Eine Alte Dame Ging Hering. Rich Schwab

Читать онлайн.
Название Eine Alte Dame Ging Hering
Автор произведения Rich Schwab
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871889



Скачать книгу

Ein heiserer Schrei entfuhr ihm, er latschte auf die Bremse, und wir schleuderten und schlitterten auf die Standspur, wobei ein paar hundert Meter Leitplanke dran glauben mussten. Aber ehe die Karre noch richtig stand, war er schon rausgesprungen und rannte drumherum. Zornig trompeteten ein paar Lkw-Hörner an ihm vorbei.

      »Ha ha!«, hörte ich ihn brüllen, »du Verrückter! Hier steht doch Aral –«, aber da hing ich schon auf dem Fahrersitz, trampelte auf die Kupplung, schmiss irgendeinen Gang rein und ließ die Kiste einen Satz vorwärts machen, dass die Tür zuschlug. Aus dem Satz waren dreißig Meter geworden, ehe er begriff. Fluchend rannte er ein Stück neben mir her, aber ich gewann schnell an Fahrt, und er fiel zurück, kreischend und stolpernd. Im Rückspiegel sah ich ihn auf die Knie in den Schneematsch fallen und sich mit beiden Fäusten auf die Schläfen trommeln. Zwei-, dreimal tauchte seine Silhouette noch als riesiger Scherenschnitt im Licht einiger Scheinwerfer auf, dann verschluckte ihn die Schwärze der winterlichen Dämmerung. Good-bye, baby, don’t call me – I’ll call you*

      ***

      Das Erste, was mir Mühe bereitete, war, die Karre in der Spur zu halten, aber bei Tempo neunzig ging’s dann nach einer Weile einigermaßen. Das zweite war, die Augen offen zu halten – das Frankfurter Kreuz hätte ich beinahe im Schlaf zu Klump gefahren. Ich kurbelte das Fenster runter und ließ mich von dem scharfen Schneeregen ein Weilchen ohrfeigen. Irgendwann kriegte ich auch das Radio in Gang und hörte mir auf SWF 3 die Weihnachtswunschsendung an. Zum Glück kannte ich damals noch das meiste von dem, was sich die Leutchen so zu Weihnachten wünschen – ich sang fleißig und lautstark mit und trommelte das Lenkrad ein bisschen krumm. Höhepunkt war dann eine Nummer, die ich so noch nie gehört hatte – die Musik war ziemlich eindeutig Hang On Sloopy, wenn auch auf 66er Jugendheim-Niveau, aber dazu rezitierte jemand in einer Art Kölsch einen Text über ein Pärchen, das sich in einer Diskothek kennenlernt und miteinander versackt. Zum Refrain war der Band allerdings nichts eingefallen (Wie heißen die – ’Ming Tant’?) – den sangen sie dann einfach normal englisch. Im Bett stellt sich dann heraus, dass Sie ein Er ist. Das war so witzig, dass es in Studentenkreisen garantiert ein Hit werden würde. Ich machte das Radio aus und gönnte es ihnen. Den Studenten auch.

      Und wie soll’s mit deiner Karriere weitergehn, Büb? Ich dachte lange und heftig darüber nach, aber irgendwie blieben meine Überlegungen immer wieder an der nächstbesten Kölschtheke hängen. Und außerdem is’ Heiligabend – da kannste dir auch nächstes Jahr noch den Kopp drüber zerbrechen!Is’ auch wahr, stimmte ich mir zu und kurbelte mir beruhigt noch eine, wobei das Flammenross ein wenig ins Schlingern geriet. Aber auch das kriegte ich wieder in den Griff. You can make it, if you try*

      Auf die Art schaffte ich es bis über die Rodenkirchener Brücke im Süden Kölns, wo der Anblick des Altstadt-Panoramas und des festlich erleuchteten Domes mein sentimentales kölsches Herz erwärmten, und ich kriegte sogar halbwegs elegant, wenn auch in Zeitlupe, die Kurve um den Bonner Verteiler. Aber ein paar hundert Meter die Bonner hoch sah ich schon von weitem einen Pulk Autos die rechte Spur blockieren, eins davon mit einem leuchtend blauen Mützchen, und daneben ging gelegentlich eine rote Kelle rauf und runter. Nette Begrüßung. Ich fuhr rechts ran und stieg aus. Der Diesel lief noch und verpestete die klirrende Nachtluft, aber ich wusste ums Verrecken nicht, wie man so’n Ding auskriegt. Ich latschte zu Fuß weiter und fragte mich, was die Polizeikontrolle auf dieser Straßenseite sollte – normalerweise kontrollierten sie hier nur stadtauswärts. Aber vielleicht suchten sie ja einen verloren gegangenen Tankwagen.

      Kurz vorm Gürtel gab’s dann endlich eine beleuchtete Kneipe. Ohne lange zu überlegen ging ich rein. War zwar nicht unbedingt mein Stil – sie hatten sich alle ziemlich fein gemacht, aus dem Radio säuselte dasselbe Leise rieselt der Schnee, mit dem mich München verabschiedet hatte, und im hinteren Teil des Raumes saßen sie an weißgedeckten Tischen und tranken Sekt mit abgespreiztem kleinen Finger – aber ich ließ die Woge von kölschem Thekengelaber über mich rieseln wie eine sanfte warme Dusche.

      Also ging ich zum Tresen und bestellte drei Bier. Der Wirt – er musste es sein: mächtiger Bauch, rotgeäderte Knollennase, grau-gelbe Tränensäcke, übellauniger Blick – beäugte mich skeptisch, aber er stellte mir drei amtlich gezapfte Kölsch – Schaum bis einen Zentimeter unter dem Eichstrich – auf die Theke. Regungslos beobachtete er, wie ich die ersten beiden in einem Zug runterkippte.

      »Die Rund’ jeiht op misch,« meinte er dann gemütlich, »ävver dann nemmste dir besser ding zwei Fründe un’ jeihs’ met dänne woanders hin. Mir hann jetz’ he jeschlossene Jesellschaff. Kla’?«*

      »Es dat nit en herrlije Sprooch?« strahlte ich ihn an. »Künnt Ihr uns dann en Tax’ bestelle?«, nutzte ich die wunderbare Erfindung des Kölners, sowohl das plump-vertrauliche Du als auch das zu respektvoll-höfliche Sie zu vermeiden. Ein missmutig-gelangweilter Blick ließ mich noch »Ich waade drusse« hinzufügen.

      »Joode Idee«, brummte er und griff zum Telefon.

      »Un’ fruhe Weihnachte’!«*, wünschte ich beim Hinausgehen. Er sah mich an, als hätte ich ein großes Alt bestellt, und nickte ergeben. Am liebsten wäre ich über die Theke gesprungen, um ihn zu küssen und mich dann unter den Zapfhahn zu hängen. You can’t always get what you want*

      Auf dem Zigarettenautomaten neben der Tür lag ein EXPRESS. Ich riss ihn mir unter den Nagel – wer weiß, wie lange man Heiligabend auf ein Taxi warten muss?

      Ziemlich lange. Als es kam, wusste ich schon alles: Ein Herr Khomeini hielt fünfzig Amis als Geiseln, der deutsche Einzelhandel war mit den fünfzehn Milliarden Weihnachtsumsatz zufrieden, Jupp Derwall fuhr trotz eines Scheißspiels gegen die Türkei optimistisch zur EM nach Italien, in Hannover hatte nach dem letzten verkaufsoffenen Samstag ein Herr Krause einen Zettel an den Nachttresor einer Bank geklebt: Automat defekt – Bitte wenden Sie Sich an unseren Mitarbeiter, Herrn Krause – er ist berechtigt, Ihre Geldbomben entgegenzunehmen – woran sich etliche Geldboten denn auch gehalten hatten. Von Herrn Krause fehlte jede Spur. Einen Herrn Diederich jedoch hatte nach zwei Wochen Flucht durch Südamerika das Heimweh nach Köln zurückgetrieben. Von seiner Zwei-Millionen-Beute hatte er gerade mal Zehntausend ausgegeben; den Rest buddelte er gemeinsam mit den Bullen aus dem Porzer Wäldchen. Weihnachten nicht im Knast verbringen musste Drei-Promille-Jenny, obwohl sie sich mit vier Polizisten geprügelt und beinahe gewonnen hätte – Richter Egeling war in Festtagslaune. Und der Chef der Gerig-Musikverlage verschickte als besonders originelles Weihnachtspräsentchen eine Miniorgel mit dreizehn Melodien, die man an seine Hausglocke anschließen konnte.

       Und bei wem soll ich heute Nacht klingeln?

      Als wir auf dem Weg zum Schrebergarten in die Zülpicher einbogen und ich die Reklame vom Savoy sah, wusste ich’s – sie gaben Lucky Luke.

      »Kathrinchen!« Die Nickelbrille des blondgelockten, dezent nach selbstangebauten Tütchen Frühling duftenden Taxifahrers blitzten mich verständnislos an. »Nö, ich mein’ nich’ dich«, beruhigte ich ihn, »die suchen wir jetzt.«

      »Un’ wo?«

      »Gute Frage – wer hat denn dies’ Jahr alles auf, heut’ Abend?«

      »Bin ich vom Fremdenverkehrsamt?« Ich lehnte mich gemütlich an die Beifahrertür und schlug ein Bein über das andere, wobei mir der Aschenbecher aus der Halterung fiel.

      »Hoppla! Keine Ahnung. Aber vielleicht bin ich vom RD?« Die Abkürzung fürs Rauschgiftdezernat kannte er zumindest. Die Nickelbrille zuckte einen winzigen Augenblick lang Richtung Sonnenblende. Lange genug. Ich klappte sie runter und schnappte mir das Tütchen Gras, das dort klemmte. Sah ihn freundlich an. Erwartungsvoll.

      »Das Come Up. Hat aber heute Nichtraucherabend.«

      »Hat was?!«

      »Nichtrauchertag. Jeden Montag. Bombenerfolg.« Mein Jott – ein Jahr weg aus der Stadt, un’ schon stellen sie se auf’n Kopp! Nichtrauchertag in einer Kellerdisco! Hang On Sloopy auf Vorgebirgsplatt! Und was war das – vor ’nem Jahr war hier noch der Schrebergarten – und jetzt ’ne