Brücken zwischen Leben und Tod. Iris Paxino

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Название Brücken zwischen Leben und Tod
Автор произведения Iris Paxino
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783772543210



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wie nach innen, Kindheitserinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit wurden in ihr lebendig. Sie berichtete von der Mutter, von den gemeinsamen Jahren, vom Tod der Mutter. «Und wissen Sie, sie ist so jung jetzt, viel jünger als damals, und so schön, so strahlend! – Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich werde dort erwartet. Ich habe auch keine Angst mehr, es ist nur ein Übergang. Das weiß ich jetzt.»

      Wenige Tage später verstarb die Patientin im Beisein ihres Lebensgefährten, ruhig, gefasst und bei klarem Bewusstsein.

      Szenenwechsel, ein anderes Patientenzimmer: eine Dame, Mitte fünfzig, die noch sehr mit ihrer Erkrankung hadert. Es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass ihr Leben nun schon so früh zu Ende gehen sollte. Eines Tages flüstert sie mir unerwartet zu:

       «Ich sehe ständig eine Gestalt am Fenster. Ich habe nie an so etwas geglaubt, aber sie ist immer wieder da. Ich bin zwar krank, aber nicht verrückt. Können Sie sie auch sehen?»

      Ich sehe hin und schaue ihren Engel. «Ja, da ist jemand. Können Sie selbst erkennen, wer das ist?»

      «Sie kommt mir so vertraut vor, die Gestalt, als ob ich sie schon immer kennen würde. Aber ich habe sie bisher noch nie gesehen.» Sie dachte und spürte nach, und nach einem langen Schweigen erhellte sich das Gesicht der Patientin. Ganz leise sagte sie: «Es ist meine ‹Engelin›. Man spricht sonst immer von Engeln, aber für mich erscheint sie wie eine Engelin.»

      Es war ein ganz besonderer, inniger Augenblick. Der Ausdruck «Engelin» klang für mich selbst überraschend, umso wichtiger fand ich es, dass die Patientin ihre Wahrnehmung zulassen und entsprechend auch ganz authentisch bezeichnen konnte. Ab diesem Augenblick veränderte sich ihr seelischer Zustand. Es war für sie wie ein Aufatmen, sie begann, ihre Erkrankung anzunehmen, und wir konnten bis zu ihrem Tod intensive verarbeitende Gespräche führen.

      Eine andere Patientin, eine recht ruppige und wenig freundliche ältere Frau, die schon seit längerer Zeit bettlägerig war, empfing mich eines Tages zwar wie immer in ihrem Bett, aber wie zum Ausgehen fertig angezogen. Sie hatte ihren Schmuck angelegt, ihr schön gestricktes Wolljäckchen angezogen, die Schuhe standen fein nebeneinander direkt am Bett.

      «Was ist denn los?», fragte ich sie, «wo möchten Sie denn hin?»

       «Wissen Sie, ich werde abgeholt. Meine Mutter ist gekommen.»

      Mein Verstand fing kurz an nachzurechnen: Die Patienten ist Anfang achtzig, die Mutter müsste mindestens hundert Jahre alt sein, das kann sie also nicht gemeint haben. Mir wurde klar, um was es ging, ich wollte aber nicht vorgreifen und fragte:

       «Wie meinen Sie das? Lebt Ihre Mutter noch?»

      «Nein, natürlich nicht», antwortete sie barsch, «aber sie ist trotzdem gekommen! Heute Morgen, da …» und zeigte auf das Eck des Zimmers, «da stand sie. Ich habe sie ganz deutlich gesehen.»

       «Ach ja? Und was hat denn Ihre Mutter gesagt?»

       «Sie hat gesagt: ‹Ich komme dich holen. Wir warten schon auf dich.› Und sie war so schön und so jung, meine Mutter. Wissen Sie, sie hat so jung ausgesehen wie zu meiner Kinderzeit, und sie hat so lieb ausgeschaut und war ganz aus Licht.»

      Und nach einer Pause fügte die Patientin wieder in ihrer ruppigen Art hinzu: «Also, das heißt: Ich gehe jetzt! Ich muss jetzt gehen, oder?»

      Ich schaute mir die Dame noch einmal genauer an. Sie machte, trotz des fortgeschrittenen Alters und der sehr schweren Erkrankung, keinesfalls den Eindruck, unmittelbar an der Schwelle zu sein. Bis zur besagten Begegnung war es ihr nicht möglich gewesen, auf ihr Leben zurückzublicken oder ihren eigenen Sterbeprozess in irgendeiner Form zu gestalten. Recht schroff zu allen, die sie umgaben, hatte sie bis dahin tiefer gehende Gespräche verweigert. Ihre trotzige Haltung war durch die Begegnung mit ihrer verstorbenen Mutter jedoch einer staunenden Klarheit und Offenheit gewichen. Ich sagte ihr dann: «Wir gehen alle irgendwann, und Sie natürlich auch, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie jetzt gleich gehen müssen. Es ist sehr schön, dass Ihre Mutter da war, und es ist wunderbar, dass Sie wissen, Sie werden erwartet. Aber jetzt lassen Sie uns doch mal schauen, ob Sie hier noch etwas zu erledigen haben. Gibt es noch etwas, was Sie tun möchten? Sind Sie wirklich bereit, Abschied von diesem Leben zu nehmen?»

      Nun wurden endlich Gespräche möglich. Durch die Erscheinung der Geistgestalt ihrer Mutter gerührt, ließ die Patientin nun Kindheits- und Lebenserinnerungen zu. Vom Krieg geprägte Erlebnisse und Schicksalsschläge, auch schöne und freudevolle Augenblicke ihres Lebens kamen zur Sprache. Sie litt nun schon an Altersdemenz, sodass wir ihren Lebenslauf nicht strukturiert durcharbeiten konnten, aber einzelne Bilder und farbenfrohe Stimmungen leuchteten in ihrer Seele wieder auf. Nach nur wenigen Wochen starb sie befriedet. Ganz ihrem Wesen entsprechend, hat sie sich hierfür einen Augenblick ausgesucht, in dem sie ganz allein war.

      Durch die Arbeit mit sterbenden Menschen ist mir überaus deutlich geworden, wie wichtig die biografische Arbeit ist, auch wenn diese erst ganz am Ende eines Menschenlebens erfolgt. Dadurch, dass da ein Gegenüber ist, jemand, der achtsam Fragen stellt und aufmerksam zuhört, bildet sich ein feiner, reiner Wahrnehmungsraum. Je vertrauensvoller und offener der Patient dabei ist, desto empfänglicher wird er für die innere Wahrheit seines eigenen Lebens. Ereignisse seines irdischen Weges erscheinen ihm dabei in einem neuen Licht, Zusammenhänge und Rhythmen seines Lebenslaufs lassen sich erschließen, Verdrängtes kann zumindest teilweise noch zum Vorschein kommen. Auch Schmerzhaftes kann seelisch noch heilen. Der Mensch vor der Schwelle erhält so die Möglichkeit, vieles zu klären und zu lösen, was sowohl auf den eigenen Todesprozess als auch auf die spätere nachtodliche Entwicklung positive Auswirkungen hat.

      Ungelöste und verdrängte Erlebnisse wirken nach dem Tod stark hemmend, von daher hat es eine befreiende Wirkung, wenn solche Dinge noch vor dem Schwellenübertritt erkannt, benannt und als zu sich selbst gehörend angenommen werden. Entscheidend in diesem Prozess ist das Verzeihen und Vergeben, anderen und – nicht minder von Bedeutung – sich selbst. In vielen Lebensläufen begegnet man ungeklärten zwischenmenschlichen Verhältnissen, Vorwürfen oder Groll, unbewältigter Wut und ungelöstem Zwist. Wenn es die Situation ermöglicht, ist es hilfreich, wenn der Sterbende diese Sachen mit den entsprechenden Menschen noch persönlich klärt und bereinigt. Doch wenn keine gemeinsamen Aussprachen mehr möglich sind, ist auch ein allein vollzogener Reinigungsprozess förderlich und entlastend. Dieser Akt bildet eine geistige Realität und hat somit Auswirkungen auf das weitere Verhältnis dieser Menschen.

      Es geschieht auch wiederholt, dass Menschen am Ende ihres Lebens noch etwas mit jemandem abklären möchten, der bereits verstorben ist. In diesen Fällen wird stets das Bedauern ausgesprochen, dass man denjenigen nicht mehr erreichen kann, um ihn beispielsweise um Verzeihung zu bitten. Doch auch hier kann der Sterbende dazu ermutigt werden, sich dem entsprechenden Verstorbenen innerlich zuzuwenden und aufrichtig das auszusprechen, was ihm auf dem Herzen liegt. Dies übt ebenfalls eine reale Wirkung aus und wird von der nachtodlichen Welt viel unmittelbarer aufgenommen, als man sich dies allgemein vorstellt.

      Insgesamt bewirkt der bewusste Umgang mit dem eigenen Lebenslauf Klärung und Reinigung. Durch diese Arbeit entsteht meist tiefe Dankbarkeit für das Gewesene, für die Wunder und die Geschenke der eigenen, ganz einmaligen Biografie. Jeder Lebensgang hat seine eigene Signatur, seine Reichtümer, seinen Schmerz, der wiederum seinen Beitrag zur Entwicklung leistet und somit einen tiefen Sinn erfüllt. Im Anschauen des biografischen Lebensbogens leuchtet die Kraft des eigenen höheren Ichs auf, welches diese Inkarnation angelegt hat und welches der Lenker in den entscheidenden Lebensereignissen gewesen ist.

      Davon ausgehend kann auch aufmerksam darauf geschaut werden, welche Impulse in diesem Leben nicht umgesetzt werden konnten. Welche Versäumnisse gab es, welche Chancen wurden nicht genutzt? Es geht dabei keinesfalls darum, diese Dinge als persönliches Versagen zu werten, sondern sie als Keime für eine weitere Zukunft mitzunehmen. Das zu Ende gehende Leben eines Menschen spannt nicht nur einen nach hinten gerichteten Bogen über die bereits gelebte Vergangenheit, sondern entwirft auch einen Schicksalsbogen in die Zukunft hinein. Der eigene Engel hütet diese