Название | Die heilige Henni der Hinterhöfe |
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Автор произведения | Tim Krohn |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311701644 |
Den Bob fand Henni toll, und sie beschloss auch gleich, wie Irene Castle Tänzerin zu werden.
»Ach Kind, muss das sein?«, fragte Mama.
Papa sagte erst gar nichts, dann sagte er: »Was soll man in dieser Zeit auch werden.«
Und als Henni erzählte, dass Fräulein Stresemann fand, sie hätte genau die Beine dafür, und sie ganz ohne Geld anlernen wollte, waren sie doch froh.
Fräulein Stresemann war ihre Nachbarin gewesen, ehe die Binneweisens sich hatten verkleinern müssen. Sie war adrett und freundlich, und als Mama fragte: »Die tanzt doch klassisches Ballett, nicht wahr?«, konnte Henni mit fast reinem Gewissen nicken. Das Ballett war nämlich pleitegegangen, und Fräulein Stresemann tanzte jetzt modern. Und nackt. Bei Anna Köchel. Aber alle Welt tanzte jetzt nackt.
Die Sache mit dem Verkleinern war die gewesen: Nach Kriegsende hatte die Post Arthur Binneweis in eine niedrigere Lohnstufe versetzt – vorübergehend, hieß es –, und sie waren ins vierte Hinterhaus gezogen. Statt einer Wohnung hatten sie nur noch ein Zimmer mit Ofen, Henni hatte ihr Bett unter der Treppe beim Etagenklo. Kreti und Pleti kamen da durch, aber es waren alles gute Leute, außerdem schlief Kuddl einen Stock höher, auch unter der Treppe, und »bewachte« sie. Inzwischen war Kuddl allerdings politisch geworden, besuchte Abendkurse am Schlossplatz und blieb meist die halbe Nacht weg. Das bedeutete, Henni konnte schalten und walten, wie sie wollte.
Ohne das wäre aus ihren Zukunftsplänen auch nichts geworden. Denn Fräulein Stresemann – die sich nun »Mitzi« nannte – unterrichtete sie nachts von zehn bis drei viertel zwölf. »Das heizt mich gleich prima auf«, erklärte sie. Danach, Schlag zwölf Uhr, ging, nein, glitt und hüpfte sie zu Anna Köchel ins Vorderhaus und tanzte sich die Hitze wieder aus dem Leib.
Bereits am ersten Abend lernte Henni eine gute Stunde lang, um Fräulein Stresemann herumzugleiten und -zuhüpfen und »sich der Musik zu öffnen«. Nach Mitternacht lernte sie dann alles andere.
Huren
Als Erstes: Nur tanzen um des Tanzens willen tat niemand mehr. Mitzi Stresemann war, was man eine »Minette«, ein »Kätzchen« oder eine »Kratzbürste« nannte: Mit den Schleiern, die sie einen nach dem anderen fallen ließ, fesselte sie nach dem Tanz elegante Herren und plagte sie gegen gutes Geld je nach Wunsch bis aufs Blut oder »bis zur Erlösung«. Oder beides. Auch Mitzis schöne Füße waren beliebt, und gegen Aufpreis (und ein Pfand von zwanzig Mark) spielte sie auch schon mal »Rennpferd«. Das Pfand war für den Fall, dass vom Ritt oder von der Rute Striemen blieben, die wollte sie nicht haben. Anna Köchel war aber nicht nur Gastgeberin der Schönheitsabende, sie angelte sich Kundschaft auch über Inserate in Zeitschriften, die Die Schönheit, Licht, Luft, Leben oder Nackt-Sport hießen. Dort bot sie sich als Masseuse an, was im Jargon »Fohse« hieß. Und weil Anna Köchel Fernsprechanschluss hatte, vermittelte sie auch gleich noch sogenannte Jungfrauen, das waren damals die Töchter vom Kutscher Schuler, die zwölf, dreizehn und sechzehn waren und, wenn eine Bestellung eintraf, unter großem Hallo der Gesellschaft geschminkt und als Filmstars verkleidet wurden (Milli Schuler, die Jüngste, war besonders süß als Fritzi Massary). Danach wurden sie per Autodroschke ausgeliefert. Henni hätte auch so ein Telefonmädchen werden können – alle waren sich einig, dass sie eine reizende Lucy Mannheim abgab – und hätte in einer Nacht so viel verdient wie Papa Binneweis im ganzen Jahr nicht.
Aber sie wollte gar kein Geld, sie wollte tanzen. Nackig oder angezogen, das war ihr egal, und wenn sie dafür Mettwurst-Schnittchen satt bekam und Sekt, umso schöner. Klar, war ein Herr sehr elegant und roch gut, setzte sie sich auch mal auf sein Knie und ließ ihn tatschen. Aber ebenso gern tanzte sie die ganze Nacht nur für sich – nachdem sie erst die Pflicht erledigt hatte, Mitzi Stresemann zu umhüpfen, »wie eine freche Maus die schöne, träge Persianermieze neckt« –, summte mit geschlossenen Augen zur Musik, satt und bloß, und sagte sich: »Wie angenehm kann doch das Leben sein.«
Und alle waren da. Die schöne, unnahbare Julia Zeiss aus dem Seitenflügel rechts, Gattin eines Uhrenhändlers, entpuppte sich als »Demi-Castor«, das hieß, sie verkaufte sich im Westen, in einem Etablissement erster Güte, sobald ihr Mann in seinem Laden war. Zu Anna Köchel kam sie nur zur Messezeit, da war er in der Schweiz. Nackig machte die sich nie, sie geizte sehr mit ihren Reizen, trotzdem wollten immer drei, vier Männer ihre Anschrift. Fleischers- und Soldatenwitwe Käthchen Kull kam in Strapsen und mit Peitsche. Sie schlug gegen Bezahlung, aber auch sonst, wenn ihr gerade danach war, und verteilte Werbekärtchen, führte sie doch in der stillgelegten Schlachterei von ihrem Hubert selig eine sogenannte Körperkultur-Klinik.
Susi von Leim war hinterm Ku’damm »Apothekerin« und kam zu Anna Köchel auf der Suche nach »Pillen«. Als Henni das hörte, begriff sie erst gar nichts, doch Susi von Leim erklärte es so: »Kommtn Kunde in meine Apotheke und sagt: Ick habe son Leiden, schon zehn Tage, und bräuchte dringend ne blonde Pille, aber nur vom Süßesten. Icke: Kann ick liefern, macht dreihundert bar uff die Kralle, dazu krieg ich Adresse und gewünschte Uhrzeit. Jibt er mir, und ick schick ihm die wirklich zuckersüße Lili Heißenbüttel, kennste, oder? Jüngste von acht Kriegswaisen, wohnt bei uns im dritten, die is blond und haarscharf zehne, wie gewünscht, verstehste? Zehn Tage Leiden heißt zehn Jahre, blonde Pille heißt der kleene Blondschopf. Weil, legal is dit ja nich. Aber wer fragt danach? Ham doch die Heißenbüttelkinder wieder einen Monat wat zu fressen. Du rutschst vielleicht auch noch rein, Henni, wie alt biste? Ick nehm Mädels bis sechzehn.« Als Henni ihr sagte, sie sei ganz zufrieden nur mit Tanzen, lachte Susi von Leim, als hätte Henni einen schmutzigen Witz erzählt: »Du kommst schon ooch noch.«
Anna Köchel besuchten nicht nur einzelne Kunden, auch viele Paare waren da und ganze Cliquen, die es einfach herrlich fanden, nackte Mädels wie eben Henni anzusehen, das brachte ihr Blut in Schwung. Auch dafür hatte Anna Köchel vorgesorgt: Zwei Zimmer mit aufgeschlagenen Betten standen bereit, da durften die Herrschaften sich dann gegen eine kleine Miete verlustieren, und manchmal hüpfte eines der Mädels mit dazu, nur so zum Spaß. Das hätte auch Henni manchmal gereizt, sie sah dann aber doch höchstens mal von der Bettkante aus zu, »damit ich lerne, wie die Sache läuft«. Sogar dafür bekam sie manchmal Trinkgeld.
Das Leben bei Anna Köchel war schon herrlich. Die Krönung war ja, dass ein Fürst von Pappenhofen oder so, einer mit Melone, Stock und Frack, Henni bat, seine Tischfrau zu sein, er wollte einen kleinen Empfang für ausländische Diplomaten geben. Sie hatte schon zugesagt, dachte, als Tischfrau begleitet man den Herrn zu Tisch und plaudert Unsinn, aber denkste. Mitzi Stresemann erklärte ihr, dass Tischfrau die edelste Form von Hure war, die es nur in den teuersten Privatclubs im Westen gab. Tischfrauen tanzten auf dem Tisch, daher der Name. Sie mussten aber nicht bloß tanzen können und den Herrn befriedigen, sie mussten mordsschön sein und alle möglichen Sprachen sprechen, denn ihre Gäste waren Künstler, Filmstars und Politiker. Dass einer sie zur Tischfrau wollte, war also eine große Ehre, und hatte sie dazu noch ein klitzekleines Quäntchen Masel, wachte sie am anderen Morgen auf und war eine Frau Großmogul. Henni sagte trotzdem wieder ab. Ihr reichten Anna Köchels Mettwurst-Schnittchen.
»Wie gut so ein kleines bisschen Elend der Menschheit doch steht«, sagte Anna Köchel oft nachdenklich, während sie und Henni auf all die nackten Hintern und roten Köpfe sahen.
Romanows
Dabei schien es tüchtig aufwärtszugehen. Denn die halbe Welt strömte jetzt nach Berlin. Es wimmelte von Kriegskrüppeln und heimatlosen Soldaten, die nach und nach aus den Lazaretten oder aus Gefangenschaft und den Lazaretten entlassen wurden, von Russen, die alle irgendwie mit dem Zaren verwandt waren, von Landpomeranzen und schnieken Amerikanern.
Die Russen, das waren in Hennis Kaserne zwei Schwestern mit ihrem scheintoten Großonkel. Die Schwestern, selbst schon halb über den Jordan, waren vor der Revolution angeblich Schneiderinnen am Hof der Zarin gewesen, der Großonkel gar Minister. Sie zogen mit Truhen voller mottenzerfressener Pelze, Perücken und viel Brokat ein: Kissen aus Brokat, Hüte aus Brokat, Schuhe aus Brokat. Das meiste speckig und fleckig, weil sie aber behaupteten, an den Sachen klebe das Blut der Zarenfamilie, und auch haarklein von der Hinrichtung