Die heilige Henni der Hinterhöfe. Tim Krohn

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Название Die heilige Henni der Hinterhöfe
Автор произведения Tim Krohn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701644



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»Nichts da, die kriegen unsere Jungens an der Front.«

      Der Krieg geht aus

      Mit jedem Kriegsjahr war der Hunger schlimmer geworden. Schließlich gab es nur noch Steckrüben satt, falsche Buletten aus Heringslake und Kartoffelmehl und zu den Geburtstagen Kuchen aus Kunsthonig, mit Sägespänen versetztem Mehl, reichlich Vanillin und Backpulver – die beiden waren immerhin nie knapp – sowie blauer Milch. Bei Papa war jeweils noch eine Prise Kaffeeersatz drin, das hieß dann »Herrentorte«. Ach ja, und einmal ergatterte Mama um einen Wucherpreis ein Kuheuter, anderes Fleisch war sowieso nicht mehr bezahlbar.

      Viele starben an der Grippe oder am Hunger, auch in der Mietskaserne. Und weil die Ärzte schlecht zu besserer Ernährung oder wärmeren Zimmern raten konnten, hieß es nun einfach: »Kinder an die frische Luft.« Das war Hennis Glück, denn endlich wagte auch Mama nicht mehr, sie in der dusteren Küche stricken zu lassen. Stattdessen schnappte Henni sich ein paar von Kuddls abgetragenen Hosen und Papas Schirmmütze für die Sommerfrische, schob ihr Haar darunter und zog mit Kuddl und seiner »Bande« um den Block.

      Kuddl war es recht, denn die maßgebliche Währung waren immer noch Murmeln, und Henni hatte eine Art, die Jungens zu missachten, dass fast jeder seine beste Murmel gab, damit sie ihn mit ihren moosgrünen Augen mal ansah und so richtig schön fassungslos sagte: »Mensch, hast du eine schöne Murmel – und die ist für mich?!« Die Murmel gab sie dann Kuddl, und der tauschte sie gegen Tabak oder Zucker.

      So wurde das Leben immer bunter, je länger der Krieg dauerte. Nicht nur der Krüppel wegen, von denen es immer mehr gab, und der malerischen Gefangenen, die ab und zu durchs Brandenburger Tor getrieben wurden. Alles fand nun in den Höfen und auf der Straße statt, die Leute verkauften erst ihre Erbsachen, dann klauten sie, zuletzt verkauften sie sich selbst. Je höher der Fleischpreis stieg, desto billiger wurde alles andere. Da waren auf einmal Frauen guter Hoffnung, die ihren Mann seit einem Jahr nicht gesehen hatten, und in vielen Witwenwohnungen wurde die Nächte durchgetanzt. Die alte Frau Meisel meinte ja, es liege alles daran, dass der Schnauzbart aus der Mode sei: »Wirken die Männer nicht viel appetitlicher?« Daran freute sie sich wie Bolle.

      Im Winter 17 gab es keine Kohle mehr zu kaufen, und so schliefen die Binneweisens zu viert in einem Bett, Mama noch in der Krinoline. Frau Meisel fanden sie eines Morgens verhungert und erfroren auf dem Etagenklo und mussten sie so in der Hocke zu Grabe tragen, es war nirgends im Haus warm genug, dass man sie hätte auftauen können.

      Deshalb nahmen Henni und Kuddl und seine Bande im Frühjahr dann auch an einem Streik gegen den Hunger teil, eine tolle Masse Menschen kam da zusammen. Trotzdem war es keine gute Idee gewesen, denn tausend, hieß es, wurden verhaftet und an die Front geschickt, darunter auch zwei Jungens aus der Bande. Danach war für kurze Zeit sogar Henni nicht mehr national gesinnt.

      Im Herbst wurde dann aber in Frankreich Mata Hari erschossen. Frau und Gesellschaft brachte einen achtseitigen Artikel, der sehr romantisch war, und Henni hatte wieder Träume. Spionin wäre sie ja immer noch zu gern gewesen, und mit ihren moosgrünen Augen und ihrem »und die ist für mich?!« rechnete sie sich gute Chancen aus.

      Doch ganz plötzlich, ohne jeden Tusch, ohne Endsieg, ohne auch nur wenigstens eine Rede vom Kaiser war der Krieg vorbei. Die Deutsche Kriegszeitung war wegen Papiermangels schon vor ein paar Monaten eingestellt worden, und an einem nasskalten Novembermorgen blieb auch der Heeresbericht plötzlich aus. Am nächsten Tag war bei Wertheim das Schaufenster mit dem Frontverlauf verhängt, und es hieß, der Kaiser habe abgedankt und sei in Holland. Jemand rief anscheinend die Republik aus, jemand anderer widerrief. Es hieß, auch die Deutschen machten jetzt Revolution, und vor dem Schloss wurde erstmals geschossen. Später hörten sie, Revolution sei nun doch nicht, die Revolutionäre hätten sich gegenseitig niedergemacht. (Das hieß es noch mehrmals.) »Waffenstillstand« stand in fetten Lettern auf den Sonderausgaben, und darunter eine ellenlange Liste mit Bedingungen, die das Deutsche Reich zu erfüllen hatte.

      Zu erfüllen hatte, damit was nicht geschah? Henni begriff überhaupt nichts. Was konnte denn passieren? Die deutschen Armeen hatten doch dauernd gesiegt! Und was war mit den Millionen Kriegsgefangenen und den abertausend Kilometern Landgewinn? Die konnte man doch tauschen! Oder war das alles nichts wert?

      »Wir führen doch!«, rief sie verärgert, und an dem Abend heulte sie richtig dicke Tränen in ihr Kissen.

      Als sie am anderen Tag noch mal zu Wertheim ging, weil dort der Krieg ja vielleicht doch weiterging, war das Schaufenster schon neu dekoriert. Wertheim verkaufte jetzt Schnittmuster, und an Puppen wurde vorgeführt, was sich aus Soldatenuniformen so alles »für Mutter und Kind« schneidern ließ.

      Noch ein paar Wochen lang hing über der Eckbank am Küchentisch ein Blatt, auf das Kuddl in Schönschrift geschrieben hatte:

      Die deutsche Kriegsbeute im vierten Kriegsjahr.

      Berlin, 30. Juli 1918.

      Die Leistungen des deutschen Heeres während des vierten Kriegsjahres kommen in folgenden Zahlen zum Ausdruck: Den Feinden wurden entrissen und von deutschen Truppen besetzt: im Osten 198’256 Quadratkilometer, in Italien 14’423 Quadratkilometer, an der Westfront 5’323 Quadratkilometer (geräumtes Gebiet an der Marne ist abgerechnet), im Ganzen 218’002 Quadratkilometer. Ferner halfen unsere Truppen vom Feinde bzw. von räuberischen Banden säubern: in Finnland 373’602 Quadratkilometer, in der Ukraine 452.033 Quadratkilometer, in der Krim 25’727 Quadratkilometer. An Beute wurden eingebracht: 7’000 Geschütze, 24’600 Maschinengewehre, 751’972 Gewehre, 2’867’500 Schuß Artilleriemunition, 102’250’900 Schuß Infanteriemunition, 2’000 Flugzeuge, 200 Fesselballons, 1’705 Feldküchen, 300 Tanks, 3’000 Lokomotiven, 28’000 Eisenbahnwagen, 65’000 Fahrzeuge. Die Zahl der im vierten Kriegsjahr gemachten Gefangenen beläuft sich auf 838’500, somit hat die Gesamtgefangenenzahl die Höhe von nahezu 3 ½ Millionen erreicht.

      Doch da Klopapier inzwischen rar geworden war, nahm auch die stolze Heeresbilanz 18 bald den Weg alles Irdischen.

      Berlin macht sich frei

      Nachdem der Krieg vorbei war, floss in Berlin erst richtig Blut. Nun ging es nicht mehr gegen die Franzosen, Engländer oder Russen, sondern gegen die Nachbarn. Zu Hause borgte man sich immer noch Wasser für die Toilette, aber auf der Straße war man einander spinnefeind. Justus Karnerich hielt es mit den Roten, Kalle Grafenhuber, der über ihm wohnte, mit den Freischärlern. Professor Hein regierte eine kurze Zeit als Sozialdemokrat mit (dann wollte seine Leber nicht mehr).

      Auch in der Schule gab es welche, die trugen das Abzeichen vom Deutschnationalen Jugendverein oder vom Bismarckbund. Kuddl und seine Bande Gott sei Dank nicht, die wollten nur Spaß, und Kuddl konnte sich herrlich aufregen. Aber er hatte auch recht: Wenn Freikorpskämpfer, das waren die Rechten, sich als Truppen der Regierung verkleideten, die wiederum sozialdemokratisch war (»das Ganze is ja nun ne Republik«), und so am Montag die Kommunisten niederschossen und am Dienstag ein rivalisierendes Freikorps, am Mittwoch wiederum von der Regierung in Dienst genommen wurden, um hochoffiziell einen Streik aufzulösen, weil Polizei und Truppen das nicht »jebacken« kriegten, dann konnte man nur noch für die Kommunisten sein. Andererseits hieß es, die wollten, schlimmer noch als die Siegermächte, alle deutschen Werte zerstören und russische Verhältnisse einführen, und doch, kaum waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg glücklich erschossen und der Spartakusbund aufgelöst, ging halb Berlin auf die Straße und trauerte um die Leute, und die Regierung erschoss gleich noch mal tausend von ihnen. Das sollte jemand verstehen!

      Dazu fiel, seit Frieden war, andauernd etwas aus, mal die Straßenbahn, mal der Strom, das Wasser oder die Post. Das bedeutete meist, dass irgendwo wieder eine Regierung gestürzt und die nächste an der Macht war, aber trotzdem ging alles gleich weiter.

      Und weil ja nun kein Krieg mehr war und kein Endsieg mehr winkte, wurde es schwer, sich im Alltag zu amüsieren. Kuddls Bande gab dennoch ihr Bestes, und Henni trug weiter seine Klamotten auf, nannte sich Henri und war mit von der Partie.

      Im Frühjahr 19 spitzte sich das »Tohuwabohu«, wie Frau Professor Hein es nannte, zu: Schulen wurden besetzt, Direktoren erschossen, auf den Pausenplätzen