Falling Skye (Bd. 1). Lina Frisch

Читать онлайн.
Название Falling Skye (Bd. 1)
Автор произведения Lina Frisch
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783649636410



Скачать книгу

diesem Moment ist es mir egal, was zwischen Elias und mir vorgefallen ist. Deirdre und Tom sind für mich noch immer so etwas wie eine zweite Familie. Ich lasse meine Tasche fallen, laufe den Gartenweg entlang und falle in Deirdres feste Umarmung.

      »Du dachtest wohl, du kannst einfach so verschwinden, ohne dich zu verabschieden!« Deirdre lässt mich los und hält mich eine Armeslänge von sich entfernt. »Du siehst erschöpft aus, Liebes. Versuch, heute Nacht ein wenig Schlaf zu kriegen. Und versprich mir, im Zentrum genug zu essen, ja?«

      Ich nicke und Deirdre nimmt meine Hand in ihre. Rauer Verbandsstoff streift meine Haut, und ich drehe ihren Arm, sodass ein quadratisches Pflaster mit dem provisorisch aufgedruckten E zum Vorschein kommt. Erst als Deirdre mir ihr Handgelenk entzieht, merke ich, wie starr ich den Buchstaben fixiert habe, vor dem ich mich am meisten fürchte.

      »Ihr wart also bei der Administration?«, stottere ich.

      Die Testung der Erwachsenen verläuft weit weniger aufwendig als unsere, immerhin kann man die arbeitende Bevölkerung nicht einen Monat lang in ein Zentrum stecken. Nein, Erwachsene müssen ihre Kristallisierung lediglich bei der Administration beantragen und eine Menge Fragebögen ausfüllen. Von Dad weiß ich, dass zusätzlich der komplette Lebenslauf der Antragsteller analysiert wird: Welchen Job haben sie gewählt und wie erfolgreich sind sie darin? Neigen sie zu Wutausbrüchen oder emotionaler Fragilität? Wie unabhängig leben sie? Sechzehn Lebensjahre reichen dagegen noch nicht aus, um die Persönlichkeit eines Menschen auf diese Weise einzuordnen. Leider.

      Ich höre auf, an mich selbst zu denken, als ich bemerke, wie Deirdre das E auf ihrem Verband unbewusst mit der anderen Hand verdeckt. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Deirdre und Tom Rationale sind. Aber wenn ich darüber nachdenke, ist es gar nicht mal so abwegig, denn seitdem ich denken kann, vertraut Deirdre ihrem Bauchgefühl mehr als jedem klaren Gedanken. Sie kennt keine Grenzen zwischen sich und der Welt. Wenn jemand weint, weint sie mit, und wenn Elias und ich einen Wettkampf gewannen, freute sie sich, als wäre es ihr eigener Erfolg. Forschend sehe ich sie an. Sie wirkt nicht unglücklich.

      »Uns blieb nichts anderes übrig, als den Antrag auf Kristallisierung zu stellen«, erklärt Deirdre, als sie meinen Blick bemerkt. »Ich würde niemals etwas tun, was Elias schadet, auch wenn …« Sie stockt, als würde sie sich auf einmal daran erinnern, mit wem sie spricht. Ihr rasch aufgesetztes Lächeln kommt nicht gegen die feinen Sorgenfalten an, die sich um ihre Augen ziehen. »Vielleicht willst du noch mit reinkommen?« Deirdre deutet auf ihre Veranda. »Samuel hat mich gebeten, dir auszurichten, dass es heute spät wird. Sie haben den armen Jungen nirgendwo in der Umgebung des Sees finden können und folgen jetzt dem Flusslauf.«

      Bei dem Gedanken daran, dass Dad die Suchaktion in der Sperrzone leitet, breitet sich ein flaues Gefühl in mir aus. Was, wenn ihm ein Ordnungswahrer meldet, dass die Schülerlisten der Serenity überprüft wurden und niemand fehlt? Wird er die Ermittlungen fallen lassen, oder wird er herausfinden wollen, wer sich in der Nacht des Bescheids in eine gesperrte Zone geschlichen hat?

      »Danke, aber ich muss noch packen«, bringe ich heraus.

      Deirdre nickt. »Na gut. Wenigstens geht ihr beiden dann ausnahmsweise einmal früh ins Bett, anstatt noch Ewigkeiten auf der Fensterbank zu sitzen.« Sie wirft einen Blick die leere Straße hinunter. »Zumindest, solange Elias bald mal auftaucht.«

      Ich stelle mir vor, wie er in diesem Moment mit Jasmine in ihrem weißen Cabrio sitzt.

      »Du bist ein kluges Mädchen. Du musst ab jetzt an dich denken, hörst du?« Deirdres Parfum umfängt mich, als sie mich erneut in den Arm nimmt. »Nicht an deinen Vater, nicht an uns, auch nicht an Elias.« Ihre Haare kitzeln meine Wange. »Du wirst im Zentrum merken, dass die Wahrheit nicht so einfach ist, wie wir sie uns wünschen. Sei vorsichtig, Skye. Und vergiss da drinnen nicht, wer du wirklich bist, in Ordnung?« Sie lässt mich los und presst die Lippen aufeinander, als müsste sie sich davon abhalten, noch etwas hinzuzufügen. Ich nicke abwesend.

      »Wenn Elias nach Hause kommt –« Ich atme tief ein, um den Knoten in meiner Brust zu lösen. »Sag ihm, ich warte auf ihn. Am Baumstamm. Er wird wissen, was ich meine.«

      Elias schuldet mir die Wahrheit. Ob sie mir gefallen wird oder nicht.

      Die Nachtluft fühlt sich wärmer an als gestern, als hätte ein einziger Tag den Frühling mit aller Macht heraufbeschworen. Nie hätte ich geglaubt, dass mein Leben in nur zwei Tagen so unwiederbringlich aus den Fugen geraten könnte.

      Zu Hause habe ich den Inhalt meines Kleiderschranks eher schnell als ordentlich in einen der Koffer vom Dachboden geworfen. Meine Lieblingsshirts, ein paar der Jeans ohne Löcher und Unterwäsche haben zusammen einen beachtlichen Berg ergeben, schließlich weiß ich nicht, ob es im Zentrum einen so banalen Alltagsgegenstand wie eine Waschmaschine überhaupt gibt.

      Ich rutsche vom Baumstamm, laufe den Pfad zu unserem Strand entlang und klettere auf den Felsen.

      »Ich werde immer da sein«, hat Elias gestern hier zu mir gesagt. Wie rasch sich Versprechen in Luft auflösen können. Der Rest des Seils, mit dem wir uns in den See geschwungen haben, hängt noch an dem Baum, sein abgerissenes Ende flattert lose im Wind. Ich wickle grübelnd die harten Fasern um meinen Zeigefinger, bis sie mir das Blut abschnüren. Nichts von alldem, was seit gestern Abend geschehen ist, ergibt einen Sinn. Elias ist ein aufmerksamer, nachdenklicher, sanfter Mensch. Er würde mir niemals absichtlich wehtun. Ich taste nach dem verfluchten Polaroidfoto in meiner Hosentasche, als müsste ich mich davon überzeugen, dass ich mir seine Existenz nicht bloß eingebildet habe, und springe vom Felsen hinunter in den Sand. Auf einmal kann ich diesen Ort nicht mehr ertragen, an dem ich so glücklich war und dessen Erinnerungen mir nun den Boden unter den Füßen wegziehen. Jedes Blatt, jeder Stein um mich herum trägt Elias’ Spur, sein Lächeln, seine Witze. Es gibt nur eine einzige Sache am See, die ganz allein mir gehört.

      Ich bin nicht wegen dieser Bilder hergekommen. Ich sollte das nicht tun! Meine Füße bewegen sich eigenmächtig, zählen die Felsen ab, bleiben vor dem dritten von rechts stehen. Angespannt schiebe ich meinen Arm in die Öffnung im Stein und drehe mein Handgelenk, bis ich die scharfen Kanten der Plastikbox spüre, dann ziehe ich sie hervor. Mit dem Rücken gegen den Stein lasse ich mich zu Boden sinken und kümmere mich nicht darum, dass die Nässe des Sandes durch meine Jeans tritt. Das Klebeband verschließt die Box, in der ich damals wahllos alles versteckte, was ich von Mums Sachen aus der Mülltonne retten konnte, nach vier Jahren nur noch lose. Meine Fingernägel ziehen es mühelos ab. Als ich den Deckel anhebe, spüre ich den Schmerz wieder so frisch wie in jenem Frühling, den Dad und ich so angestrengt versuchen zu vergessen.

      Das Gummiband, das den Stapel Polaroids zusammenhält, zerbröselt bei meiner Berührung. Die Fotos sind ein wenig verblasst, aber ansonsten sehen sie noch genauso aus wie damals, als Mum und ich in einem Meer aus Bildern auf dem Boden saßen und sie der Reihe nach ansahen: ein Marienkäfer auf den Metallstreben der Brooklyn Bridge, ein einzelnes Rosenblatt im Wasserbecken des Ground Zero Denkmals. Mum hat ihre alte Polaroidkamera überallhin mitgenommen, und ich habe es geliebt, die Bilder zu beobachten, während die Dunkelheit ganz langsam Konturen wich und sich in Farben verwandelte. Die monströse Profikamera, die sie für ihre Arbeit bei der Times nutzen musste, würde den Aufnahmen die Seele rauben, hat sie gesagt.

      Je mehr Fotos ich herausnehme, desto enger zieht sich mein Magen zusammen. Dabei sind nicht einmal welche von uns dreien dabei. Bilder von meiner Einschulung oder von Dad und mir, wie wir verunglückte Geburtstagskuchen an Mums Bett bringen, hat er damals als Erstes weggeworfen.

      Die unteren Fotos sind noch nicht so stark verblichen. Sie müssen zu einer von Mums Recherchearbeiten gehören, für Voraufnahmen hat sie auch oft ihre eigene Kamera benutzt. Das erste Bild zeigt eine gertenschlanke Dame um die siebzig, die aufrecht hinter einem wuchtigen Schreibtisch sitzt und der strengen Schuldirektorin in jedem Kinderroman gleicht. Auf dem nächsten lächelt eine Frau mit streichholzkurzem Haar selbstbewusst in die Kamera. Ich blättere mich durch weitere Fotos, bis ein Porträt mich innehalten lässt. Die dunklen Haare der Frau fallen locker auf ihre Schultern, und ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln voller ehrlicher Zuneigung, das jeden Betrachter sofort dasselbe empfinden lässt.

      Mum.