Brücken zwischen Leben und Tod. Iris Paxino

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Название Brücken zwischen Leben und Tod
Автор произведения Iris Paxino
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783772543210



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abgemagert, die Knochen drücken sich durch die Bettdecke hindurch, ihre schmerzgekrümmte Gestalt wirkt wie die eines kleinen, dürren Mädchens. Ich frage mich, welches Schicksal wohl diese Frau in ihrem langen Leben zu tragen gehabt hat, und beginne, schweigend ein Gebet für sie zu sprechen.

      Am Abend komme ich wieder, um mit ihren Angehörigen zu reden. Die Patientin bemerkt mich sofort, ihre kleinen, dunklen Augen funkeln, und sie sagt:

       «Ah, Sie waren heute schon einmal da!»

      «Ja», entgegne ich ihr, «morgens bei der Visite.»

       «Nein, nein, Sie waren am Nachmittag auch da, als ich schlief.»

      Ich bin etwas verwundert darüber und denke nach, in welchem Augenblick sie mich hätte wahrnehmen können: «Sie haben doch tief geschlafen, woher wissen Sie das?»

      Sie lächelt: «Ach, Kind, zwischen den Welten sieht man doch nach beiden Seiten hin. Da, wo ich jetzt bin, öffnen sich immer wieder die Türen, hierhin und nach drüben hin.» Sie rückt dann mühsam etwas näher und fügt hinzu: «Schön war das Vaterunser, wie Sie es gesprochen haben.»

       «Ich habe kein einziges Wort gesprochen, es war ein inneres Gebet.»

      «Meinen Sie, das macht einen Unterschied?», sagt sie und lächelt wieder. «Gedanken, alles Innere ist auf der anderen Seite Wirklichkeit. Die Schwelle, ja …»

      Es folgen noch viele intensive Gespräche in den kommenden Tagen, biografische Lebenserinnerungen vermischen sich mit geistigen Wahrnehmungen, die die Patientin in dieser letzten Zeit im Krankenhaus hat. Das scheinbare Durcheinander ihrer Erzählungen, welches die sie liebevoll begleitenden Angehörigen manchmal überfordert, ist keinesfalls ein wirrer, unzusammenhängender Gedankenknäuel. Wenn man sich ihr innerlich ganz aufmerksam zuwendet, erspürt man, wann sie die Ebenen wechselt und in welchem Bewusstseinsbereich sie sich gerade befindet. Man begleitet sie auf wunderbare Reisen durch ihr langes, bewegtes und ereignisvolles Leben. Die fünf Sprachen, die sie in ihrer Jugend fließend sprach, treten nun hervor, sich gegenseitig abwechselnd, die unterschiedlichen Lebensereignisse kolorierend. Die hochbetagte Dame hat eine ansteckende Freude daran, aus dem Französischen ins Englische zu wechseln, bald darauf mit ihrer dünnen Stimme italienische Lieder anzustimmen und russische Gedichte zu rezitieren, um dann wieder mühelos bei Goethes Faust zu landen. – Und dann schläft sie nach diesen «Eskapaden» vor Erschöpfung ein, der Raum ist noch voll von ihrem Lachen und ihrer spitzbübischen Freude. Man fragt sich stets, woher sie diese Kraft noch hat, denn ihr Leib gibt kaum noch eine Grundlage dazu.

      Andere Male aber wechselt leise ihre Stimmung, sie verlässt das Land der Erinnerungen und führt einen in eine andere Wirklichkeit ein, die sie unmittelbar umgibt:

       «In manchen Momenten wird es so hell im Zimmer, es ist ein wunderschönes, helles Licht! Es ist eine solch liebende Kraft darin. Alles ist Licht, alles ist Wärme, alles ist Liebe! Alles ist eins, und wir sind Teil davon, wir sind darin eingebettet … Und da ist eine Gestalt, sie sitzt in der Ecke des Zimmers und wartet. Sie ist meistens da, wenn ich allein bin; aber auch manchmal, wenn Sie da sind. Können Sie sie sehen? Da, im Eck des Zimmers, da sitzt sie.»

       «Können Sie mir diese Gestalt beschreiben?»

       «Ja, sie ist hell und schön, sie ist aus Licht. Ich kann sie auch sehen, wenn ich die Augen geschlossen halte. Sie sieht aus wie eine Frau, ich meine, sie ist keine Frau, wir sagen das nur so, weil sie so schön ist wie eine Frau. Für uns ist eine Frau das Schönste, das wir kennen, aber es ist eine wunderschöne Gestalt, noch viel, viel schöner, und ganz aus Licht.»

       «Wer ist diese Gestalt?»

       «Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist mein Engel. Aber ich weiß es nicht genau. Ich werde es wissen, wenn ich drüben bin.»

      Auf eindrucksvolle Weise teilt die Patientin in diesen Tagen weitere Erlebnisse dieser Art mit. Als mir einige dienstfreie Tage bevorstehen und wir beide innerlich wissen, dass die Zeit des Abschieds gekommen ist, bittet sie mich, noch einmal das Vaterunser zu sprechen, dieses Mal gemeinsam mit ihr. Ich halte ihre kleine, knöcherne Hand, wir schauen uns intensiv in die Augen und sprechen gemeinsam dieses Gebet, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Tiefe Ernsthaftigkeit und gleichzeitig eine lichte, getragene Stimmung prägen diesen Augenblick. Ich fahre weg, mit Tränen in den Augen, zutiefst bewegt von der nahezu magischen Begegnung mit dieser besonderen Frau.

      Zwei Nächte später wache ich gegen 4.00 Uhr auf. Es ist eine stille, kalte Winternacht, der Mond wirft leichte Schatten ins Zimmer. Auf einmal spüre ich rechts oberhalb von mir eine Gestalt und erkenne das Geistwesen dieser lieben Patientin. Es geht eine sanfte, lichte Stimmung von ihr aus. Sie sagt, dass sie nun gehen wird, ihre Zeit sei gekommen und sie fühle sich nun ganz frei und voller Friede. Sie wolle sich verabschieden und mir noch einmal für unsere so innige Begegnung danken. Wir würden uns eines Tages wiedersehen und sie sei immer da, das solle ich nicht vergessen. Ich spürte noch einmal ihre ganze Seelenwärme, und ihre Gestalt löste sich dann für meine Wahrnehmung auf. Ich empfand, kaum merklich, nur noch einen zarten Windhauch, der mich wie ein sanftes Lächeln leise berührte.

      Ich schaute auf die Uhr, es war 4.07 Uhr. Nach dem Morgengrauen zog ich mich an und fuhr in die Klinik. Die Pflegenden auf der Station empfingen mich sehr überrascht:

       «Frau Doktor, was machen Sie hier? Sie haben heute doch gar keinen Dienst.»

       «Frau B. ist heute Nacht gestorben, oder? Wissen Sie, um wie viel Uhr das war?»

       «Ja, sie starb um kurz nach 4.00 Uhr. Aber woher wissen Sie das?»

      «Nur so ein Gefühl …», erwiderte ich.

      Dann betrat ich das Patientenzimmer, wo die Dame von den Pflegenden gewaschen und zurechtgemacht wurde. Sie hatten ihr ein weißes, schönes Kleid angezogen, sie wirkte, trotz der unzähligen Falten, fast wie ein junges Mädchen. Auf ihrem Bett waren überall Blumen gestreut worden, es war ein unbeschreiblich schöner Anblick. Ich schaute ihr Gesicht an, ein liebevolles Lächeln hatte sich ihm eingeprägt. Und ihr Antlitz blieb bis zur Beisetzung sanft strahlend, so wie ich sie in der Nacht ihres Todes erlebt hatte. Sie war meine erste Patientin, die starb. Ich bin ihr bis heute zutiefst dankbar dafür, dass sie mich in dieser Weise an ihrem Tod hat Anteil nehmen lassen.

      Selten habe ich einen ähnlich harmonischen Sterbe- und Todesprozess erlebt. Trotz physischer Schmerzen und einer zermürbenden Krankheitsphase war diese Frau ihrem Schicksal gegenüber annehmend und bejahend geblieben. Sie lebte ganz dem Augenblick hingegeben, ihre Seele war freudig und offen wie die eines Kindes. All dies hat ihrem Schwellenübergang diese anmutige, würdevolle Prägung gegeben. Wenn der Tod eines Menschen in dieser Weise geschehen kann, so ist das eine Gnade.

      Es ist jedoch nicht unbedingt der Regelfall, dass ein Mensch in dieser Weise stirbt. Sein physischer Zustand, seine seelische Verfassung, die bewusste und unbewusste Haltung gegenüber dem Tod wie auch die Art seines Todes spielen dabei eine entscheidende Rolle. Somit hat der Schwellenübertritt eine ebenso individualisierte Signatur wie auch die Geburt eines Menschen.

      Schwierigkeiten des Schwellenübergangs

      Freund, so du etwas bist, so bleib doch ja nicht stehn;

      Man muss aus einem Licht fort in das andre gehn.

       Angelus Silesius: Der cherubinische Wandersmann

      Die Prägung unserer Kultur lässt uns im Zusammenhang mit dem Todesgeschehen ein unmittelbares Angstempfinden verbinden, welches in Qualität und Intensität von Mensch zu Mensch variiert. Es gibt unterschiedliche Formen von Angst, bewusste oder unbewusste, überwältigende oder schleichende, offensichtliche oder subtile. Doch in all ihren Formen schnürt die Angst das Seelenerleben zu und schränkt die eigene Wahrnehmung ein. Eine Abwehrhaltung gegenüber dem Tod spiegelt sich meist unmittelbar im Sterbegeschehen wider. Das kann so weit führen, dass der Todesprozess