Название | Dämmer und Aufruhr |
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Автор произведения | Bodo Kirchhoff |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022631 |
Die Weihnachtsferien hatten begonnen, also durfte ich auch unter der Woche in dem Exil bleiben, konnte dort etwa Briefmarken sortieren, die mir mein Vater monatlich zusteckte, oft samt Kuvert, Marken selbst aus fernsten Ländern, Chile, Pakistan oder Indonesien, all den Weltecken, in die er seine medizinischen Apparate zu verkaufen versuchte und aus denen abschlägige oder hinhaltende Antworten gekommen waren. Ich löste die Marken im Wasserbad ab und setzte sie in ein dickes Album (das es noch gibt, oben auf den Seiten, in meiner Kinderschrift, jeweils die Ländernamen). Es war kein Einsortieren nach den Gesichtspunkten der Philatelie, es war eins nur nach Größe und Schönheit, darum finden sich vorn in dem Album Marken aus Formosa, dem heutigen Taiwan, mit bunten Paradiesvögeln, aber vor allem die aus Österreich, viele für ein Alpental werbend, immer mit einer Schönen des Tals als Motiv. Und auf der Zillertalbriefmarke war ein Mädchen, das aussah wie Doris mit seinen weichen Wangen und einem Blick für den, der die abgelöste Marke vorsichtig über der Heizung getrocknet hat, um sie dann unter Glas zu plätten und ihr später einen Platz in dem Album zu geben (den Platz, den sie heute noch innehat). Es war ein Tun im Zustand zwischen Wachen und Träumen, oft ganztägig im Schlafanzug; im Winter brannte auch den ganzen Tag eine Stehlampe im Zimmer, herübergerettet aus ihrem Vorkriegsleben, ebenso ein Porzellanpapagei auf einem Sekretär mit Geheimfächern (verloren gegangen wie alles aus jenem großmütterlichen Reich, bis auf wenige Fotos). Eine sich um den Enkel wölbende Welt war dieses Zimmer und seine Bewohnerin mit ihrem aus der Atmung kommenden Vor-sich-hin-Summen, während er Briefmarken aus ihrem geliebten Österreich in eine Hierarchie der Schönheit brachte; und oft wurde aus dem Summen auch ein Wiener Lied, das Überwechseln in ein paar gesungene Zeilen – mit Worten, die einen Jungen von sieben oder acht bereits ahnen ließen, dass alles Schöne einmal ein trauriges Ende hat.
Keine meiner Fantasien in diesen Jahren war schlimmer als die vom Tod der so leise Singenden mit einem schwachen Herzen, über das sie gern klagte, auch wenn es sie gar nicht im Stich ließ, ihr eher als Druckmittel zur Seite stand. Mein Vater dagegen klagte kaum über sein fehlendes Bein, und wenn ihn Schmerzen im Stumpf befielen, er bei Tisch Hüpfer auf dem Stuhl machte, die mir Rätsel aufgaben, sagte er dazu kein Wort, während meine Mutter fast täglich von ihrem Ischiasnerv sprach, so überzeugend wie von einem zusätzlichen Körperteil, das aber außer ihr niemand sah. Dieser Nerv war ihr Besitz und war ihr Widersacher, den der kleine Sohn bekämpfen durfte, wenn keine Masseuse zur Verfügung stand; die Leidende lag dann schon im Elternschlafzimmer bereitwillig auf dem Bett, Pullover hochgestreift bis zu den Schulterblättern, Rock geöffnet und leicht nach unten gezogen, damit die noch kindlichen, noch unausgebildeten, aber schon nicht mehr unschuldigen Hände nach Belieben ans Werk gehen konnten.
Der Körper, in dem man steckt, der eigene, wie es gewöhnlich heißt, ist ein Körper der anderen – mein kindlicher Jungenkörper war besetzt vom Körper des Vaters, wenn wir bastelten oder im Heizkeller Feuer anfachten oder er Auto fuhr und den Motor erklärte, aber auch, wenn er ein Wort zu seinem Holzbein verlor; der zweite Okkupantenkörper war der meiner Mutter, wenn sie mich wusch oder eincremte oder mir einen Schmerz wegstreichelte, aber auch am Badeabend mein verborgenstes Teil nach Lust und Laune benannte. Und der dritte Körper, der mit meinem verschmolz, war der großmütterliche, als hätten wir eine gemeinsame Haut, und ihr problematisches Herz wäre auch meins gewesen, das eines Neunjährigen – ich war in dem Alter, als mein Vater eines Tages mit blinder Wut auf den sogenannten eigenen Körper, den Sohneshintern, einschlug, nachdem mir, auf Verhängung eines Zimmerarrestes hin, etwas aus gewiss nicht heiterem Himmel herausgerutscht war: Die Omi habe ich viel lieber als euch! Der väterliche Ausbruch, einmalig in der Art, war die Wut auf ein Kind, das nicht die Liebe für einen empfand, die man verdient zu haben meinte, indem man eine Firma über Wasser hielt.
Nicht lange nach dieser Züchtigung traten die Herrin meines sichtbaren Körpers und die Hüterin des verborgenen, meine Mutter und meine Großmutter, eine Zugfahrt nach Wien an, für beide die erste Reise an ihren Sehnsuchtsort nach dem Krieg. Mein Vater und ich brachten sie zum Freiburger Bahnhof, wir lösten Bahnsteigkarten für je zehn Pfennig und begleiteten sie durch die Sperre zum Zug, ich trug das Gepäck ins Abteil und konnte mich dort kaum trennen, drückte mich an die eine und an die andere, bis der Schaffnerpfiff ertönte, und beim Hinauseilen auf den Bahnsteig hob sich mein Magen. Beide standen jetzt an ihrem heruntergelassenen Fenster, und als der Zug anfuhr, begann ich, seitlich unter dem Fenster mitzulaufen, erst ganz langsam, dann immer schneller, und das nicht nur vor Abschiedsschmerz. Da lief einer neben dem Zug her, die zwei Frauen seines Lebens im Blick, der im Laufen kleine Schreie ausstieß, als etwas wie aus Bauch und Schenkeln kommend, in einer Körpermitte, die ihm entrissen zu sein schien, umso mehr zusammenströmte, je schneller er lief. Fast ist es ein Rennen auf dem langen Bahnsteig dicht neben dem fahrenden Zug, gefährlich anzusehen, aber der einbeinige Vater kann nichts tun, nur laute Warnungen hinterherrufen, während der Neunjährige jetzt gar versucht, die aus dem Fenster gestreckten vier Hände zu fassen, die Spitzen der Finger, und das Zusammenströmen in ihm wie ein Schwärmen kleinster Vögel zwischen den Beinen ist, so flatternd fremd, berauschend zugespitzt, dass er nur mit den Schreien dagegenhalten kann, nicht aber den irren Lauf stoppen: Er läuft auch noch außerhalb des überdachten Bahnsteigs neben dem Zug, dort, wo der Belag schon von Gräsern gesprengt wird, bis er hinter dem letzten Wagen mit einer Tür ins Leere und den Schlusslichtern herrennt und nur noch von weitem die winkenden Hände sieht und den Duft des warmen Gleisschotters atmet und etwas aus seinem Innersten wie durch ein Öhr in die Weltleere um ihn strömt, als glühendes Pissen, während er, nahezu blind, bis an das Ende des Bahnsteigs läuft, die Kante über dem Schotter.
Sicher ist, dass mir sekundenlang schwarz war vor Augen oder mir der davonfahrende Zug samt den Gleisen dahinter schwarz vor Sonne vorkam und dass ich plötzlich glaubte, ganz allein auf der Welt zu sein, nass zwischen den Beinen wie schon einmal, noch in Hamburg, als stiller Zeuge einer Bestrafung, nur jetzt von etwas nass, für das jedes Wort fehlte, jede Idee. Und als wäre damit eine von keinem bemerkte Verwandlung einhergegangen, von etwas in mir, das nie wieder würde wie vorher, ging ich in der Erwartung, verstoßen zu werden, zurück zu meinem Vater, der vor der Wartehalle auf einer Bank saß und rauchte.
7
Regen in Alassio, der erste verhangene Tag, aber nur ein Zwischentief, es soll morgen wieder schön sein, das Spätsommerhoch hält noch, und ein trüber Tag – eher leichter Regen, ein Gesprühe – eignet sich für Besorgungen, Wasser, Wein, Kekse, Papier. Ich war im Ort mit einer langen Hauptgasse parallel zum Strand, unterbrochen nur von einem hässlichen freien Platz am Meer, Parkdecks darunter und neuere Gebäude an seiner Rückseite, dem Platz für den Abendrummel im Hochsommer, überall noch die Köpfe, die Namen auf Schildern; Schlachtrösser des italienischen Schlagers waren hier wie Jimmy Fontana (Il Mondo), der Platz dann sicher übervoll, während er vorhin, am späten Nachmittag, leer war. Ich überquerte ihn zu einem der neuen Häuser, darin ein Geschäft mit fetter Schrift über den Fenstern, Galleria L’Image, ein Laden für alte Reiseplakate. Die Tür stand offen, ich trat ein und stieß, noch bevor ich mich umsehen konnte oder zurück in den Regen gehen, auf Mrs. Bennett vor einem gerahmten, traumhaft schönen Plakat von Portofino, seine kleine gewundene Bucht mit dem Hafenörtchen am Ende vom Berg aus gesehen, mit viel Farbgefühl gemalt. Nine thousand Euro, sagte die Amerikanerin; sie hatte den Bewohner ihres angestammten Zimmers von der Seite erfasst, sich