Paaf!. Rich Schwab

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Название Paaf!
Автор произведения Rich Schwab
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871902



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sind arschklar.«

      Meine auch, dachte sie, fragte sich, wieso er ausgerechnet jetzt, mit einem Fuß in ihrer Wohnung, auf die Formulierung ‚arschklar’ gekommen war, und zog den Ausschnitt ihres Morgenmantels enger um ihren Hals.

      »Meine auch«, sagte sie, und ihr rechtes Bein schob sich einen halben Schritt vor – hatte sie das etwa gewollt? –, und der Stoff teilte sich in der Mitte und zeigte, dass sie vielleicht ein mächtig ausladendes Hinterteil, aber immer noch sehenswerte Beine hatte. Weiße Haut unter mitternachtsblauem Satin. Und ihre Haare waren noch nass vom Duschen, keine albernen Zöpfe, feucht kringelten sie sich um die ersten Falten an ihrem Hals, klebten an ihrem Dekolletee.

      »Gut«, lächelte Zoller, drückte mit der Schulter die Wohnungstür auf und warf Martina die Flasche zu. »Dann können wir ja …« Reflexartig ließ sie ihren Kragen los, um sie aufzufangen – und stand mit einem Mal mit weit offenem Gewand da. Nackt darunter. »Dann können wir das gute Stöffchen ja ein Weilchen atmen lassen, bevor wir Tacheles reden.« Nackt, als habe sie, als habe zumindest ihr Körper auf ihn gewartet.

      Es hatte mehr als ein Weilchen gedauert, bis das Stöffchen überhaupt zum Atmen kam – noch bevor sie in der Küche angekommen waren, um einen Korkenzieher zu finden, hatten sie sich ineinander verheddert (ja, sie hatte gewartet …!), und die erste Runde hatte an der Anrichte begonnen, im Stehen, sie mit hochgeschobenem Morgenmantel, er mit den Jeans auf den Knien, die Lederjacke noch an, a tergo. Direkt vor ihren Augen wackelte der fröhlich bunte Kalender mit den Gemüsen der Saison auf und ab (Kopfsalat! dachte sie und stöhnte, aus mehreren Gründen, und das drei Monate nach Tschernobyl!), neben dem passenderweise gleich die aktuelle Öko-Test-Liste verseuchter Lebensmittel hing – Kohlrabi 27 Becquerel pro Kilo, Kopfsalat 67, Schnittlauch 157, Pilze 774! –, während sie versuchte, sich in die Arbeitsplatte zu krallen und Zoller hinter ihr bewies, dass das Format ihres Hinterteils ihn nicht im Geringsten abtörnte, im Gegenteil. Bis ihr das ein wenig zu einseitig wurde, nicht nur wegen der Cäsium-Belastung, und sie ihn in ihr Schlafzimmer lotste. Mehr als einmal hatte sie gedacht, ich muss das Fenster zumachen, mein Gott, die Nachbarn, was sollen die Nachbarn denken, wenn ich so schreie – aber irgendwie war keine Gelegenheit gewesen, aufzustehen und das Fenster zu schließen, und irgendwann waren ihr die Nachbarn scheißegal gewesen, erst recht, als auch Zoller lauter und lauter wurde, unter ihr und ihrem verhassten, wunderbaren Arsch.

      Das Gespräch danach war sehr viel kürzer gewesen. Anschließend war nicht einmal die Flasche leer, und wie schon so oft hatte sie Zollers Fähigkeit bewundern müssen, das Wichtige an den Dingen zu erkennen, die entscheidenden Zusammenhänge, selbst überraschende Zusammenhänge herzustellen, Bedenken und Gegenargumente vorauszuahnen und mit drei schnellen Sätzen auseinander zu nehmen. Schon deshalb, weil er in der Lage war, weiter voraus zu schauen als jeder andere, den sie kannte, und tiefer in die Leute hinein, die bei seinen Plänen eine Rolle spielten, eventuell eine Rolle spielen würden – ein Simultanschachspieler, ein Feldherr, Napoleon, Churchill, Lucky Luciano, Adenauer. Ein geborener Politiker.

      Und dabei hat er nicht mal Abitur, dachte Martina, und obwohl ihr fast schwindlig war – der Wein, der Sex, die gewagten Strategien seiner Pläne –, hatte sie am Ende zweimal tief Luft geholt … – und Ja gesagt.

      »Jetzt guck dir das an«, hatte Zoller gegrinst und mit einem Nicken auf seine erneute Erektion gezeigt, denn sie saßen nackt auf Martinas Balkon, damit Zoller rauchen konnte beim Reden.

      »Ach, daher kommt das Wort karrieregeil«, hatte sie gesagt. Er hatte sich nach vorne gebeugt, sie saßen sehr eng beisammen, einander gegenüber, so nahe, dass sich zwischendurch immer wieder ihre Knie berührt hatten, und er hatte mit seinen Händen sanft ihre Schenkel auseinander gezwängt. Nicht dass dazu viel Kraft nötig gewesen wäre, und es hatte im Mondlicht geglitzert, und dann hatten sie wieder in ihrem Bett gelegen, und sie wusste nicht einmal mehr, wie sie dorthin gekommen waren.

      Radioaktive Zerfallsprodukte können bei Unfällen in die Umwelt gelangen und in der Atmosphäre über tausende von Kilometern transportiert werden.

      Und das waren sie.

      Genau das war passiert: Der GAU – der größte anzunehmende Unfall.

      Und ihre, Martina Esser-Steineckes große Chance.

       9 – Heinz

       Stuttgart, Montag, 21. Juli 1986

      »Meine Chance«, zischte German Heinz. »Ich fick’ euch alle! Alle miteinander!« Und er meinte nicht die Splitter seines bleichen Gesichts, die ihm kubistisch verzerrt entgegen leuchteten – einer seiner Alki-Wohngenossen hatte die Spiegelscherben krumm und schief mit krumpeligem braunem Paketklebeband wieder übers Waschbecken geklebt. Nein, Heinz sah sein Gesicht nicht einmal; er meinte Schneidereit und Klemens und Sallinger und die Pisser, die ihn damals verpfiffen hatten, um ihren eigenen Arsch zu retten – wegen vier Gramm, das muss man sich mal vorstellen! Er meinte die Bullen und die Staatsanwältin und die Knastaufseher, die tätowierten Knackis und die blöden Sozialarbeiter und die Ärzte in der Reha-Klinik. Und seine Mutter und ihren Heiratsschwindler und die Regierung und die Heroin-Mafia und all die Musiker, die Erfolg hatten mit ihrer Musik, auch wenn es meist in seinen Ohren gar keine Musik war. Und er meinte natürlich das Publikum, das verdammte wankelmütige, treulose, ahnungslose, strunzdumme Publikum, das ihm nicht hatte folgen können auf einem Weg, der doch so klar vorgezeichnet war wie die Gleise eines Intercity.

      »›Der deutsche Coltrane‹!«, zitierte er eine Artikelüberschrift des Jazz-Podium. »Ha! Der olle Trane hätte neunzig werden müssen, um dahin zu kommen, wo ich schon war! Mit dreiundzwanzig! Ich hab’ sie doch alle weggeblasen, vierundsiebzig, in Donaueschingen! Shepp hat Telleraugen gekriegt! Sauer hat sich die Kante gegeben vor Verzweiflung! Ayler wollte nach mir nicht mehr auf die Bühne! Stockhausen wollte abreisen! Der einzige, der mich halbwegs verstanden hat, war doch der Brötzmann!«

      »Sei da mal nicht so sicher«, sagte die mittlere der Scherben. »Als du gespielt hast, saß der mit seinen Kumpels im Adler und hat gebechert!« Der Schock, dass Spiegel sich mit ihm unterhalten konnten, war nicht mehr so groß wie beim ersten Mal, aber wohl fühlte Heinz sich auch diesmal nicht dabei. Schon weil ihn die Ahnung beschlich, dass es nicht wirklich Spiegel waren, die mit ihm sprachen, sondern Stimmen, die nur in seinem Kopf existierten. Wahnvorstellungen also. Dieser Ahnung nachzugehen hätte bedeutet, zu fragen, woher die Stimmen kamen, sich Gedanken zu machen, ob er seinen Konsum noch im Griff habe.

      »Halt die Schnauze!«, sagte Heinz also lieber, riss die sprechende Scherbe von der Wand und pfefferte sie hinter die Toilette. »Ich rede von Kunst! Von Donaueschingen! Von Tantaphos und Sisylos, ihr Banausen!« Verängstigt kniffen die heil gebliebenen Scherben die Augen zusammen, klatschten in die unsichtbaren Händchen und riefen »Oh ja! Tantaphos! Sisylos! Die erste Free-Jazz-Oper! Ein Wunderwerk! Ein Meilenstein! Eine epochale Grenzüberschreitung!«

      Aber hallo, dachte Heinz befriedigt. Er hatte zwar heftige Kämpfe ausfechten müssen, mit den Veranstaltern, mit den Redakteuren des Südwestfunks, mit den Sponsoren – aber er hatte sein Konzept realisieren dürfen.

      »Und was für ein Konzept«, flüsterte er und wiegte bewundernd den Kopf. In der dreieckigen, wimpelförmigen Scherbe rechts unten veränderte sich das Licht, im ganzen Bad veränderte sich das Licht, wurde dunkler, diffuser, blauer …

      Viereinhalbtausend Menschen, ein überwiegend intellektuelles, interessiertes, engagiertes und sachverständiges Publikum, hatten gerade andächtig John Cages Song Books I-III, Version für Vokalensemble und elektronische Klangtransformation gelauscht und anschließend mit höflichem bis Bewunderung zollendem Beifall bedacht, nur stellenweise gestört von Gelächter, Pfiffen und Buhrufen. Dann war Joachim-Ernst Behrend ans Mikrophon getreten und hatte erst Cage gedankt und dann das Publikum um etwas Geduld für eine längere Umbaupause gebeten. Und ihm in seinen gewohnt wohlgesetzten Worten empfohlen, sich derweil schon einmal mental auf ein ganz besonderes