Die Gleichgültigen. Alberto Moravia

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Название Die Gleichgültigen
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783945386224



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war mit Sicherheit der größte.«

      »Einen Augenblick«, unterbrach Michele sie, »ich weiß nicht, was du mir sagen willst …, aber wenn es, wie es aussieht, etwas Schlimmes ist, dann möchte ich doch wissen, wieso du mir das Ganze enthüllst.«

      Sie sahen sich an. »Wieso?«, wiederholte Lisa und senkte langsam den Blick. »Na, weil du mich wahnsinnig interessierst und auch, weil ich dich gern habe und schließlich, das habe ich dir ja schon gesagt, weil gewisse Ungerechtigkeiten mich einfach aufbringen.«

      Er wusste von der Beziehung, die es einmal zwischen Leo und ihr gegeben hatte. »Oder genauer gesagt«, dachte er, »es bringt dich auf, dass man ihn dir weggeschnappt hat, was?«, stimmte mit dem Kopf aber schwerfällig zu. »Da hast du recht, nichts ist schlimmer als Ungerechtigkeit! Also, sag schon, worin besteht dieser Fehler?«

      »Also …, vor zehn Jahren lernte deine Mutter Leo Merumeci kennen …«

      »Du willst mir doch nicht erzählen«, unterbrach Michele sie unter Vortäuschung größten Entsetzens, »dass Leo der Geliebte meiner Mutter ist!«

      Sie sahen sich an. »Tut mir leid«, sagte Lisa mit schmerzlicher Einfachheit, »aber so ist es.«

      Stille. Michele blickte zu Boden und hätte am liebsten gelacht. Seine Abscheu verwandelte sich in ein bitteres Gefühl von Lächerlichkeit.

      »Und jetzt kannst du auch verstehen«, sagte Lisa, »wieso und wie sehr es mich aufgebracht hat, dass deine Mutter von dir verlangt hat, du sollest dich vor diesem Mann demütigen.«

      Er regte sich nicht, er redete nicht. Er sah wieder seine Mutter, Leo und sich selbst, wie er gerade um Verzeihung bat, törichte, mickrige Figuren, hoffnungslos im viel größeren Leben verloren … doch diese Bilder verletzten ihn nicht, noch erregten sie in ihm irgendein Gefühl. Er hätte ganz anders sein mögen, empört, voller Groll, erfüllt von unauslöschlichem Hass. Stattdessen litt er darunter, in einem solchen Maße gleichgültig zu sein.

      Er sah, wie Lisa sich aufrichtete und sich neben ihn setzte. »Komm schon«, sagte sie und legte unbeholfen eine tröstende Hand auf seinen Kopf. »Komm schon …, fasse dich …, ich verstehe ja, dass es wehtun muss …, da lebt man in dem Glauben, dass ein Mensch unserer Liebe, unserer Wertschätzung würdig ist, und dann … bricht plötzlich alles um einen herum zusammen …, aber das macht nichts …, das hier wird dir eine Lehre sein …«

      Er schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen, um nur ja nicht zu lachen. Lisa aber dachte, der Schmerz überwältige ihn: »Durch Schaden wird man klug«, sagte sie pathetisch und honigsüß und hörte nicht auf, mit ihrer Hand über die Haare des Jungen zu fahren. »Das bringt uns näher …, möchtest du, dass ich für dich werde, was deine Mutter war …, sag’s? Willst du, dass ich deine Freundin werde, deine Vertraute?« Sie meinte es aufrichtig, doch ihre Stimme flötete dermaßen falsch, dass Michele ihr am liebsten den Mund gestopft hätte. Aber er bewegte sich nicht, den Kopf hartnäckig gekrümmt. Und sah sich neben dieser Frau sitzen, auf dem Rand des Sofas, halb Büßer, halb Idiot … die Szene kam ihm so lächerlich vor, dass er, um nicht in Lachen auszubrechen, nur eins tun konnte: sich nicht bewegen.

      Lisa wagte sich noch weiter vor: »Du wirst mir Besuche abstatten …, wir werden reden …, wir werden uns bemühen, eine neue Existenz aufzubauen und zu organisieren.« Er schaute sie verstohlen an …, rot unter dem blonden Schopf, rot und erregt. »Ach, so ist das also, wie du vorzugehen gedenkst«, dachte er. Ihm fiel der Verwandte ein, der am Vormittag vorbeikommen sollte. Warum also die ganze Sache nicht ernst nehmen und sich ihrer bedienen? Warum nicht weitermachen mit den Verstellungen?

      Er hob den Kopf: »Das war hart«, sagte er wie jemand, dem es gelungen war, einen großen Schmerz zu besiegen. »Aber du hast recht …, ich muss mir eine neue Existenz schaffen.«

      »Sicherlich«, pflichtete Lisa inbrünstig bei. Darauf folgte eine tiefe Stille. Beide täuschten in unterschiedlicher Absicht eine verträumte, gedankenschwere Zerstreutheit vor. Sie waren reglos beisammen und schauten zu Boden.

      Ein Rauschen. Micheles Arm glitt hinter den Rücken der Frau und legte sich um ihre Hüfte. »Nein«, sagte sie sehr klar und ohne sich zu bewegen oder umzudrehen, als hätte sie auf eine innere Frage geantwortet. Michele lächelte widerwillig, er fühlte, wie ihn eine gewisse Verwirrung durchdrang, und zog sie noch enger an sich. »Nein, nein«, wiederholte sie mit schwächerer Stimme, gab aber nach und legte zerstreut ihren Kopf an die Schulter des Jungen. Schließlich, nach einem kurzen Augenblick sentimentaler Ratlosigkeit, fasste er sie am Kinn und küsste sie trotz des falschen stillen Protests ihrer Augen auf den Mund.

      Sie lösten sich. »Du bist böse«, sagte Lisa und lächelte fast dankbar. »Böse und anmaßend.« Michele blickte auf und sah sie kalt an. Dann flog ein Lächeln über sein hageres, ernstes Gesicht. Er streckte eine Hand aus und kniff sie mit aller Kraft in die Rippen unter dem Arm. »Au, au«, schrie sie, lachte, riss ihren Mund auf und warf sich auf die Seite. »Au, au!« Sie zappelte mit den Armen, den Beinen. Schließlich fiel sie vom Sofa. In einer konvulsivischen Bewegung ihres gesamten Körpers rutschte das Kleid bis zum Bauch hoch, und die weiße Muskelmasse der kräftigen Schenkel kam zum Vorschein. Da lockerte Michele seinen Griff. Lisa setzte sich wieder und streifte den Rock über die Knie.

      »Oh, das war perfide!«, wiederholte sie im Falsett und presste eine Hand gegen ihre keuchende Brust. »Oh, das war perfide!« Michele schwieg und betrachtete sie mit ernster und gewichtiger Neugier. »Stattdessen«, fügte sie hinzu und legte ihm die Hände auf die Schulter, »müsstest du es so tun, schau …« Sie näherte ihre herzförmig gespitzten Lippen denen des Jungen, berührte sie leicht und lehnte sich mit einem zufriedenen Glanz in den Augen wieder zurück. »So müsstest du es bei mir tun«, wiederholte sie dümmlich, um ihre Erregung zu verbergen.

      Michele verzog den Mund, stand auf, ging im Boudoir umher, die Hände in den Hosentaschen, betrachtete die banalen Aquarelle, die an den Wänden hingen. Er war verwirrt und erregt. »Gefallen sie dir?«, hörte er unversehens hinter sich fragen. Er drehte sich um und sah Lisa. »Das ist Schund«, sagte er.

      »Ach, eigentlich sind sie mir immer gut vorgekommen«, sagte die Frau beschämt.

      Sie gingen wieder zum Sofa. Die Schläfen des Jungen hämmerten, seine Wangen glühten. »Das alles ist der letzte Dreck«, dachte er angewidert. Doch kaum hatten sie sich gesetzt, warf er Lisa auf die Kissen, als wollte er sie nehmen. Er sah dieses Gesicht die glänzenden Augenlider schließen und sich einer Ekstase überlassen, die teils widerlich, teils lächerlich war. Der Eindruck war dermaßen stark, dass jede Begierde verschwand. Er küsste kalt ihren Mund und verbarg dann mit einer Art Stöhnen seinen Kopf in ihrem Schoß. Dunkel. »Ich möchte bis zum Ende des Besuchs so verharren«, dachte er, »und sie nicht mehr ansehen und sie nicht mehr küssen.«

      Er spürte, wie sich liebevolle Finger auf sein Haar legten und es glätteten.

      »Was ist mir dir?«, fragte die vertraute falsche Stimme.

      »Ich denke darüber nach«, antwortete er tiefgründig und schloss die Augen, »wie wenig es braucht, um aufrichtig zu sein, und wie wir stattdessen alles daransetzen, in die andere Richtung zu gehen.« Er seufzte: Es war ihm, als habe er über sich selbst gesprochen. »Wieso bin ich hier?«, dachte er. »Wieso lüge ich? Es wäre doch so leicht, die Wahrheit zu sagen und zu gehen.«

      »Genau so ist es«, antwortete die Frau, ohne aufzuhören, ihm weiterhin über die Haare zu streicheln. »Stimmt genau …, aber jetzt brauchst du diese Gedanken nicht mehr zu haben. Du bist auf die anderen nicht mehr angewiesen. Jetzt bin ich da. Wir werden zusammen sein …, nichts auf der ganzen Welt soll uns kümmern.« Diese Worte sagte sie mit einer leidenschaftlichen Stimme, die den Jungen erschaudern ließ. »Wir werden ganz weit weg leben von allem, was dir missfällt, einverstanden? Weit weg von all diesem Dreck, diesem Elend …, du wirst mir dein Leben erzählen, von deinen Enttäuschungen, deinen Traurigkeiten, und ich gebe dir alle Liebe, die ich habe, die ich für dich aufbewahrt habe …, ich werde deine Gefährtin sein, einverstanden? Deine treue, ergebene Gefährtin, so ergeben, weißt du, dass sie dir still zuhört und dich mit ihren Zärtlichkeiten tröstet, so …, so …« Die Hand, mit der sie über