Название | Die heilige Henni der Hinterhöfe |
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Автор произведения | Tim Krohn |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311701644 |
Und weil die Crêpe Georgette andauernd riss, saß Henni oft bei Anna und Olga im Souterrain im vierten Hinterhaus und ließ sich in ihrem herrlich verwickelten Deutsch erzählen, wer wen wie in Russland in den letzten zwei Jahren verraten und beerbt oder verschleppt und ausgehungert und vergewaltigt hatte und danach erschossen, vergiftet, erstochen oder bei lebendigem Leib verbrannt und danach verbuddelt, gehäutet oder in Säure gebadet. Es waren alles Menschen mit wunderbaren, unaussprechlichen Namen und angeblich nur den vorzüglichsten Eigenschaften, einer reizender, großherziger, bezaubernder als der Nächste, jedermann unendlich bedauernswert in der einen Geschichte – »armes Häschen«, riefen die Schwestern dann in seltener Einmütigkeit im Chor und fuchtelten mit dem zerkratzten Lorgnon, und Herr Schirjajew brummte dazu und sabberte braunen Kautabaksaft – und ein kaltherziger Meuchler in der nächsten, ein Jud, nicht wert, noch namentlich genannt zu werden. Darüber stritten die beiden sich auch pausenlos, wobei sie einander weiter liebevoll Anjenka und Oljenka nannten, denn was sie erzählten, waren ja alles Gerüchte. Tatsache war nur, die Menschen waren fort und verschwunden – wie und warum, erzählte jeder Russe anders.
Außerdem lernte Henni von Anna und Olga kochen mit nun aber wirklich gar nichts, darin waren sie noch gewiefter als Mama Binneweis. Aus Wurstpelle, Kartoffelpelle, Binsen und Simsen, die sie am Spreeufer pflückten, dort, wo es matschig war, dazu einem Löffel Riemenfett, kochten sie ein Süppchen, das Henni besser schmeckte als ein paar Jahre später im Westen Rumpsteak flambé und Spargelsalat.
Landeier
Im Frühjahr 20 zogen dann drei Busenfreundinnen aus der Lüneburger Heide ein, die Henni richtig ins Herz schloss, die aber leider zu blöd für die Stadt waren und nicht lange blieben. Minna, Auguste und Bertha waren Ausreißerinnen, die hofften, in Berlin ihr Glück zu machen. Sie kamen mit einer Ziege und drei Hühnern im Gepäck, weil sie offiziell zu einem Schullager an der Ostsee unterwegs waren und Minnas Papa, der Kleinbauer war, gefürchtet hatte, sie müssten dort Hunger leiden. In Kühlungsborn, dort unterhielt ihr Dorf mit ein paar anderen Dörfern nämlich ein Ferienheim. Im Übermut hatten sie beim Umsteigen in Rostock die Fahrkarten getauscht, den Zug in Richtung Wittenberg bestiegen und sich eingebildet, sie könnten dieses Berlin im Vorbeimarsch erobern. Sie waren wie Henni sechzehn und stotterten vor Aufregung, dass sie es tatsächlich nach Berlin geschafft hatten. Henni führte sie in den ersten Tagen ein bisschen rum, zeigte ihnen das Schloss, das Brandenburger Tor, das KaDeWe und wie man die U-Bahn benutzte dafür lernte sie melken.
Die Ziege hatten die Mädels allerdings nicht lange. Die Hühner, für deren Gehege Henni Justus Karnerich mobilisiert hatte, kamen schon in der ersten Nacht weg. Danach hielten sie die Ziege auf dem Dachboden (die drei wohnten zur Untermiete bei Schuster Klapp, im selben Schlag, in dem einst Hendrik »Eene hab ick ja noch« gewohnt hatte), eines der Mädels schlief immer bei ihr und bewachte sie. Doch so eine Ziege ist nun mal weitherum zu hören und zu riechen, und als Minna in der fünften Nacht Wache schob, bekam sie Besuch von unbekannt. Noch im Schlaf fing sie sich eine satte Ohrfeige ein und fasste sich erst, als die Ziege schon meckernd durch die Dachluke geflogen und mit dumpfem Krachen im Hof gelandet war. Als die Lüneburger Mädels im Morgengrauen endlich wagten nachzusehen, brutzelte sie sicher schon in einer Pfanne. Nur der Blutfleck war noch eine Weile zu sehen.
Danach wären sie am liebsten gleich wieder nach Hause, denn auch sonst kamen sie mit dem Stadtleben schlecht zurecht. Sie verstanden die Berliner Schnauze nicht, und wenn sie um Arbeit anstanden, waren sie viel zu langsam, zu höflich und zu scheu. Doch das Geld für die Rückfahrt hatten sie Schuster Klapp gegeben, und den Eltern zu schreiben, trauten sie sich nicht, denn offiziell waren sie ja zur Erholung an der Ostsee. Dass sie stattdessen einen verregneten April lang in einem dritten Hinterhof am Prenzlberg zur Untermiete hockten, ohne Ofen, ohne Geld, ohne Ziege und Hühner, ohne Arbeit oder auch nur ein wenig Hoffnung, schüttelte sie heftig, und keine wollte schuld gewesen sein. Da half es wenig, dass Henni prahlte, wie knafte ihr Berlin war, hatte man sich erst an ein paar Dinge gewöhnt, und sich allerhand Mühe gab, sie auf den Geschmack zu bringen.
In ihrem Mitleid nahm sie sie schließlich mit zu Anna Köchel. »Wenn ihr da keinen Spaß kriegt, weiß ich auch nicht. Und selbst wenn nicht, die Asche für die Heimfahrt verdient ihr da mit einem Wackler mit dem Hintern.«
So hielten Minna, Berta und Auguste durch, bis Anna Köchel von einer Reise zu ihrem Patenkind nach Travemünde zurück war, und an einem Freitagmittag ließen sie sich präsentieren.
»Ach Gottchen, was bringste denn da«, rief Anna Köchel erst nur, denn Landeier waren bei der Kundschaft wenig gefragt. Henni zuliebe fasste sie sich dann aber ein Herz, taufte die Mädels um in Hanny, Fanny und Tilly, schickte sie zu Anna und Olga, dass die ihnen etwas Schmissiges nähten (streng verbrieft auf Kredit), und versprach, sie ihren Gästen am anderen Abend anzudienen. Henni war begeistert, begleitete die drei zu Anna und Olga, und während Maß genommen wurde, brachte sie den Mädchen noch ein paar praktische Sätze bei wie: »Ohne Moos nüscht los«, »Kommste rin, kannste rauskieken«, oder: »Eenmal Küche ausjefeecht macht schlappe Fünfe, für Zehne mach ick mich noch nackich.«
Anna und Olga hatten ihnen aus »loser Raschelware«, wie sie eine olle Gardine nannten, hübsche Schlupfblusen genäht, deren Saum haarscharf dort lag, wo das Bein aufhörte und die Lüneburger Heide zu sprießen begann. Anna Köchel befahl ihnen, die Zöpfe aufzudröseln, rieb ihnen die Backen rot und drapierte sie direkt unterm Lüster auf dem Sofa. Sie sahen richtig süß aus, Henni war tüchtig stolz und überzeugt davon, dass sie Anna Köchel einen Renner beschert hatte. Allerdings futterten Hanny, Fanny und Tilly, noch ehe die Gäste eintrudelten, alle Mettwurst-Schnittchen weg. Danach hockten sie wie die Hühner auf der Stange steif und aneinandergepresst auf der Sofakante, kriegten den Schnabel nicht auf, wenn ein Herr sie ansprach, und Tilly fing auch noch an zu heulen. Anna Köchel bot die Lüneburger Mädels vier Stunden lang wie sauer Bier an, um Mitternacht ertrug sie ihre langen Gesichter dann nicht mehr und jagte sie in ihren Schlupfblusen davon.
Melken
Henni wollte den dreien nach und rannte auf dem Treppenabsatz in Hanny, die hatte noch im Hof kehrtgemacht. Vor den anderen Mädels hätte sie sich ja geniert, sagte sie mit hochrotem Kopf, aber eigentlich hatte sie sich noch gar nicht sattgesehen.
Und ohne ihre Freundinnen blühte Hanny so richtig auf. Erst tanzte sie ganz ungefragt mit Henni um Mitzi Stresemann herum und half die Schleier fangen. Dafür durfte sie zusehen, als Mitzi mit einem der Herren im Zimmer verschwand, und danach glühte sie so reizend, dass sie noch vor ein Uhr die ersten beiden Freier hatte. Das beeindruckte sogar Anna Köchel, sie gab einen Toast auf Henni aus und erkor sie feierlich zur geborenen Kupplerin.
Als Henni auch noch verriet, dass Hanny richtig echt melken könne, und Hanny übermütig rief: »Die Henni kann das aber auch!«, ging es erst richtig rund, denn Anna Köchel arrangierte daraus gleich ein Sonderprogramm. Bis morgens um viere saßen Hanny und Henni breitbeinig auf dem Sofa und molken der Reihe nach alle anwesenden Herrschaften, manche gleich zwei- oder dreimal.
So kam Henni zu ihrem ersten »Fleischkontakt« und ihrem ersten selbstverdienten Geld (abgesehen von den Dackelgroschen und ein paar Trinkgeldern fürs Zusehen). Hanny war von da an Teil der Familie, und weil Anna Köchel neuerdings ein Sonntagsfrühstück anbot, zu dem sie Anita Berbers Frühstücks-Elixier reichte, was Chloroform und noch was auf echte Rosenblütenblätter geträufelt war, dazu gab es Opium in Pfeifen und Morphiumzäpfchen, die man sich gegenseitig verehrte, und weil Hanny Landei natürlich an dem Morgen besonders