Krähenflüstern. Regine Kölpin

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Название Krähenflüstern
Автор произведения Regine Kölpin
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264447



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Linda. »Du hast doch den ganzen Tag gearbeitet!«

      Sinje winkte ab. »Organisation ist alles«, strahlte sie. »Hatte am Morgen schon alles vorbereitet, der Backofen ist programmierbar …«

      Von nebenan hörte man Thiemo wieder fluchen.

      »Ich kenne ihn so gar nicht. So schlecht gelaunt.« Linda runzelte die Stirn.

      »Im Augenblick ist nix mit Sunnyboy, was?« Sinje schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte es Linda. »Komm, iss! Lass die beiden das mal machen. Seine Laune wird schon wieder besser, wenn der Spaß hier vorbei ist.« Sie nahm sich selbst auch ein Stück. »Hanno ist jetzt in seinem Element«, sagte Sinje kauend. »Es gibt einfach nichts, was er lieber tut, als den Retter zu spielen. – Ganz schön nervig manchmal.«

      »Musst du heute nicht mehr arbeiten?«, fragte Linda.

      »Nein, habe frei. Und Hanno hat Schlechtwetter!« Sinje kaute bereits am nächsten Stück Kuchen.

      »Haben die Männer denn bei solch einem Wetter nachher überhaupt Training?« Linda sah auf die Uhr. Freitagabends nahm es Laurins Tagesmutter immer sehr genau.

      »Die trainieren immer. Fußballer eben« sagte Sinje. »Solange sie nur trainieren …«

      Linda sah auf und entdeckte in Sinjes Gesicht zum ersten Mal etwas Nachdenkliches, das so gar nicht zu ihrem fröhlichen Gemüt passte. »Wie meinst du das?«

      »Ach, nichts. Männer eben.«

      »Du meinst, Bier trinken in der Kneipe und so?«

      Sinje nickte schnell und Linda dachte für den Hauch des Moments, dass ihre Nachbarin vielleicht auch noch etwas anderes für möglich halten könnte. Doch sie wehrte die Vermutung ab. Sinjes Andeutung sollte sich nicht in ihrem Gehirn einnisten wie eine Schlange und womöglich, wann immer es ihr beliebte, wieder zum Vorschein kommen, um das Vertrauen, das Linda in ihren Mann hatte, zu vergiften.

      »Wenn Hanno Thiemo jetzt ohnehin noch die halbe Stunde hilft, bis sie zum Fußball müssen, kann ich ja ohne schlechtes Gewissen losfahren, oder?« Linda zuckte mit den Schultern. »Ist immer viel Organisation mit einem Kind.«

      »Sei froh, dass du eins hast«, sagte Sinje und verschlang ein weiteres Stück Butterkuchen.

      1969

      Sie ist nicht zurückgekommen. Der Treter hat gesagt, wahrscheinlich sei sie eine Nutte, die dürften ihre Kinder nicht behalten. Seine Mutter sei auch so eine. Bumst mit jedem für viel Geld. Er sei ein Wechselbalg von irgendeinem idiotischen Freier, der die Gummibarriere durchbrochen hat. »Du bist eben ein Nichts in so einem Spiel«, sagt er.

      Der Junge nickt. Er hat keine Ahnung, was eine Nutte ist, aber der Treter hat sicher recht. Er weiß alles.

      Manchmal macht er mit den Jungen seltsame Sachen auf dem Klo. Der Junge hat Angst, vor allem, als der Treter meint, demnächst sei er dran. So ein fünfjähriger Hintern hätte was.

      Er ist aber nie dran, weil er Schmiere stehen muss. Dabei hört er komische Geräusche, manchmal ein leises Weinen. Dann wird der Treter wütend, schlägt zu. Der Junge legt seine Hände an die Ohren und hält die Klappe. Es ist besser, still zu tun, was der Treter sagt. Einfach nicht auffallen, das machen, was ihm befohlen wird. Der Treter ist schon vierzehn und der Älteste hier. Er sorgt für Ordnung, hat die schwarze Frau gesagt.

      »Irgendwann schnapp ich mir eine der Nonnen, irgendwann«, lacht der Treter, nachdem er mit zwei von den kleineren Jungs im Klo gewesen ist. Sie wischen sich verstohlen die rotgeränderten Augen, verschwinden schnell und lautlos, als seien sie nie da gewesen.

      »Du machst deine Sache gut, heißt von jetzt an Schmierlapp.« Der Treter klopft dem Jungen leicht auf die Schulter. »Schmierlapp. Von Schmiere stehen.«

      Der ist glücklich. Bislang ist er wie ein Chamäleon durch die Räume geschlichen, hat versucht, vor allem dem Treter nicht aufzufallen, aber jetzt ist er wer, hat eine Identität. Er hat einen Namen. Jeder, der hier jemand ist, hat einen Namen. Nicht den, den die Schwestern und Pfleger benutzen, sondern einen besonderen, einen, der die Jungen erst dazugehören lässt. Und den der Treter erfunden hat.

      Es ist die erste Nacht, in der der Junge nicht ins Bett macht und durchschläft.

      Montag, 20.3

      Der letzte Möbelpacker hatte soeben das Haus verlassen. Linda ließ sich auf eine der Umzugskisten fallen und sah sich um. Es würde dauern, bis sie in dem neu gebauten Haus so etwas wie Atmosphäre geschaffen hatte. Noch gehörte es nicht wirklich zu ihnen. Sie würde es heimlich nach ihren Vorstellungen polen, aufpassen, dass alle positive Energie gut fließen konnte. Leicht würde es nicht werden, das vor Thiemo geheim zu halten. Wenn er mitbekam, dass sie das Haus unter diesen gewissen Gesichtspunkten einrichtete, würde er vermutlich sauer werden, wie immer, wenn es um das Thema ging. Er hatte einfach kein Verständnis dafür. Es war der einzige Punkt, an dem sie jedes Mal richtig aneinandergerieten. Linda konnte sich auch nicht erklären, weshalb. So schlimm war es ja nun nicht.

      Für Thiemo gab es nun mal kein »Dahinter« im Leben. Dabei war es so wichtig, in einer guten Atmosphäre zu leben. Linda seufzte leise und dachte dann an das kurze Gespräch, das sie nach langer Zeit mal wieder mit ihrem Vater geführt hatte.

      »Das dauert, bis ein Haus richtig zu einem gehört, Linda«, hatte er am Telefon gesagt. »Ich weiß noch, wie es bei uns damals war, als wir eingezogen waren. Mit dir als Säugling.« Dann hatte er geschwiegen und kurz danach aufgelegt. Weil ihn die Erinnerung an Lindas Mutter übermannt hatte und er deshalb nicht mehr sprechen konnte. So endeten ihre Gespräche immer.

      Sie hatte immer schon das Gefühl gehabt, sie sei für ihren Vater eine Konkurrenz um die Gunst der Mutter. Er hatte Linda oft in ihr Zimmer geschickt, wenn sie sich nach seiner Ansicht zu lange miteinander beschäftigt hatten. Das war ein Grund für sie gewesen, nach Köln zu gehen. Sie wollte weg von ihm und seinen Eifersüchteleien. Von allein wäre sie niemals wieder zurückgekommen. Auch nicht nach Mutters Tod.

      Denn in Köln hatte es aufgehört, dieses seltsame Gefühl, anders zu sein. Etwas zu vermissen und gleichzeitig in Panik zu geraten, weil sie dachte, jemand sei hinter ihr her. Martin, Laurins Vater, hatte damals gemeint, es läge sicher daran, dass sie mit ihrem Vater in solcher Konkurrenz gelebt hatte. Linda wusste nicht, ob es stimmte, aber die Distanz zu ihrem Vater hatte ihr mehr als gut getan. Dank Martin hatte sie gelernt, mit Ängsten umzugehen. Sie hatte ein gesundes Bauchgefühl entwickelt, gelernt, positive Energie für sich zu nutzen. Die Zeit in Köln war zu Anfang ganz leicht, ganz einfach gewesen. Gemeinsam hatte sie mit Martin die Schwangerschaft erlebt, die Geburt von Laurin und seine ersten drei Jahre.

      Aber dann hatte Martin eine andere gehabt, eine Göttin, wie er sich ausdrückte. Von da ab kannte er Linda und Laurin nicht mehr. Ein großer Freundeskreis existierte nicht, sie hatte zu eng in Martins Radius gelebt.

      So war sie doch nach Jever zurückgekehrt, wo sie ihren verbitterten Vater vorgefunden hatte, der ein Nichts ohne ihre Mutter war. Seit ihrem Tod brachte er das Gespräch immer wieder auf sie und verharrte mit seinen Gedanken genau dort, wo er vor drei Jahren stehen geblieben war: an ihrem offenen Grab.

      Linda schaute auf die Uhr und hoffte, dass Thiemo gleich kommen würde, um sie beim Auspacken zu unterstützen. Es war nicht gut, wenn sie grübelte. Aber das kam halt, wenn man so viel allein war. Thiemo war noch immer angespannt und gereizt. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie das größte Chaos erst allein bewältigte. Obwohl es schon seltsam war, dass Thiemo sich am Tag des Umzuges nicht frei genommen hatte.

      Wenn sie nur trainieren … Linda war für einen Augenblick wütend auf Sinje, die mit diesem einen unbedachten Satz Misstrauen gesät hatte, wo Linda vorher keins gekannt hatte. Aber Sinje war so, das hatte Linda schon festgestellt. Sie liebte es, vage Andeutungen zu machen, die in der Regel haltlos waren. Ansonsten kam Linda mit ihr gut aus. Immer, wenn es Schwierigkeiten gab, waren Sinje und Hanno zur Stelle, nahmen ihr Laurin ab oder packten ohne Worte mit an.

      Trotzdem wünschte sich Linda jetzt Thiemo an ihre Seite.

      »Es