Die heilige Henni der Hinterhöfe. Tim Krohn

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Название Die heilige Henni der Hinterhöfe
Автор произведения Tim Krohn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701644



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Bahnhof zu tragen.

      Dort erfuhr er auch, dass alle zivilen Reisen gestrichen waren. Sonst fuhren die Binneweisens im August immer nach Plön, wo Hennis Halbschwestern lebten, die Zwillinge Emma und Ella. Zu fünft oder sechst, je nachdem, ob Mama mitkam, quetschten sie sich in ein Fischerhäuschen an einem der Plöner Seen, das Onkel Albrecht gehörte, und Henni schlief wahlweise unterm Waschtrog oder draußen auf der Veranda, wo es von Mücken wimmelte. So war sie dem Kaiser für den Krieg gleich doppelt dankbar. Und Kuddl hatte noch was zu erzählen: Sonderbarerweise fuhren nämlich die Soldatenzüge gar nicht ostwärts nach Serbien, sondern erst hörte er, die Front sei in Russland, dann hieß es Frankreich. Tatsächlich eroberten die deutschen Soldaten an dem Tag aber Luxemburg und Belgien, was wiederum gar nicht weit von Plön lag, da hätten sie glatt mitfahren können. Was Luxemburg mit den Serben und Herzogin Sophie zu tun hatte, hatte Kuddl niemand erklärt, und auch Henni fand den lieben langen Tag keinen, der es ihr erklären konnte, nicht mal Papa wusste Bescheid. Aber sie beschloss dann für sich, dass der Kaiser schon das Richtige tat und einfach besonders raffiniert war.

      Spione

      Kuddl war lange am Bahnhof geblieben, denn dort gab es viel zu sehen. Der Bahnhof war gerammelt voll mit Wehrpflichtigen, dazu kamen allerhand Truppen auf Durchreise, die in Baracken verpflegt wurden, ehe sie weiterfuhren, und Tausende Schaulustige, die »Hurra« und »Deutschland« brüllten. Die Züge waren bemalt und beschrieben wie für einen Kinderumzug, und die Soldaten in den Fenstern winkten und machten flotte Sprüche. Landsturmleute und Bahnbeamte mit Gewehr bewachten die Bahnsteige, damit kein Spion eine Bombe legte oder eine Achse ansägte. Sah jemand zu fremdländisch aus, wurde er von den Leuten verprügelt und vom Landsturm hopsgenommen, denn man durfte kein Risiko eingehen.

      Das brachte Kuddl auf die Idee, sie könnten auch in der Mietskaserne auf Jagd nach Spionen gehen, bei ihnen wohnte ja eine ganze Reihe Ausländer. Die meisten waren in den Tagen davor aufs Amt zitiert worden, damit sie entweder dem Deutschen Reich die Treue schworen oder interniert oder abgeschoben wurden. Aber Kuddl meinte, er würde wetten, dass der eine oder andere sich noch in der Wohnung verkrochen hielt, und das wäre dann der Beweis dafür, dass der ein Spion sei und nur darauf warte, zuzuschlagen.

      Er machte Henni den Vorschlag, dass sie sich auf die Lauer legten, zum Beispiel unter der Treppe bei den Briefkästen, bis sie einen entdeckten, der vorbeischlich, ihn dann fesselten und im Handwagen auf die Wache führten. Doch als er auf die Idee kam, war es schon fast Mittag, und zu Hause warteten Latkes mit Apfelmus und saurer Sahne, was eine von Hennis Leibspeisen war. Außerdem reichte allein die Tatsache, dass einer zu Hause war, der Polizei kaum als Beweis, dass er auch Bomben legte. Und so entschied Henni, einfach zu klingeln und die Ausländer ins Gesicht zu fragen, wie sie es mit den Serben hielten und ob sie planten, den Krieg zu sabotieren.

      Kuddl fand das doof. »Warum sollten sie dir überhaupt aufmachen, wenn sie sich doch verstecken«, sagte er.

      Doch Henni fand: »Lass mich nur machen«, und zog gleich von Stock zu Stock und Hof zu Hof, um bei allen zu klingeln oder klopfen, die einen komischen Namen hatten oder sonst wie verdächtig waren.

      Sie kannten sie ja alle. »Herr Spolianski«, rief sie durch die Türen, »Herr Sullivan, Frau Chevalier, können Sie mich verstecken?«

      Die meisten machten wirklich nicht mehr auf. Erst im vierten Hinterhaus, zwei Treppen links, kam Herr Fjodorov ihnen sogar nachgelaufen, als sie weiterzogen. »Entschuldige, Kindchen«, sagte er und hielt noch einen Topf in der Hand, in dem er rührte, »ich koche meinen Katzen gerade das Essen und wollte nicht mehr Gas verbrauchen als nötig. Komm nur rein, vor wem musst du Ärmste dich denn verstecken? Kurt, willst du ihr etwa böse?«

      Herr Fjodorov war wohl pensioniert, jedenfalls war nicht ersichtlich, wovon er lebte. Seine Wohnung teilte er mit mindestens zehn Katzen, und so roch er auch. Dafür holte er Henni manchmal, wenn eine der Katzen geworfen hatte, und sie durfte die Jungen streicheln, bevor Herr Fjodorov sie seufzend in einen ausgedienten Futtersack von Fuhrmann Meisel steckte und in der Spree versenkte, weil der Hausverwalter ihm eigentlich schon die zehn anderen Katzen nicht erlaubte.

      »Kuddl doch nicht«, sagte Henni, »nein, wir sind Spione, Herr Fjodorov, und wenn man uns findet, werden wir verkloppt. Sind Sie auch Spion? Also wir jagen ja heute Nacht einen Zug in die Luft, und Sie?«

      Herr Fjodorov brauchte einen Augenblick, bevor er begriff, wovon sie redete, dann lachte er aber und sagte vergnügt: »Wofür habe ich wohl all die Katzen, na, Kindchen? Morgen binde ich jeder eine Bombe um den Bauch, und dann lasse ich sie in der Hauptpost laufen.« Vor ihnen her ging er in seine Wohnung zurück. »Dann kommt mal rein.«

      Doch Henni schüttelte den Kopf. »Etwas in der Art hatte ich eben befürchtet, Herr Fjodorov«, sagte sie traurig, nahm Kuddl an der Hand und rannte mit ihm auf die Straße, um Herrn Fjodorov zu melden. Zwei Schupos holten ihn dann auch gleich ab.

      Henni hatte sich das Enttarnen von Spionen allerdings heroischer vorgestellt, irgendwie blieb ein fieser Nachgeschmack, und so hatte sie beim Mittagessen gar keinen richtigen Appetit.

      »Wer kümmert sich jetzt um die Katzen?«, fragte sie nach einer Weile und überlegte, ihre Latkes zu sparen und ihnen zum Abendbrot zu bringen.

      »Vergiss die Katzen«, sagte Kuddl und mopste ihr die Latkes vom Teller, »denk lieber an die Wohnung, die frei wird. Mensch, drei Zimmer, da kann eine ganze deutsche Familie drin wohnen.«

      Der Heeresbericht

      Leere Wohnungen gab es in den nächsten Jahren allerdings noch viele. Von den drei Salomon-Söhnen zum Beispiel kehrte kein einziger wieder: Einer blieb in Galizien, einer in Sibirien, einer habe, hieß es, aus dem Krieg weglaufen wollen und sei an der holländischen Grenze erwischt worden, der wurde gehenkt. Bald danach zogen auch die übrigen Salomons fort, die Eltern und zwei Mädels, mit denen Henni nie gern gespielt hatte, weil sie nach Salmiak rochen.

      Es gab noch mehr Verluste, und Henni war immer froh, wenn die Hinterbliebenen wegzogen, denn ihre langen Gesichter konnten einem den Krieg verderben. Der war nämlich im Großen und Ganzen sehr lustig, alles geriet drunter und drüber, überall wurde improvisiert, und das führte dazu, dass den Kindern viel mehr erlaubt war. Zum Beispiel waren die meisten Lehrer an der Front, zur Aushilfe kamen ein paar pensionierte zurück, außerdem wurden Frauen angelernt, die mit den Mädchen vor allem strickten. Am Morgen wurde Abgetragenes aufgedröselt, am Nachmittag wurde gestrickt. Das war langweilig, zugegeben, umso langweiliger, als auch Hennis Mama strickte. Sie schloss sich sogar einer Strickgruppe vom Roten Kreuz an, und natürlich wollte sie, dass Henni sich nach der Schule gleich zu ihr setzte. Dafür wurden dann in der Schule Frontpäckchen gepackt. In der ersten Lieferung, schön verziert, schickten sie hundertfünfzig Paar Pulswärmer, achtzig Paar Socken, zwölf Leibbinden und zwölf Paar Kniewärmer in den Krieg.

      Das Abgetragene sammelten sie in der Nachbarschaft, und nicht alles wurde aufgedröselt, vieles ging direkt an die Armen und Kriegsinvaliden, Hosen, Westen, Joppen und Überzieher. Die durften sie einmal selber zur Verteilstelle bringen, und so konnten sie zusehen, wie die Krüppel sich eindeckten. Sie sammelten noch viel mehr: Gummi, Papier, Laub, Kirschkerne, Brennnesseln, Weißdorn, Kastanien, sogar Knochen, aus denen wurde Seife gekocht, leider auswärts, nicht in der Schule. Später wurden auch Zettel verteilt, in denen die Leute aufgefordert wurden, Kriegsanleihen zu zeichnen, damit der Kaiser neue Kanonen und Flugzeuge kaufen konnte, weil die alten nicht reichten, so viel Krieg wurde geführt.

      Über das Gesammelte wurde Buch geführt, und manchmal erkor die Schule eine Sammelsiegerin, die gewann dann eine Murmel, die Oberschulleiter Menke gestiftet hatte – und nicht irgendeine Murmel, sondern eine, die er noch vor dem Krieg gekauft hatte und die ganz tief in Flaschengrün oder Kobaltblau oder einem unbeschreiblichen Lila leuchtete und gleichzeitig fast durchsichtig war. Muranomurmeln hieß die Sorte. Henni gewann nie eine, aber das war ihr nicht wichtig, schließlich brachte Kuddl immer mal wieder eine nach Hause.

      Während nämlich die Mädels dröselten und strickten, durften die Knaben den Heeresbericht studieren, der täglich am Polizeirevier angeschlagen war. Das heißt, jeden Morgen, nachdem die ganze Schule sich im Hof getroffen und entweder