Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff

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Название Dämmer und Aufruhr
Автор произведения Bodo Kirchhoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627022631



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das erschien mir recht teuer, auch wenn es, angeblich, ein Original war, auf Leinwand, frühe dreißiger Jahre. Thirtysomething, sagte Mrs. Bennett, um daraus gleich etwas Persönliches zu machen, wie es nur Amerikanerinnen so schnell fertigbringen – das ideale Alter, erklärte sie, und wir beide seien ordentlich darüber hinaus! Sie lachte, und erst jetzt sah sie mich richtig an, aus grauen bis blauen Augen unter fast geraden Lidern, und fraglich war, ob sie meinen Humor prüfen oder ein Kompliment hören wollte – dass sie nicht ordentlich über das Idealalter hinaus sei. Es war nur ein kurzer Blick auf mich, dann ging sie ein Stück weiter, zu einem ganzen Stapel bedruckter Leinwände, auch Originale, die man nicht anfassen durfte, wie es auf einer Tafel hieß, Non toccare, grazie! Ich schätzte sie auf mein Alter, vielleicht zwei, drei Jahre darunter, hatte aber das Gefühl, dass es ihr ebenso ging: Sie sich als die etwas Ältere sah. Mit einer Handbewegung wischte sie das ganze Thema allerdings weg, sie zeigte auf das teure Plakat: Portofino, da sei sie voriges Jahr gewesen um die Zeit, sonst hätte ich ihr Zimmer nicht bekommen – Why especially this room? Wie nebenbei fragte sie das, und ich erklärte, was es mit dem Zimmer und mir auf sich hatte, dass meine Eltern dort späte Glückstage hatten, das kam an; sie stellte keine weiteren Fragen, vor allem nicht die, was ich in dem Zimmer oder auf dem Balkon den ganzen Tag über machte, statt am Strand zu liegen. Sie wollte nur noch wissen, ob mir der Preis für das alte Plakat zu hoch erscheine, und ich sagte, schon im Gehen begriffen, das hänge davon ab, wie sehr man es haben möchte, um es bei sich an die Wand zu hängen. Mir wäre es zu teuer, auch wenn der ganze Zauber Italiens darin liege, die ganze Süße des Mediterranen – all our deep romantic ideas.

      Der ganze Zauber meiner Kindheitssommerfrische, ihre Süße, ihre Wehmut, lag in einem Gasthof und seiner Umgebung unterhalb des Kitzbüheler Horns – zwei Monate nach dem Bahnsteigerlebnis von Freiburg reisen Großmutter und Enkel wie in den Jahren zuvor mit dem Zug über München in den Tiroler Juli, für ganze Wochen im Gasthof Vordergrub. Sie haben ihr übliches Zimmer mit Holzbalkon, ein Zimmer noch ohne fließendes Wasser, stattdessen Karaffe und Schüssel; die Großmutter spricht von Katzenwäsche und überhaupt dem Opfer der Reise hierher und einer so langen Anwesenheit in Vordergrub, nur um ihrer Schwester, die leider kaum Geld habe, nah zu sein. Die Tante Matzi, wie sie genannt wird, angereist aus Wien, wohnt auf einem Hof in der Nähe, dem Hof Oberstegen, bei ihr die Scotchterrier Flörri und Tschenti, die darf ich an der Leine führen. Ansonsten bin ich Kavalier meiner Hüterin, bei Tag und bei Nacht. Wir teilen das Doppelbett und vor dem Schlafen ein Bier, wir schlafen, bis uns die Sonne weckt. Tagsüber treffen wir dann Tante Matzi, kinderlos und beweglicher als ihre Schwester und früher, wie es allgemein heißt, eine Schönheit, umschwärmt von jungen Offizieren. Für das fesche Bubei, wie sie den zwischen beiden Frauen nahezu Eingeklemmten nennt, macht sie sich, zum Verdruss der Schwester, zurecht, mit blutroten Lippen im kleinen faltigen Gesicht, und sie besteht auf einem Mundkuss zur Begrüßung und zum Abschied. Die Schwestern sehen sich jeden Tag, obwohl sie sich alles andere als verstehen; sie hängen nur aneinander, und die Witwe des deutschen Wehrmachtsmajors unterstützt die andere durch Einladungen zu Schnitzel und Schwarzbier, obwohl die abverlangten, unter ihren Augen erfolgenden Küsse sie eifersüchtig machen. Dafür gehört ihr der Bubei-Galan mit Lippenstiftspuren – fast grob mit einem stets unter dem Ärmel verstauten Schnäuztücherl weggewischt – voll und ganz in den Mittagsstunden und wird dort wieder zum trägen Infanten.

      Träge das Spähen im gedämpften Licht, schläfrig und doch wach, mit einem Auge auf der, die in der Wäsche auf ihrer Bettseite liegt, das Mieder geöffnet – ich sollte einige der kleinen Haken lösen, damit sich ihr Leib entspannen konnte, und nun entspannte er sich also, wo er vorher zusammengedrängt war, während ich zu schlafen vorgab, aber alles im Blick behielt. Erschöpft und mächtig zugleich lag meine Hüterin neben mir, leise strömte der Atem aus ihrem Mund und der großen Nase, wie über unsichtbare Treppchen hopste die Luft, hinein in einen Summgesang, der langsam in Schlaf überging; und der vom Mittagsbier Benommene konnte nicht anders, als das ja ohnehin etwas offene Mieder in der Farbe einer blassen Aprikose noch weiter zu öffnen, bis er sah, was er nicht sehen sollte, ihr helles Fleisch. Mir blieb gut eine Stunde, bevor sie erwachte, bettwirr das Haar, und es hieß, dass ich die Ösen wieder schließen sollte, nur nicht die unterste, die über dem Po. Also begann ich mit dem Zuhaken, vorsichtig, und sie erinnerte noch einmal an die kleine Poregel – ein geringes In-die-Schranken-Weisen, oft verrät es auch ein Verlangen. Die unterste, die schließt mir der Herrgott, sagte sie, einer ihrer Rätselsätze, und im selben Atemzug bat sie darum, ihr den oberen Rücken zu kratzen, sie zu scheren, wie sie es nannte, und das geschah mit Ausflügen meiner Finger unter das Mieder, leise seufzend von ihr genossen. Wir waren jetzt eins, ein Wonneklumpen im Bett, und umso ungehaltener war sie, als auf einmal, verfrüht, ihre Schwester für den Nachmittagsspaziergang im Zimmer erschien und sich auch gleich den Mundkuss abholte. Sie fuhr sie mit nörgelnder Schärfe an, nannte sie rücksichtslos, die ewig Lästige – mir im Gedächtnis wie die Falten um den Tante-Matzi-Mund und ihr feiner Oberlippenbart.

      Schließlich ging man aber doch spazieren, ich durfte wieder die Scotchterrier führen, während sich die Schwestern stritten, bald leiser, bald lauter; Ruhe war erst, als wir eine kleine Kapelle betraten, still ein Vaterunser beteten und Tante Matzi am Ende noch murmelte Gott, gib a’ Geld. Von der Kapelle ging es an einem Bach entlang, nunmehr schweigend, und der Begleiter der Damen fühlte sich mit den Hunden, die er hielt, als Tierbändiger. Es war der Weg zur Talstation der Horn-Bahn, mit der ich liebend gern gefahren wäre, aber weibliche Ängste vor dem Abgrund standen dagegen; mir blieb nur, dem Körberl, wie die Gondel bei den Schwestern hieß, hinterherzuschauen, seinem Aufstieg zum Gipfel hoch über den Tannen und später dem Fels, bevor wir denselben Weg zurückgingen, während es Abend wurde, Zeit für das gemeinsame Essen.

      Die Schwestern, beide im Dirndl, zwei in der Gaststube allseits beachtete, die um einen Jungen buhlen (ich fühlte mich wohl auch als Frauenbändiger), trinken ihr dunkles Bier und er ein kleines Helles. Schnitzel gibt es dazu und manchmal Backhendel und vorher eine Fredatten- oder Frittatensuppe mit frischem Schnittlauch – ihr Fettgeruch vermischt mit dem nach Wiese und Brotteig ruft mir diese Abende ins Gedächtnis, immer damit endend, dass wir Tante Matzi noch ein Stück auf ihrem Weg im schon Dunklen zum Hof Oberstegen begleiten. Ein langsamer Abschied ist das, bis man sich schließlich einen Ruck gibt und sich trennt, die eine Schwester weitergeht, begleitet von ihren Hunden, und die andere zurückgeht, begleitet vom Enkel; je mehr sich aber die Schwestern voneinander entfernen, sind sie wieder ein Herz und eine Seele und rufen sich die alten Kosenamen durch die Dunkelheit zu, um noch ein Stimmenband zu haben, immer leiser werdend ein helles Ifferl und Pfifferl, bis auch der letzte Ruf erstirbt, nichts mehr zu hören ist außer Grillengezirp und der Infant zum Hüter seiner Hüterin wird, in der Faust ein kleines Schwert aus Holz, um jeden Angreifer zu erschlagen – die Waffe, die mir das Gefühl gab, unbesiegbar zu sein, einer, der alles niedermachen könnte.

      Erst mit dem Dazustoßen meiner Mutter – kaum mehr auf einer Bühne, aber noch mit der Aura zerstreuter Verruchtheit einer jungen Rampendame –, mit ihrem üblichen Aufenthalt in unserer Sommerfrische, endeten die Tage der Miederösen und eingeforderten Küsse, des Mittagsbiers und abendlichen kleinen Schwerts. Sie zieht ihren Kavalier buchstäblich aus dem liebeshysterischen Bett, das ihm die Schwestern bereitet haben, in das Theatralische der eigenen Rede; sie zieht ihn aber auch in ihr Zimmer im Gasthof Vordergrub und an den exklusiven Platz neben ihrem Liegestuhl im Garten, am Rande einer Wiese mit Bauersleuten, die ihre Sensen schwingen. Und so sind beide wieder einmal in der kitzbühelerischen Sommerfrischewelt, die auch eine Halbwelt ist, Mutter und Sohn als Pärchen, ohne den Vater, ohne die kleine Schwester – völlig unklar, wo und bei wem sie sich aufhielt. Während der Abendmahlzeiten ist der Neunjährige nun gleich von drei Frauen umgeben, seiner Hüterin und deren Schwester mit dem faltigen roten Mund sowie der schönen, in der Gaststube allseits bestaunten Mutter. Er unterhält die drei Frauen mit Parodien, macht die Buben des Hauses nach, ihre im Rachen gebildeten Wörter, wenn sie ihm Fragen stellen über die weite Welt; er wird beklatscht und geherzt, belohnt für sein drolliges Artigsein, sogar noch nachts im Mutterbett, neben ihrem warmen Leib, wenn er schläfrig daran spielt, so artig wie unartig. Und auch tagsüber ist er ganze Stunden allein mit ihr, sie in dem Liegestuhl, lesend, rauchend, dösend, er davor, mal im Gras sitzend, mal in der Hocke, immer ihren sonnenbeschienenen Beinen nah. Die Schenkel sind eine Ablage für seinen Zeichenblock; er bemüht sich,