Die heilige Henni der Hinterhöfe. Tim Krohn

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Название Die heilige Henni der Hinterhöfe
Автор произведения Tim Krohn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701644



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dass sie sie regelrecht brüllte), durften zwei Jungen los und den Heeresbericht abschreiben, kamen atemlos zurück ins Klassenzimmer gerannt, weil natürlich die Ehre verlangte, dass sie blitzschnell zurück waren, und dann wurde bei Lehrer Wuppke analysiert und diskutiert, was es bedeuten mochte, wenn da stand: »Zwischen Narew und Bug hielten die Russen in der gestern gemeldeten Linie hartnäckig stand. Der Nurzecübergang ist am späten Abend von unseren Truppen erzwungen. Die Armee des Generals v. Gallwitz nahm 3550 Russen gefangen (darunter 14 Offiziere) und erbeutete 10 Maschinengewehre. Der Ring um Nowo-Georgiewsk schließt sich enger. Auf allen Fronten wurde Gelände gewonnen.«

      Außerdem führte jeder Knabe Buch darüber, wo wie viele Gefangene genommen, wie viele feindliche Schiffe versenkt, wie viele Flugzeuge abgeschossen worden waren und wie viel Kriegsgerät man erbeutet hatte. Auch da gab es nämlich wieder einen Wettbewerb: Wer zum Jahresende der amtlichen Statistik am nächsten gekommen war, gewann wieder eine von Menkes Muranomurmeln. Das war besonders knifflig, weil die amtlichen Zahlen zum Jahresende nochmals ganz andere waren, als die Arithmetik erwarten ließ, und meist gewann einer, der gar nicht gut rechnen konnte, deshalb wurde der Wettbewerb dann auch eingestellt.

      Wie Kuddl (der ziemlich gut rechnete) zu seinen Murmeln kam, erfuhr Henni erst im zweiten Kriegsjahr. Sie hätte auch lieber den Heeresbericht studiert als Pulswärmer gestrickt und kaufte sich von dem Groschen, den die Frau Professor Hein ihr jede Woche dafür zahlte, dass sie ihren Dackel Winnie Gassi führte, sonntags die Deutsche Kriegszeitung. Dort erklärte ein alter preußischer Offizier, der ungenannt bleiben wollte, immer sehr ausführlich, wie der Kaiser den Krieg zu gewinnen gedachte und was in der letzten Woche dafür getan worden war. Und wenn Kuddl sich sonntagabends mit seinen Kameraden bei Wertheim traf, weil dort in einem der Schaufenster auf einer großen Landkarte mit Zinnfiguren und Pappschildern der Kriegsverlauf nachgestellt wurde, und darüber philosophierte und fachsimpelte, wie die Russen oder Franzosen sich aus der Patsche hätten befreien können, in die ihre Dämlichkeit sie immer wieder ritt – denn die Deutschen gewannen natürlich alle Schlachten oder gingen höchstens auf »taktischen Rückzug« und nahmen jede Woche ein paar zehntausend Russen und Franzosen gefangen, sodass es ein unerklärliches Wunder blieb, wieso der Endsieg noch immer auf sich warten ließ –, dann bestürmte Henni ihn jedes Mal, sie mitzunehmen, damit sie überprüfen konnte, was sie gelesen hatte. Und oft wusste sie besser Bescheid als die Jungen.

      Manchmal ließ Kuddl sich erweichen. Das heißt, eigentlich ließ er sich dafür bezahlen, entweder mit Nachtisch oder mit sogenannten »Diensten«, zum Beispiel übernahm Henni das Ofenputzen für ihn.

      Erst als sie zwölf war, hörte das auf. Eines Sonntagabends quetschte sich vor dem Schaufenster bei Wertheim nämlich einer der Kameraden aus Kuddls Klasse, Matze, dauernd von hinten an sie, als könnte er sonst nichts sehen, dabei war er ein so langer Lulatsch. Erst als sie ihm eine schmierte, rückte er ihr von der Pelle, und so bekam sie auch heraus, dass Kuddl doppelt abkassierte. Kuddl verprügelte Matze nämlich danach, und erst dachte Henni, es sei wegen der Bruderehre. Doch Tatsache war, dass Matze Kuddl eine Murmel dafür schuldete, dass er Henni mitgebracht hatte, und die wollte Matze jetzt nicht mehr rausrücken. Offensichtlich nahm Kuddl Henni also immer genau dann mit, wenn wieder einer der Jungen in Henni verknallt war, und dafür ließ er sich bezahlen.

      Wogegen Kuddl danach die Murmeln eintauschte, verriet er ihr nie. Aber jedenfalls bezahlte Henni ihn danach nicht mehr dafür, dass er sie mitnahm.

      Hendrik

      Im dritten Hinterhaus über dem Leierkastenmann wohnte Hendrik zur Untermiete beim Schuster Klapp. Wie Kuddl im Kleinen, handelte Hendrik im Großen. Er war ein kantiger Schlaks mit schwarzem Wuschelhaar, den sie als Kinder immer abgepasst hatten, weil er selbst noch ein halbes Kind war und außerdem so schön erzählen konnte. Zum Beispiel behauptete er, sein »Alter« sei in China beim Boxeraufstand und »Muttchen« samt Hendriks kleinem Bruder Max anno 09 in der Petersburger Choleraepidemie umgekommen, und das habe ihm nicht nur ein nettes Erbe eingebracht, sondern dazu noch Vollwaisenrente. Ob das stimmte, war nicht zu sagen, aber tatsächlich hatte er 1910, mit siebzehn Jahren, Geld genug, um eine ganze Fuhre Gasmasken zu kaufen, fabrikneu, weil gerade der Halleysche Komet im Anflug war und alle damit rechnen mussten, an giftigen Gasen zu sterben. Auf der Straße verschacherte er sie zum vierfachen Preis, außerdem verkaufte er Flaschen mit »Höhenluft«, die hatte er über Nacht einfach geöffnet unters Dach gestellt. Kuddl, der damals acht war, durfte ihm für einen Fünfer helfen, die Etiketten aufzukleben. Als der Komet dann vorbeigerauscht war und kein Mensch vergiftet, kaufte Hendrik die Gasmasken um einen Pappenstiel zurück und lagerte sie seither unterm Dach. »Der nächste Komet kommt ooch noch«, sagte er, wenn der Leierkastenmann Paul Pauli schimpfte, es stinke an den heißen Tagen bis in seine Bude hinunter nach verbranntem Gummi.

      Hendrik machte andauernd Geschäfte. Als der Krieg kam, konnten Frontsoldaten auf Urlaub, die nicht gleich wieder einrücken mochten, bei ihm »Jeschlechtskrankheiten koofen«. Eine Mark kostete eine erfolgreiche Ansteckung mit Tripper, damit landete man für vier Wochen in der Charité – das Honorar der beteiligten Dame wurde separat verrechnet. Für zwei Mark gab es weichen Schanker und sechs Wochen Charité, fünf Mark kostete die Syphilis, dafür war das »jeschlechtliche Vergnügen« gratis, weil die Dame angeblich froh über Besuch war, und mit dem lustigen Soldatenleben war’s ziemlich sicher für immer vorbei.

      Als Hendrik selber einrücken sollte, waren die ungesunden Huren vom Reichsgesundheitsamt leider gerade aus dem Verkehr gezogen worden. Er versuchte sich erst mit Geschenken und »guten Kontakten« zu drücken, da war sein Geld aber schnell alle. Deshalb seifte er den linken Arm dick ein, wickelte ihn über Nacht in nasse Tücher und rannte am Morgen, als er einrücken sollte, mehrmals gegen den Türrahmen. Er hatte sich sagen lassen, dass man sich so sehr zuverlässig den Arm brechen konnte. Der brach und brach aber ums Verrecken nicht, also rückte er notgedrungen ein.

      »Lass ich mich eben durchlöchern wie mein Alter«, rief er alle paar Meter, während er zur Kaserne marschierte.

      Stattdessen war er jedoch schon im Sommer darauf wieder zu Hause, und der linke Arm nicht bloß gebrochen, sondern ganz weg, Handgranate. »So jehts ooch«, sagte er.

      An der Front war er schon wieder reich geworden, er hatte mit Sexcoupons gehandelt. Das deutsche Heer hatte nämlich so ein System, damit die Soldaten »nicht den Feind schwängern«. Dazu gehörte neben Dienstbordellen und ärztlich kontrollierten Damen ein Büchlein mit Coupons, die jeder Frontsoldat bekam, das war seine Ration an Vergnügen. Die Dauer der Bordellbesuche, Tageszeit und Güteklasse der Huren errechnete sich aus Dienstgrad, Heereseinheit und Zahl geleisteter Kampfeinsätze. Wie gut sich mit diesen Coupons handeln ließ, begriff Hendrik, als er selbst im Lazarett war, da lagen Hunderte Rationen brach. Er organisierte sich ein Startkapital und einen, den er »Steher« nannte. Der stand im Heerescasino auf der Matte, denn dort verkehrten die, die ihre Ration Sex bereits verfrühstückt hatten, und verkaufte ihnen Extrarationen. Damit der »Steher« Hendrik nicht behumpste, besorgte der ihm Morphium vom Lazarettarzt.

      Beim Lazarettarzt wiederum, der ebenfalls mit seinen Coupons nichts anfangen konnte, weil er auf »Knabenliebe« stand, legte Hendrik selber Hand an. »Eene hab ick ja noch.« Darüber kicherten Henni und Kuddl am meisten, und »Eene hab ick ja noch« wurde für eine ganze Weile ihr Spruch.

      Hendriks Untergang war, dass er zu ungern ein lohnendes Geschäft ausließ. Er besaß ja noch die Fuhre Gasmasken, die in der Hitze unterm Dach litten, die mussten endlich weg. So schaltete er denn in der Kriegszeitung ein Inserat, wies die »werte Bevölkerung« darauf hin, dass die Franzosen mittlerweile »Giftgas gegen unsere Truppen schleudern«, und riet dazu, den Männern neben dem üblichen Taschenöfchen Marke Vaterland, Kaiser’s Brustcaramellen und Altenhofer Punsch aus der Tube auch eine »Vollgesichtsmaske mit Aktivkohlefilter aus dem Hause Hendrik M.« ins Feld zu schicken. Das Inserat wurde nie gebracht, dafür wurde Hendrik wegen »verleumderischer Volksverhetzung« und Hochverrat verhaftet und doch noch durchlöchert wie weiland im Boxeraufstand sein Alter.

      Justus Karnerich fasste den Auftrag, die Gasmasken zu konfiszieren. Henni hätte zu gern eine zum Andenken behalten.

      »Sind doch schon ganz morsch«, sagte sie und zog an einem Riemen, der auch gleich brach,