Название | Dämmer und Aufruhr |
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Автор произведения | Bodo Kirchhoff |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022631 |
Also verließ der Sohn das Appartement – geschmackssicher und liebevoll von der Tochter, seiner einstigen kleinen Schwester, gestaltet, mit Schlaf- und Essbereich, Garderobe und Bad, einer ungenutzten Kochnische und dem ungenutzten Balkon. Der Flur vor der Tür war lang und still, die anderen Bewohner bekam der Besucher nie zu Gesicht, seine Mutter aber machte dort ihre tagtäglichen Gänge, auf einen Rollator gestützt, seit die Körperkräfte nachgelassen hatten. Nur verlangte der Flur auch innere Kraft: Es auszuhalten, die immer selbe schnurgerade Strecke zwischen einem rückwärtigen Fenster mit Pflanze und Stuhl davor und dem Treppenhaus mit der gegenüberliegenden Fahrstuhltür im Schein einer Sparbeleuchtung hin- und herzugehen, mit wie durch die Stille und das Licht verlangsamten Schritten, tagein, tagaus jeweils für zwanzig Minuten, immer wieder mit Blicken auf eine kleine goldene Uhr (die ihr noch gestohlen werden sollte von einer Betreuerin), ob nicht etwa mit einem weiteren Gang bis zum hinteren Fenster und dem Rückweg zu ihrer Tür die Zeit schon überschritten wäre. Sie darf nicht zu wenig und darf nicht zu viel gehen, bei jeder zweiten Kehre am Fenster setzt sie sich kurz auf den Stuhl neben der Pflanze, um die Atmung zu beruhigen, und sieht auf die Uhr, da sind erst wenige Minuten um, folglich muss sie noch etliche Male gehen – wie auch ich hin- und herging, um die Minuten herumzubringen. Ein Gehen vorbei an den Ablagen für benutztes Geschirr, da ließen sich die Essensreste anschauen, alle unbekömmlichen Hinterlassenschaften, ein Stück Fisch oder etwas Rosenkohl, und nach weiterem Gehen, wieder bei der Wende an der Fahrstuhltür, ließ sich der dort angebrachte Tageskalenderspruch lesen, in dem Fall ein Goethewort, auswendig gelernt, um die Zeit zu verkürzen – Ich besänftige mein Herz, mit süßer Hoffnung ihm schmeichelnd. Eng ist das Leben fürwahr, aber die Hoffnung ist weit. Und bei jeder Runde die Überlegung, warum man genau das Wort und kein anderes gewählt hatte für diesen Tag, auch so vergingen Minuten, bis plötzlich sogar Eile geboten war; ich musste zügig von der Fahrstuhltür zu der Appartementtür gehen, um noch in der Zeit am mütterlichen Bett zu erscheinen.
Sie hatte die Perücke abgenommen, dafür ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ein paar weißliche Fäden hingen ihr über die Wangen. Sieh da nicht hin, sagte sie, war jemand im Flur, hast du gegrüßt? Sie hielt sich eine Hand über die Augen, es war schon die Geste der Entlassung, auch die Geste, mit der sie ein Gespräch platzen ließ. Im Flur war niemand, erwiderte ich, die meisten schlafen schon, bist du nicht auch müde? Ich ging zum Kühlschrank, zu der zweiten Flasche Wein. Nur diese Flasche und die Butter und etwas Käse, vom Essen übrig geblieben, lagen dort wie verbannt. Sie wollte keine Lebensmittel in ihrer Nähe, nichts, was verderben konnte; sie wollte auch keine Blumen, Blumen verwelkten nur, und man könne nicht genau sagen, wann das Verwelken einsetze, ja auch eine frische Blume verwelke schon, man sehe es nur nicht so, man wisse es aber und warte darauf, bis man es sieht, besser also keine Blumen. Vor allem aber nichts Angebrochenes im Kühlschrank, nur der verschlossene Wein durfte dort bleiben, die Flasche war dann schon die Flasche für den nächsten Sohnesbesuch. Ob ich sie heute Abend noch unbedingt öffnen müsste – muss das sein? Meine Mutter war auf einmal bei Stimme, und die Antwort hieß: Ja. Aber sie hätte auch heißen können: Ich kann nicht anders, als jetzt noch zu trinken, am liebsten die ganze Flasche, zum Glück muss ich ja morgen nichts tun, nur im Zug sitzen, warum also die Flasche nicht öffnen? Und ich zog den Korken und schenkte mir ein und setzte mich an ihr Bett, das volle Glas am Mund, und hätte auch gern noch gesagt, dass ich trinke, weil etwas in mir betäubt sein will, wenn die Betäubung durch die Arbeit, das Schreiben, gegen Abend nachlässt. Und dass alles, was sie in Verbindung mit mir stolz macht, an seidenen Fäden hängt. Ebenso gut hätte es auch anders laufen können, auf der schiefen Bahn abwärts; statt dem Erfolg und der Bekanntheit durch Erfinden und Übertreibungen im Roman, statt dem Verführen oder Rache-Üben allein mit Worten, ohne dass jemand dadurch zu Schaden kommt, ein tatsächliches Verlogensein, das einen als Erfolgsbetrüger erst in die Schlagzeilen bringt und zuletzt ins Gefängnis.
All das wollte der Sohn loswerden an dem Abend, dazu den Wein trinken, am besten aus der Flasche, was schon ein Stück reale Rache gewesen wäre: Seiner Mutter im Bett zu zeigen, welche Art des Trinkens ihm am nächsten war, und wenigstens machte er eine Andeutung, tat so, als ob, die Flasche am Mund, um schließlich doch das Glas auf eine nun in sich eingesunkene, wie in ihre Welt zurückgetauchte alte Frau zu erheben. Ich erinnere mich, auf ihr Wohl getrunken zu haben, ausdrücklich auf ihr Wohl und noch viele gute Tage, aber sie war bei der Ungehörigkeit hängen geblieben, der Flasche am Mund, und kippte dadurch noch weiter zurück, sie kam auf ihre frühen Hamburgjahre und meinen Vater: Der habe auch immer aus der Flasche getrunken, ja überhaupt gern Wein getrunken. Warum wollte er denn weg aus Hamburg, unbedingt in den Schwarzwald? Natürlich auch, weil es bei Freiburg die Weinberge gab, einen sogar in der Stadt, das hat er gleich erzählt, als er von seiner Erkundung zurückkam, und ein paar Wochen später saßen wir zu fünft in einem alten VW und fuhren in zwei Tagen durch ganz Deutschland, großer Gott!
Wieso zu fünft? Ein Nachhaken, auch wenn ich die Antwort kannte, aber sie sollte von dieser Weltreise, wie unsere Fahrt damals hieß, etwas erzählen, während ich den Wein aus dem Glas trank, und sollte nicht nur im Bett liegen und eine Art Schnappatmung vortäuschen. Wieso? Weil die Annegret dabei gewesen sei, das Kindermädchen, still vor sich hin heulend im Auto, weil sie schon Heimweh gehabt habe – ob ich die ganze Flasche trinken wollte? Sie unterbrach sich selbst, noch eine Methode, Gespräche platzen zu lassen; ich stellte die Flasche ab und bat sie, weiterzuerzählen, und sie rief mit einer jähen, fast gespenstischen Energie in der Stimme, ob ich mir überhaupt vorstellen könnte, wie jung sie und mein Vater damals auf dieser Weltreise in den Schwarzwald mit Übernachtung hinter Kassel gewesen seien? Und der Sohn konnte sich zwar nicht vorstellen, wie jung sie waren oder sich fühlten im Mai fünfundfünfzig, aber dass sie beide jung waren auf der Reise in eine neue Heimat, die nie ihre Heimat wurde, nur seine der Kindheit, ausgefüllt von ihrer so anderen Sprache, ihrer bewaldeten Landschaft und all den neuen Gerüchen, nach Heu, nach Traktorfett, nach Gülle und Tinte aus dem Tintenfass, das wusste er.
Ja, ihr wart jung, sagte ich. Aber wann sind wir angekommen? Und meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf, wie immer, wenn sie sich etwas ins Gedächtnis rief, an das sie eigentlich nicht erinnert sein wollte. Wann sind wir angekommen? Irgendwann gegen Abend waren wir in Freiburg und sahen das Münster und den Schlossberg mit Weinstöcken und haben uns umarmt, dein Vater und ich. Nur war Freiburg gar nicht das Ziel, sondern ein Vorort, dort gab es am Fuß einer alten Bergwerkshalde ein Gebäude, in das die Firma einziehen sollte, und wohnen sollten wir in Kirchzarten, einem Dorf in der Nähe. Es gab eine Straße, die führte an der Halde vorbei, einem Hang, der aussah, als hätten Bomben eingeschlagen, von dort ging es zwischen Wiesen und Waldhängen Richtung Kirchzarten, bis die Straße nur noch ein Feldweg war, und an einer Stelle am Wald sah ich einen Gasthof, den Gasthof zur Tanne, dort haben wir die erste Nacht im Schwarzwald verbracht – du wirst dich nicht erinnern, sagte sie, und ihr fielen schon die Augen zu. Aber die Bilder vom Ende unserer Weltreise waren nach allem, was sie gesagt hatte, ganz deutlich: Es gab Würstchen und Limonade, die Bluna hieß, und mein Vater, den ich bewunderte für sein Autofahren mit Zwischengas beim Schalten und das mit einem Fuß, noch dazu dem falschen linken, trank aus einem kelchförmigen Glas seinen ersten Wein aus der Gegend, in der er von nun an leben würde. Wir bezogen in dem Gasthof zwei Zimmer, eines die Eltern, das andere die Geschwister und das Kindermädchen; sie weinte schon wieder vor Heimweh, und mein Vater rief, sie solle sich zusammenreißen. Es war ein milder Maiabend, wir aßen im Freien, meine Mutter streckte sofort ihre Fühler aus nach einer Bleibe, bis wir in dem nahen Dorf etwas Passendes gefunden hätten, und die Wirtsleute erzählten von einem Hof, nur wenige Minuten entfernt, dem Hug’schen Hof, wo wir für den Sommer unterkommen könnten. Mehr sagten sie nicht, aber die Schauspielerin ohne Bühne malte schon die Idylle auf dem Hof aus, und ich sehe noch meine Eltern ihre Weingläser aneinanderstoßen, auf das Paradies, und sehe die Tränen der Annegret hinter ihrer starken Brille und weiß noch, wie ich das erste Wort in der so fremden Sprache aufschnappte, aus dem Mund des Wirts: Sel Glas, sagte er, statt dieses Glas, ob er sel Glas nachfüllen dürfe, und mein Vater rief Jawoll!, mit doppeltem L, und