noch einmal schob sie einen Jackenärmel hinauf und kratzte sich hingebungsvoll. Dann legte sie die Arzneipackung auf den Tresen. »Ich überlege es mir«, sagte sie. Als sie draußen war, sah sie durch das Schaufenster, wie die Apothekerin die Packung mit spitzen Fingern angriff und auf ihre Kollegin einredete.

      Wochen später stank sie weniger stark. Ihre Zähne taten hin und wieder weh, wobei sie sich nicht sicher war, ob es nicht nur Einbildung war. Ihre Gesichtshaut war fettiger, nach einem Monat hatten sich die Pickel aber wieder verflüchtigt. Der Juckreiz hatte sich gelegt, die Haare waren trocken wie immer.

      Als sie ihre Tage bekam, überlegte sie, das Blut einfach laufen zu lassen. Doch es durchtränkte ihre Slips und Hosen und beides klebte sich fest. So entschied sie sich für große Binden. Sie erinnerte sich an Gespräche – war es noch in der Schule gewesen? –, als die Mädchen darüber geredet hatten, dass für sie nur Tampons in Frage kämen, alles andere sei grausig.

      Grausige Monatshygiene, dachte sie lächelnd. Sie stopfte sich die Binden in die Hose und tauschte sie erst, wenn sie vollgesogen waren. Wie hatten die Frauen das früher gemacht? Wie machten sie es in den Ländern, wo die Regale nicht mit Produkten für jede Stärke, Unterhosenform und mit unterschiedlichen Gerüchen vollgestopft waren?

      Teresa gewöhnte sich an ihren ungeduschten Geruch. Sie registrierte kaum mehr, dass sie von anderen erstaunt und angeekelt angesehen wurde. Ihre Hände wusch sie ab und zu mit Wasser. Eine Woche vor ihrem Arbeitsbeginn wurde sie krank. Durch die Erkältung schwitzte sie stark. Ihre Eltern kamen, um nachzusehen, wie es ihr ging.

      Ihre Mutter wunderte sich über den Geruch, die schmutzigen Fingernägel, bis Teresa genervt zugab, sich nicht mehr zu waschen.

      Edith appellierte an ihre Vernunft, doch Teresa weigerte sich, lag bockig wie ein kleines Kind auf der Couch und schüttelte mit geröteter Nase den Kopf. Ihr Vater saß daneben auf dem Stuhl, sagte nichts, hörte sich zuerst die Überredungsversuche seiner Frau und dann den Streit zwischen den beiden Frauen an. Plötzlich stand er auf, durchnässte ein Geschirrtuch, goss Geschirrspülmittel darüber und gab Teresa den triefenden Stoff in die Hand. »Wasch dir die Hände, sofort.«

      Er sagte es ruhig, und trotzdem war es bedrohlich. Teresa wies ihn ab. Ihr Vater sagte nichts. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen, als er ihr den Fetzen entriss, ihre Hände umklammerte und sie abwischte. Sie strampelte