Название | Dämmer und Aufruhr |
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Автор произведения | Bodo Kirchhoff |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022631 |
Mein Vater hatte mich erstmals ins Vertrauen gezogen, in das dichte, so beschützende wie erschreckende Innerste seines Vertrauens, und kein anderes Wort in der Geschichte vom verlorenen Bein hat sich so festgesetzt wie dieses Abgesägt, in Verbindung mit dem Bild eines faltigen weichen Schenkelstumpfes, fester Bestandteil meiner kindlichen Träume, in denen dieses geheime und zugleich unheimliche Stück Vater endlich betastet werden konnte – ein Traum, den es gelegentlich noch gibt, vielleicht auch nur als Traum von den einstigen Träumen. Und immer ist da auch das unauslöschliche Bild, wie mein Vater jeden Morgen eine Art Strumpf über das schlaffe Gebilde rollt, um das Strumpfende durch ein Loch in der Prothesenaushöhlung zu ziehen (erst als fast Erwachsener hatte ich begriffen, dass so ein Vakuum entstand, das den Oberschenkelrest in der Höhlung hielt), ein Bild, das sich oft mischt mit etwas ebenso Eindrücklichem: Mein Vater nimmt mich, noch in Hamburg, mit in die Werkstatt des Prothesenbauers. Dort hängen Arme und Beine von der Decke, als würde die Welt auf dem Kopf stehen, und wir gehen Hand in Hand unter diesem hängenden Gliederwald, mein Vater erzählt von anderen, die ein Bein, einen Arm oder gar beide Arme verloren hätten. Manche auch ihr Gesicht, sagt er, und ich schaue mich nach Holzgesichtern um. Wir sind allein in dem länglichen Werkstattraum, warten auf den Prothesenbauer, mein Vater setzt sich auf einen Stuhl, ich stehe davor, in der Hand einen kleinen Hammer – der wohl irgendwo gelegen hatte –, und klopfe damit auf das Holzknie unter dem Hosenstoff und kann es nicht fassen, dass er nichts spürt; vor lauter Armen und Beinen in der Werkstatt habe ich das väterliche Bein vergessen. Und auch am Tag unserer Seilbahnfahrt, als wir von der Bergstation noch das kurze Steilstück bis zur Spitze des Kitzbüheler Horns gingen, hatte dieser Mangel an Bein etwas Irreales, ja war letztlich aufgehoben, ich ging mit einem vollständigen Vater zum Gipfelkreuz. Erst beim Abstieg wurde es schwierig für ihn, er stützte sich auf meine Schulter, ich war seine Krücke, sein Halt. Und gegen Abend, zurück im Gasthof Vordergrub, ist er auf einmal verschwunden (im Zimmer seiner jungen Frau, wo sonst).
Es war ein gewittriger Abend nach dem heißen Tag – heiß sogar auf der Bergspitze in meiner Erinnerung, überall Leute mit nacktem Oberkörper –, dunkler Himmel und Wind, das Licht hatte sich verflüchtigt wie der Vater, und aus dem Sohn wurde erneut ein Infant im Bett seiner Hüterin. Er hakte ihr das Mieder auf, scherte ihr den Rücken und bekam, als Gegenleistung, eine Geschichte, die sie für ihn erfand – eine der vielen Geschichten, die mich immer wieder vergessen ließen, dass etwas fehlte, die Entität der Eltern als feste Größe. Dafür gaben mir die Geschichten ein Gefühl von Macht, der Macht, mich nach Belieben in ihnen bewegen zu können und Einfluss auf ihren Gang zu haben, ihr Personal, die Ausstattung, den Grad ihrer Spannung. Das Schwinden der Eltern wurde beglichen mit diesen Gutenachtgeschichten, die mehr das Ressentiment vertrieben als die Langeweile; jeder Morgen beginnt mit neuer Hoffnung: dass die Eltern Eltern bleiben, eine Einheit, Mutterundvater. Und als der Vater nach ein paar Tagen wieder abfährt, in eine eigentlich erträglichere, gänzliche Abwesenheit, geht das mütterliche Schwinden auf andere Art weiter: Eine Frau am Beginn ihrer besten Jahre, immer noch an die große Liebe glaubend, die zu einem Mann (auf schon eigenen Wegen), sucht Trost in Geschichten, nur dass sie sich diese Geschichten selbst erzählt. Sie schreibt. Die junge Mutter sitzt jetzt jeden Vormittag an einem der Holztische vor dem Gasthof im Halbschatten vor einer kleinen Schreibmaschine – angeschafft, wie es hieß, damit sich die finanzielle Lage der Familie und der Firma durch ein Buch, das alle lesen wollen, im Grunde also durch ein von ihr bewirktes Wunder, schlagartig zum Besseren wendet. Sie tippt und tippt, während der Kavalierssohn an einem entfernten Tisch immer wieder von seinem Zeichenblock aufschaut; er wartet auf eine Pause, auf die Lücke, in der er sich der Mutter nähern kann, um sie anzufassen, ihr Wegsein, obwohl sie ja dort sitzt, aufzuheben.
Damals entstand ihr erster Fortsetzungsroman für eine Illustrierte, Wiedersehen in Kitzbühel, über großes Liebesglück und auch etwas Leid, obgleich ihr eigenes Leben eher auf viel Leid und ein bescheidenes Glück zulief. Noch war es das mit dem Unternehmertraum ihres Mannes verknüpfte Leid, nicht das intime einer Verlassenen. Sie war Teil dieses Traums und half vor allem durch ihren Bühnencharme der Firma mit ewiger Geldnot und dem Namen AAP auf den Geräten, Allgemeiner Apparatebau Peters und Co. – Peters der Name des so früh gefallenen Vaters: die Wunde ihres Lebens, die ein P im Firmenemblem nicht heilen konnte. Sie schrieb auch unter diesem Namen, schrieb aber, als hätte sie kein Schicksal gehabt, von dem zu erzählen lohnend gewesen wäre, keinen Krieg erlebt, keine Verluste erlitten. Und auch der unaufhaltsame Einbruch der Firma und all die Anstrengungen, sie zu retten, hat sich ihr nicht als Stoff angeboten; das graue Leben war nicht ihr Fall (nur in den Ehejahresberichten, dort taucht es ständig auf). Ihr Fall war der Liebestraum von Frauen an der Seite sogenannter großer Männer, und am Ende löst sich jede Heldin, wie in den Filmen dieser Jahre, glanzvoll in nichts auf.
Ich schreibe jetzt, sagte sie mit Betonung auf der Tätigkeit, wenn der Sohn mit seinen Zeichensachen zu ihr auf die Holzbank rutschte, und einerseits tat sie es wirklich, tippte, manchmal sogar mit Zigarette im Mund, andererseits spielte sie eine Schreibende. Erst später am Tag, wenn sie in ihrem Liegestuhl still vor sich hin träumte, kam sie dem Schreiben – denkt der schreibende Sohn – nah. Da gibt es den Roman, der das eigene Leben sprengt, die Szenen zwischen Mann und Frau, die mehr sind als Liebestheater, die ein Stück Welt dieser Jahre zeigen, den Traum vom Erfolg und das beschämende Scheitern, den nicht ausradierbaren Krieg in jedem; große Männer werden zu kleinen, und die weibliche Heldin fühlt sich am Ende der Geliebten näher als ihrem Mann. Dösend im Liegestuhl, schreibt sie die wahren, die schmerzenden Sätze ins Nichts (Jahrzehnte später einmal angedeutet auf eine Frage hin: Ob ihr nie andere Bücher vorgeschwebt hätten, die unerfreulichen, wie sie bei ihr nur hießen). Ich schreibe jetzt – die drei Worte sitzen, der kleine Kavalier rückt etwas ab auf der Holzbank und sieht der Schreibenden zu, bis sie endlich das Blatt aus der Maschine zieht und die Schlusssätze vorliest, gerührt von den eigenen Worten. Die Vormittagsarbeit ist damit getan, es folgt ein Mittagessen im Freien, dann die Stunde im Bett, das träge schläfrige Dämmern, und am Nachmittag wird dem Sohn etwas wie den geschriebenen Seiten Entnommenes beigebracht.
Auch er soll einer jener großen Männer werden, an deren Seite Frauen Erfüllung finden, im Glück wie im Unglück, ein Mann von Welt mit Umgangsformen, folglich lernt der Neunjährige in diesem Sommer endgültig den Handkuss mit seinen Tücken, ihn eben nur anzudeuten, das aber durchaus mit Ernst. Und er übt auch noch einmal die Anrede, die sich für den kleinen Herrn gehört, nicht weniger tückisch, weil sie erst durch das Verschlucken einer Endsilbe das Gewollte verliert und ihr Leichtes erhält. Guten Abend, gnä’ Frau, sagt der Sohn am hellen Nachmittag und erfährt, warum ein Herr überhaupt einer Dame die Hand küsst, eben weil sie eine Dame sei und keine gewöhnliche Frau, deren Hand man allenfalls schüttle. Und zuletzt noch einmal die Handkusspraxis, das Sichherunterneigen, wenn die Dame etwa sitzt, das Annehmen der leicht hingehaltenen Hand, die nur angedeutete Berührung mit den Lippen – der Taumel an der Grenze zum Eros. Die junge Mutter im Liegestuhl ist hingerissen von ihrem kleinen Galan, hebt ihn mit Küssen und Worten schon in den Himmel der großen Männer und vergöttert in ihm die eigenen Träume.
Der Handkuss blieb für mich ein Stück Komödie, mit einer Ausnahme, sechsundfünfzig Jahre nach der Unterweisung am mütterlichen Liegestuhl in der Sommerfrische. Beim mehr als nur geahnten, endgültigen Abschied von meiner Mutter, sie so still um Nähe bittend, nur mit den Augen, dass dem alten Sohn bange wurde, als er an diesem glutheißen Pfingstsonntag am Aufbrechen war, mit der Reisetasche zwischen den Füßen an ihrem Bett stand, hat er aus diesem Bangen heraus ihre kaum mehr warm werdende, nur noch von einer fleckig-transparenten