Die Gleichgültigen. Alberto Moravia

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Название Die Gleichgültigen
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783945386224



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»Merumecis Mantel ist noch da, aber sie sind weg.«

      »Vielleicht sind sie in der Diele«, warf Lisa ein, und so entfernten sie sich unter allerlei ungläubigen Vermutungen.

      »Hast du gesehen?«, flüsterte Leo. Von Neuem beugte er sich hinab und presste das Mädchen an seine Brust. »Das ist das Ende«, dachte sie wieder und bot ihm den Mund dar. Ihr gefiel diese Dunkelheit, die sie daran hinderte, den Mann zu sehen, und ihr all ihre Illusionen beließ. Sie mochte dieses Täuschungsmanöver; dann trennten sie sich. »Und jetzt gehen wir hinaus«, flüsterte sie und öffnete den Vorhang mit den Händen. »Gehen wir, Leo, sonst merken sie noch was.«

      Er folgte ihr widerwillig, und einer nach dem anderen kamen sie wie zwei Räuber aus ihrem Versteck. Im Lichtschein betrachteten sie sich: »Ist meine Frisur zerwühlt?«, fragte Carla. Er schüttelte den Kopf. Sie fügte hinzu: »Und was sagen wir jetzt Mama?«

      Grobschlächtige Häme trat auf das erregte rote Gesicht des Mannes; er klopfte sich auf den Schenkel und lachte: »Ha, das war fein«, rief er, »wunderbar … Was wir ihnen sagen? Na, dass wir hier waren natürlich, die ganze Zeit.«

      »Nein, Leo«, sagte Carla, schaute ihn zweifelnd an und verschränkte die Arme vor ihrem Bauch, »wirklich?«

      »Wirklich«, wiederholte er. »Ach, da sind sie ja.«

      Die Tür öffnete sich, und die Mutter erschien wieder. »Aber hier sind sie ja«, rief sie und wandte sich zu Lisa. »Und wir haben sie im ganzen Haus gesucht. Wo wart ihr denn?«

      Leo machte eine verwunderte Geste. »Wir waren die ganze Zeit hier.«

      Die Mutter sah ihn an wie einen armen Irren. »Reden Sie keinen Unsinn, ich bin soeben hier gewesen, und da war keiner, und alles war dunkel.«

      »Dann«, sagte der Mann ruhig, während er den Mantel vom Kleiderhaken nahm, »kann das nur bedeuten, dass Sie an Halluzinationen leiden. Wir sind die ganze Zeit hier gewesen.« Zu dem Mädchen gewandt fügte er hinzu: »Nicht wahr, Carla?«

      »Stimmt genau«, antwortete sie nach einem kurzen Zögern.

      Es folgte eine bedrohliche Stille. Die Mutter hatte den Eindruck, dass alle sich über sie lustig machten, aber es gelang ihr nicht, die Gründe zu begreifen. Sie vermutete geheime Absprachen und dunkle Machenschaften. Unschlüssig, irritiert, spann sie ein Netz forschender Blicke zwischen Leo, Carla und Lisa.

      »Sie sind verrückt«, sagte sie schließlich. »Vor fünf Minuten war hier niemand. Lisa kann das bezeugen, sie war bei mir«, fügte sie hinzu, mit dem Finger auf die Freundin weisend.

      »Das ist wahr, hier war niemand«, sagte jene ruhig.

      Wieder Schweigen. »Und Carla ist Zeugin, dass wir hier waren«, sagte Leo; und indem er einen anzüglichen Blick in Richtung des Mädchens warf, fügte er hinzu: »Das ist die reine Wahrheit, nicht wahr, Carla?«

      »Es ist wahr«, gestand sie verwirrt und wurde sich zum ersten Mal der Tatsache bewusst, dass sie ohne jeden Zweifel, als die Mutter den Kopf zur Tür reingesteckt hatte, dort im Vestibül gewesen waren.

      »Nun gut«, sagte die Mutter bitter, »gut, gut … Ihr habt recht, ich bin verrückt und Lisa auch.« Sie schwieg einen Augenblick.

      »Dass Leo sich solche Scherze erlaubt«, brach es plötzlich, an Carla gewandt, aus ihr hervor, »ist seine Sache …, aber dass du dich über mich lustig machst, dafür solltest du dich schämen …, schöner Respekt vor deiner Mutter …«

      »Aber es ist die reine Wahrheit, Mama«, protestierte Carla; jetzt wurde der Scherz schmerzhaft; wie ein Stachel drang er in die Unruhe, die sie erfüllte. »Wir waren im Vestibül«, hätte sie gerne hinzugefügt, »wir waren hinter dem Vorhang, ich und Leo, Arm in Arm.« Und sie stellte sich die Szene vor, die es bei diesen Worten gegeben hätte; aber es wäre die letzte gewesen, dann hätte alles ein Ende gehabt.

      Jetzt sagte Lisa mit gelangweilter Miene: »Wollen wir gehen, Merumeci?« Und der Mann, bereit aufzubrechen, reichte der Mutter die Hand: »Denken Sie noch einmal darüber nach«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen und dabei zu lächeln. »Denken Sie die ganze Nacht darüber nach.« Worauf die Mutter mit einem Achselzucken entgegnete: »Nachts schlafe ich.« Dann umarmte sie Lisa und sagte leise zu ihr: »Also, denk daran, was ich dir gesagt habe.« Das Mädchen öffnete die Tür, und ein kalter Windhauch drang ins Vestibül. Die beiden traten heraus und verschwanden.

      KAPITEL 4

      Gemeinsam stiegen Mutter und Tochter in die obere Etage hinauf. In der Diele fragte die Mutter, die wegen des Scherzes im Vestibül gekränkt war und kein Wort gesagt hatte, das Mädchen, was es am nächsten Tag tun würde. »Tennis spielen«, antwortete Carla. Danach gingen sie, ohne sich zu umarmen, jede in ihr Zimmer.

      In Carlas Zimmer brannte die Lampe, sie hatte vergessen, sie auszuschalten, und in dieser weißen Helligkeit schienen die Möbel und alles andere nur auf sie gewartet zu haben. Sie trat ein und ging mechanisch gleich zum großen Schrankspiegel hinüber, um sich zu betrachten: nichts Unnormales in ihrem Gesicht, außer ihren müden, gezeichneten und doch geheimnisvoll funkelnden Augen. Ein bläulichschwarzer Schatten hatte sich darübergelegt, und die Hoffnungen und Illusionen in ihrem Blick verwirrten sie, als käme er von einer anderen Person. Einen Augenblick verweilte sie so, ihre Hände gegen den Spiegel gestützt, dann löste sie sich und setzte sich aufs Bett. Sie blickte umher: Das Zimmer war in mancherlei Hinsicht das eines kleinen Mädchens von drei oder vier Jahren; die Möbel waren weiß, niedrig, hygienisch, die Wände schneeweiß mit azurblauem Muster, eine Reihe Puppen mit verdrehten Köpfen, schielenden Augen, vernachlässigt und zerlumpt, saß auf dem kleinen Kanapee unterhalb des Fensters; die Einrichtung war die ihrer Kindheit und ihre Mutter hatte sie aus Geldnot durch keine andere, ihrem Alter angemessenere ersetzen können. Und außerdem, so hatte sie gesagt, welche Notwendigkeit bestehe schon für eine neue Einrichtung? Sie würde ja doch heiraten und aus dem Haus gehen. So war Carla im engen Rahmen ihrer früheren Jahre aufgewachsen. Doch das Zimmer war nicht so geblieben wie damals, kindlich und kahl, jedes Lebensalter hatte dort seine Spur, seinen Tand, sein wertloses Zeug hinterlassen. Jetzt war das Zimmer prallvoll, bequem und vertraut, doch von einer zwiespältigen Vertrautheit bisweilen fraulicher Natur (wie etwa der Frisiertisch mit den verschlissenen Bändern, den Parfüms, Puderdosen und Cremes, mit den Schminksachen und den beiden breiten rosafarbenen Strumpfbändern, die an dem ovalen Spiegel hingen), bisweilen kindlicher. Und in milder Unordnung, ganz und gar weiblich, waren Tücher über Stühle geworfen, standen Flakons offen herum, lagen Schühchen auf dem Kopf und trugen das Ihre zu dem widersprüchlichen Eindruck bei.

      Carla betrachtete diese Dinge mit ruhigem Staunen. Kein Gedanke durchzog ihr Sinnen: Sie saß auf ihrem Bett, in ihrem Zimmer, das Licht war an, jedes Ding war an seinem Platz wie an den anderen Abenden, und das war’s auch schon. Sie begann sich auszuziehen, zuerst die Schuhe, dann das Kleid, dann die Strümpfe … Unter diesen gewohnten Vorgängen warf sie einen verstohlenen Blick umher, erblickte jetzt einen struppigen Puppenkopf, jetzt einen überladenen, mit Anziehsachen vollgepackten Kleiderständer, jetzt den Frisiertisch, jetzt die Lampe … und dieses Licht, dieses besondere Licht, ruhig, vertraut, das, eben weil es sie beleuchtete, selber in den Gegenständen des Zimmer zu sein schien und gemeinsam mit dem gut verschlossenen und von kurzen, schneeweißen Gardinen verhüllten Fenster ein behagliches und leicht beklemmendes Gefühl von Sicherheit vermittelte …, ja, daran bestand kein Zweifel …, sie befand sich in ihrem Zimmer, bei sich zu Hause. Außerhalb dieser Mauern herrschte wahrscheinlich die Nacht, doch sie war von ihr durch dieses Licht getrennt, durch diese Dinge, und zwar auf eine Weise, dass es sie nichts mehr anging …, dass sie denken konnte, alleine zu sein, ja, ganz alleine und fernab aller Welt.

      Sie war jetzt vollständig ausgezogen, stand ganz nackt auf, schüttelte den großen, zerzausten Kopf und ging zum Schrank hinüber, um einen neuen Pyjama zu holen. Die wenigen Schritte legte sie federnd auf Zehenspitzen zurück. Sie öffnete die Schublade und beobachtete beim Hinunterbeugen, dass sich auch die großen Brüste bewegten, dort, unter ihrem Blick. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie sich im Spiegel. Sie war bestürzt über die linkische, wenn nicht gar schamlose Haltung ihres gesamten nackten Körpers und dann über das Missverhältnis