Die Gleichgültigen. Alberto Moravia

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Название Die Gleichgültigen
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783945386224



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zuerst an, bevor er antwortete. »Jetzt müsste man ihm ordentlich Bescheid sagen, ihn beschimpfen, einen richtigen Streit vom Zaun brechen und sich am Ende mit ihm überwerfen.« Jedoch fehlte ihm die Aufrichtigkeit; bloß tödliche Ruhe, Ironie, Gleichgültigkeit.

      »Könntest du es nicht einfach lassen«, sagte er ruhig, »du weißt doch besser als ich, wie die Dinge laufen.«

      »Ach, der Schlaumeier«, rief Leo, »der Schlaumeier Michele will sich um eine Antwort drücken, dabei ist es offensichtlich, dass auch du unzufrieden bist. Sonst würdest du nicht ein Gesicht machen wie sieben Tage Regenwetter.« Er bediente sich aus der Schale, die ihm das Mädchen reichte, und fuhr fort: »Ich hingegen, meine Herrschaften, möchte betonen, dass es mir gut geht, sehr gut vielmehr, und dass ich äußerst zufrieden bin, sogar mehr als zufrieden. Sollte ich wiedergeboren werden, dann wollte ich als kein anderer wiedergeboren werden als der, der ich bin, mit exakt meinem Namen: Leo Merumeci.«

      »Glücklicher Mensch!«, rief Michele in ironischem Ton; »aber sag uns wenigstens, wie du das machst.«

      »Wie ich das mache?«, sagte Leo mit vollem Mund; »einfach so …, aber wollt ihr nicht vielmehr wissen«, fügte er hinzu, während er sich einschenkte, »warum ihr drei nicht so seid wie ich?«

      »Warum?«

      »Weil ihr euch über Dinge aufregt, die es nicht wert sind …« Er schwieg und trank; es folgte eine Minute des Schweigens; alle drei, Michele, Carla und die Mutter, fühlten sich in ihrer Eigenliebe gekränkt. Der Junge sah deutlich, wie er war, erbärmlich, gleichgültig und mutlos. Er sagte sich: »Ach, ich möchte dich einmal in meiner Lage erleben.« Carla dachte an das Leben, das sich nicht ändert, und an die Hintergedanken des Mannes. Sie hätte gern gerufen: »Ich habe wirklich Gründe«, aber von allen dreien war es schließlich die impulsive und redselige Mutter, die sprach.

      In dieser allgemeinen Neigung zur Unzufriedenheit mit ihren Kindern auf eine Stufe gestellt zu werden, traf sie, bei der hohen Meinung, die sie von sich hatte, wie ein Verrat. Ihr Geliebter verließ sie nicht nur, sondern machte sich auch noch über sie lustig: »Von mir aus«, unterbrach sie endlich das Schweigen in jenem ironischen und hämischen Tonfall, mit dem man einen Streit anzettelt; »aber ich, mein Lieber, habe gute Gründe, nicht zufrieden zu sein.«

      »Ich zweifle nicht daran«, sagte Leo.

      »Wir zweifeln nicht daran«, wiederholte Michele.

      »Ich bin kein Kind mehr wie Carla«, fuhr die Mutter mit zornbewegter Stimme fort, »ich bin eine Frau mit Erfahrungen, und zwar schmerzhaften Erfahrungen, oh ja, sehr schmerzhaften Erfahrungen«, wiederholte sie, erregt durch ihre eigenen Worte. »Eine Frau, die viele Unannehmlichkeiten und Probleme überstanden und es dennoch immer geschafft hat, ihre Würde zu bewahren und ihre Überlegenheit über die anderen, oh ja, mein lieber Merumeci«, brach es mit bitterem Sarkasmus aus ihr hervor, »alle anderen, Sie eingeschlossen …«

      »Ich hatte nie daran gedacht …«, hob Leo an; nun begriffen alle, dass die Eifersucht der Mutter ihren Weg gefunden hatte und ihn auch bis zum Ende gehen würde; sie alle erkannten unwillig und angeekelt das jämmerliche Unwetter, das sich im ruhigen Licht des Abendessens zusammenbraute:

      »Sie sind es, mein lieber Merumeci«, fuhr Mariagrazia fort und fixierte den Geliebten mit bohrenden Blicken, »der vorhin so leicht dahergeredet hat … Ich bin nicht eine ihrer eleganten und skrupellosen Freundinnen, die einzig ihr Amüsement im Kopf haben und sich so recht und schlecht durchschlagen, heute diesen, morgen jenen … Nein, Sie täuschen sich … ich fühle mich sehr, aber auch sehr verschieden von diesen Damen …«

      »Das wollte ich nicht sagen …«

      »Ich bin eine Frau«, fuhr die Mutter in wachsender Erregung fort, »die Ihnen und vielen Ihresgleichen Lebensart beibringen könnte, die jedoch das seltene Zartgefühl besitzt oder die Dummheit, sich nicht in den Vordergrund zu drängen und wenig von sich selbst zu reden, und deshalb fast immer verkannt und missverstanden wird … Aber darum«, und hier erhöhte sie die Frequenz ihrer Stimme noch einmal, »und weil ich zu gut, zu diskret, zu großzügig bin, aus all diesen Gründen, ich kann es nur wiederholen, habe ich nicht weniger als die anderen das Anrecht, mir zu verbitten, wann auch immer von wem auch immer beleidigt zu werden …« Sie warf noch einmal einen wütenden Blick in Richtung des Geliebten, senkte daraufhin die Augen und begann mechanisch, das vor ihr platzierte Geschirr und die anderen Gegenstände hin und her zu schieben.

      Auf den Gesichtern der Beteiligten breitete sich die allergrößte Bestürzung aus: »Ich hatte doch nie im Leben daran gedacht, Sie zu beleidigen«, erklärte Leo ruhig; »ich sagte bloß, dass ich der Einzige unter uns bin, der nicht unzufrieden ist.«

      »Versteht sich«, entgegnete die Mutter vielsagend, »dass Sie nicht unzufrieden sind.«

      »Mama, jetzt sei doch vernünftig«, warf Carla ein, »er hat dich wirklich nicht beleidigt.« Nun, nach dieser letzten Szene, hatte das Mädchen eine entsetzliche Verzweiflung gepackt: Ein Ende machen, dachte sie mit Blick auf ihre kindische alte Mutter, die gesenkten Hauptes ihrer Eifersucht nachzuhängen schien, ein Ende mit alldem, um jeden Preis etwas verändern. Die absurdesten Lösungen schossen ihr durch den Kopf; weggehen, verschwinden, sich in der Welt verlieren, in Luft auflösen. Sie erinnerte sich der selbstgefälligen Worte von Leo: »Du brauchst einen Mann wie mich.« Das war das Ende: »Er oder ein anderer«, dachte sie, ihre Geduld war erschöpft. Ihr leidender Blick wanderte vom Gesicht der Mutter zu dem von Leo: Das waren die Gesichter ihres Lebens, hart, maskenhaft, verständnislos. Sie senkte die Augen auf ihren Teller, wo die Speisereste im geronnenen Fett der Soße erkalteten.

      »Du«, befahl die Mutter, »hältst den Mund; du kannst das nicht verstehen.«

      »Mein liebe, gnädige Frau«, protestierte der Geliebte, »ich habe genauso wenig verstanden.«

      »Sie«, sagte die Mutter mit Nachdruck und zog die Augenbrauen hoch, »haben mich nur allzu gut verstanden.«

      »Sei’s drum«, setzte Leo nach und zuckte mit den Schultern.

      »Schweigen Sie doch, schweigen Sie doch endlich«, unterbrach ihn die Mutter verächtlich, »es ist besser, Sie sagen gar nichts mehr … An Ihrer Stelle würde ich versuchen, mich in Vergessenheit zu bringen, zu verschwinden.«

      Stille; das Mädchen trat ein und trug das Geschirr ab. »So«, dachte Michele, als er den Zorn allmählich aus dem Gesicht seiner Mutter weichen sah, »der Sturm ist vorüber, jetzt wird das Wetter wieder schön.« Er hob den Kopf. »Und«, sagte er ohne jeden Anflug von Freude: »Ist die Angelegenheit jetzt erledigt?«

      »Vollends«, entgegnete Leo bestimmt, »deine Mutter und ich, wir haben uns wieder vertragen.« Er wandte sich Mariagrazia zu: »Nicht wahr, wir haben uns vertragen?« Ein pathetisches Lächeln erschien auf dem Gesicht der Mutter; sie kannte diese Stimme und den einschmeichelnden Ton aus besseren Zeiten, als sie noch jünger und der Geliebte ihr treu gewesen war:

      »Glauben Sie, Merumeci«, sagte sie und betrachtete eitel ihre Hände, »dass es so leicht ist zu verzeihen?«

      Die Szene wurde sentimental; Carla zitterte leicht und senkte die Augen; Michele lächelte verächtlich. »Na bitte«, dachte er, »umarmt euch, und das war’s.«

      »Verzeihen«, sagte Leo in possenhaft gravitätischem Ton, »ist die Pflicht eines jeden guten Christen.« (Der Teufel soll sie holen, dachte er unterdessen; zum Glück gibt es die Tochter, um mich für die Mutter zu entschädigen.) Er beobachtete das Mädchen unauffällig, ohne den Kopf zu wenden. Sinnlicher als ihre Mutter; rote, fleischige Lippen; sicher bereit, sich hinzugeben; nach dem Essen müsste er es versuchen; das Eisen schmieden, solange es heiß ist, nicht erst morgen.

      »Nun«, sagte die Mutter, jetzt vollends beruhigt, »dann wollen wir christlich handeln und verzeihen.« Ihr bis dahin verhaltenes Lächeln breitete sich nun pathetisch und strahlend über zwei Zahnreihen von zweifelhaftem Weiß aus. Ihr ganzer verfallener Körper erschauerte: »Ach übrigens«, fügte sie in unerwarteter Mutterliebe hinzu, »wir dürfen nicht vergessen, dass Carla morgen Geburtstag hat.«

      »Das feiert man doch jetzt nicht mehr«, sagte