Falling Skye (Bd. 1). Lina Frisch

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Название Falling Skye (Bd. 1)
Автор произведения Lina Frisch
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783649636410



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einmal zum See gewagt habe. Ich stehe auf und spähe ins Unterholz, aber trotz der Stunden, die ich nun schon hier draußen bin, ist noch immer keine Spur von Elias zu sehen. Das Bild meiner Mutter zittert in meiner Hand.

      Sie hat dich verlassen, genau wie Elias dich verlassen hat.

      Ich schleudere die Box von mir und schlage mir die Hände vors Gesicht. Es war eine dumme Idee, die Kiste zu öffnen. Es war eine dumme Idee, überhaupt wieder hierherzukommen!

      Hastig sammle ich die verstreuten Fotos ein, als mir ein hauchdünnes Papier in die Hände fällt, das an der Oberfläche eines der Polaroids haftet. Ein Zeitungsausschnitt aus der New York Times, mehrfach gefaltet, sodass die gedruckten Buchstaben an manchen Stellen schon nicht mehr lesbar sind. Ich halte mir den Artikel dicht vor die Augen.

      »Kristallisierungsprozess gelangt ins Rollen«, flüstere ich, während ich den Artikel im Schein des Mondes überfliege. »Das Weiße Haus bestätigt erste Gespräche über die Klärung von Traits, den bleibenden Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen, anhand derer individuell angepasste Lebensmodelle geschaffen werden könnten. Führende Psychologen sind der Ansicht, dass politische Eklats wie der Cremonte-Skandal durch die Einordnung der Bevölkerung in Rationale und Emotionale in Zukunft vermieden werden könnten. Aber mit welcher Konsequenz? Was würde eine solche Regelung für das Recht jedes Einzelnen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit bedeuten?«

      Unter dem Artikel steht der Name meiner Mutter, Elizabeth Anderson. Dabei war Mum doch Fotografin! Ich will den Zeitungsartikel gerade zurück in die Kiste legen, als ich meine geschwärzten Finger bemerke. Verwirrt drehe ich das zerknitterte Blatt um und entdecke mit Kohlestift gekritzelte Buchstaben auf der Rückseite. Eine Namensliste. Sie ist ein wenig verwischt, aber ich kann sie trotzdem lesen:

       Marike Donalds, 25. August

       Anna Nebrova, 11. November

       Sofia Smith-Carlson, 4. Dezember

       Sol Riviera, 26. Januar

      Und schließlich:

       Elizabeth Anderson, 4. Juni

      Was hat das zu bedeuten? Ich ziehe den Karton heran und kippe mir den Inhalt erneut in den Schoß, wühle mich noch einmal durch die Aufnahmen auf der Suche nach einem weiteren Zeitungsblatt oder einer Erklärung. Doch bis auf einen einsamen Kohlestift in der Ecke der Box finde ich nichts. Keinen Hinweis darauf, warum meine Mutter, eine Fotografin, Artikel für die Times geschrieben hat oder wer diese Frauen sind. Und was soll der seltsame Zusatz über die Konsequenzen der Kristallisierung am Ende des Berichts bedeuten?

      Ich falte den Zeitungsartikel vorsichtig zusammen, sodass die Namen auf der Rückseite nicht noch mehr verwischen, und stecke ihn zusammen mit dem Stift in meine Jackentasche. Vorsichtig streiche ich über das Lächeln meiner Mutter auf dem Polaroid.

      »Wer bist du?« Kopfschüttelnd lege ich das Bild zurück in die Schachtel.

      Ich wünschte, ich könnte mit jemand anderem als einem Gesicht auf einem modrigen Foto sprechen. Meine Gedanken schweifen automatisch zu Elias, doch die Vorstellung, mich ihm anzuvertrauen, fühlt sich nun falscher denn je an. Ich werfe einen letzten Blick auf den See, in dessen Wasser das Mondlicht einen schwankenden Weg zum Horizont zeichnet. Mein bester Freund – der Junge, der mein Herz so beängstigend leicht in der Hand hält – wird nicht mehr kommen, so viel steht fest. Doch anstelle von Verzweiflung spüre ich plötzlich ein Feuer in mir aufsteigen, ein wütendes Brodeln, das rein gar nichts mehr mit dem zarten Flattern von gestern Abend zu tun hat.

      Ich laufe den Pfad zurück, schwinge meine Beine über den quer liegenden Baumstamm und ducke mich schließlich unter dem Absperrband vor der Hecke hindurch, die die Sperrzone von der Siedlung trennt. Ab morgen werde ich dem Konsilium beweisen, dass meine Gefühle für mich zweitrangig sind. Durch meine Mutter, die sich dafür entschieden hat, mich zurückzulassen, und meinen besten Freund, der mich aus gekränktem Stolz verletzt hat, habe ich heute Abend endlich verstanden, was Rationalität wirklich bedeutet. Es geht nicht nur um einen Job mit viel Verantwortung oder einen Platz an einer besonderen Uni. Es geht darum, mich selbst vor dem Schmerz zu bewahren, in dem Gefühle unweigerlich enden, wenn ich ihnen die Macht dazu gebe.

      Eilig gehe ich die Straße hinunter, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Deirdre hat recht. Jetzt ist die Zeit, um an mich selbst zu denken.

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      Regen prasselt auf den sauberen Asphalt und färbt die Straße dunkel. Ich ziehe meine Jacke enger um mich, während Dad mit meinem Koffer zum Auto eilt.

      »Der einzige Haken an der neuen Hauptstadt ist ihr Wetter«, seufzt er und zieht hinterm Steuer seinen Regenüberwurf aus.

      New York hat Washington im selben Moment als Sitz des Präsidenten abgelöst, in dem Amerika zu den Gläsernen Nationen wurde. Seitdem gibt es auch keine Bundesstaaten mehr, sondern Bezirke. Für mich ist es normal geworden, von F und J und L zu reden, aber die meisten Erwachsenen tun sich schwer damit, die alten Namen zu vergessen.

      Mein Vater tritt aufs Gaspedal und ich werde in den Sitz gepresst. Sobald sich der Autopilot eingeschaltet hat, erscheinen auf der Windschutzscheibe die Frühnachrichten.

      »Hat die Suche am Fluss etwas Neues ergeben?«, frage ich beiläufig.

      Mein Vater schüttelt den Kopf. »Wir haben die Fahndung noch heute Nacht eingestellt. Es gab ja auch keine Vermisstenmeldung. Der Junge muss also überlebt haben, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.« Auf der Windschutzscheibe schaltet das Studio zu den anstehenden Beitrittsfeierlichkeiten in Kanada, doch Dad beachtet sie nicht. Stattdessen sieht er mich forschend an. »Wenn du diesen Jungen kennst, Skye –«

      »Tue ich nicht«, falle ich ihm ins Wort.

      Mein Vater nickt. »Ich weiß, dass du deine Freunde für Rationale hältst. Aber es ist nicht jeder wie wir. Wer sich von dem Bescheid so sehr aus der Bahn werfen lässt, dass er sein Leben aufs Spiel setzt, ist ein Musterbeispiel für die Impulsivität, die ihn selbst und andere gefährdet. Vor der wir und bald auch du ihn schützen müssen. Ein Rationaler hätte sich niemals in solch eine Gefahr gebracht.« Dad wendet seinen Blick nicht von mir ab, während das Auto sich selbst durch die Straßen manövriert. »Der Administration läge viel daran, so bald wie möglich mit ihm zu sprechen. Du weißt also wirklich nicht, wer er ist?«

      Ich denke an Colins starren Blick auf den Monitor der Cafeteria, während die Regentropfen auf das Autodach prasseln. Die Testung ist seine Chance zu beweisen, wer er wirklich ist. Genau wie meine.

      »Nein«, sage ich und bemühe mich um einen lockeren Tonfall. »Ich habe keine Ahnung.«

      Die Central Station nimmt hinter den dichten Regenschleiern langsam Gestalt an und Dad parkt ein wenig abseits vom Eingang des alten Gebäudes.

      »Hier steht, dass du zu Gleis 4 musst«, sagt er mit einem Blick auf den Bescheid auf meinem Smartphone.

      Meine Fingerknöchel umklammern den Griff meines Rucksacks so fest, dass sie weiß werden. Um uns herum halten immer mehr Autos, Eltern steigen mit ihren Kindern aus und bleiben mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zurück. Stolz, Selbstsicherheit, Besorgnis. Ich beobachte die anderen Expektanten, beladen mit Koffern und Taschen, die Lippen fest zusammengepresst. Sie sehen ebenso nervös aus, wie ich mich fühle. Meine Finger tasten nach dem Kohlestift in meiner Jackentasche. Ich hasse meine Mutter nicht. Auf ihre seltsame Weise hat sie mich geliebt, glaube ich, genauso wie mein Vater mich liebt, obwohl er es nicht zeigen kann. Bestärkt von dieser Gewissheit, öffne ich die Autotür.

      Dad hält sich zum Schutz vor dem prasselnden Regen die Hand über die Augen, während er meinen Koffer vom Rücksitz auf die Straße hebt. »Soll ich ihn für dich reintragen?«, fragt er, aber ich schüttle den Kopf.

      »Ist nicht nötig, danke.«

      Einen Moment