Krähenflüstern. Regine Kölpin

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Название Krähenflüstern
Автор произведения Regine Kölpin
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264447



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es schon mal zu Sprüchen, wie: »Der sollte mal so richtig … dann ist er auch ein echter Kerl.«

      Nur, dazu brauchte Hubert keine Ehefrau, es gab in Wilhelmshaven und Umgebung genug Etablissements, die diesen Zweig seiner Männlichkeit befriedigten – und von ihm keine weiteren Verpflichtungen forderten.

      Mit diesen banalen Dingen des Lebens musste er sich nicht befassen, daher hatte er genug Zeit für seine Mutter gehabt. Sie hatten nicht ihr ganzes Leben miteinander verbringen können, zu viel Zeit war schon verschwendet worden. Da wollte er nun ausschließlich für sie da sein. Und jetzt war er allein. Ganz allein, ohne sie.

      Hubert löste eine Hand vom Lenkrad und wischte mit dem Jackenärmel über die beschlagene Scheibe, weil ihm am Seiteneingang eine Bewegung auffiel.

      Thiemo Hanken trat aus dem Haus. Er sah übernächtigt aus, vielleicht machte ihm die Geschichte doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte. Obwohl wahrscheinlich so oft ältere Herrschaften verschieden, dass er sich normalerweise bestimmt keine Gedanken darüber machte.

      Hubert wusste nicht, wie lange er hier noch mit dem Auto vor dem Gebäude stehen wollte, er wusste nicht einmal, was es bringen sollte. Zu Hause lag noch der Stapel mit den Leistungskursklausuren, die dringend zu bearbeiten waren. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er hier, vor der Tür der Seniorenanlage, das finden würde, das ihn weiterbringen musste.

      Es dämmerte, als er die Pflegerin aus dem Haus gehen sah, die seine Mutter am Freitagnachmittag hätte betreuen sollen – wenn sie nicht diesem irrsinnigen Licht aufgesessen wäre und gedacht hätte, er sei anwesend. Es wäre trotzdem ihre Pflicht gewesen, reinzuschauen. Egal, was seine Mutter angeordnet hatte. Sie war schließlich verantwortlich. Hubert Lambacher ließ den Motor an und folgte der blonden Frau.

      *

      Als Thiemo in Jever ankam, war es bereits dunkel. Linda hatte Erbsensuppe gekocht und war gerade dabei, Laurin aus der Wanne zu lotsen, als er in den kleinen beengten Flur trat.

      Laurin kreischte, wollte noch sein Schiffchen fahren lassen. Heute ging es Thiemo wirklich auf die Nerven. Am liebsten wäre er auf dem Absatz umgedreht, sofort wieder in seine Wohnung nach Sande gefahren und hätte die Beine auf den Tisch gelegt. Heute Abend kam die Live-Übertragung des Spieles Werder gegen Wolfsburg. Das hätte er sich gern in Ruhe angesehen. Aber seine Wohnung war eine Baustelle. Die Jahre des Junggesellendaseins hatten mehr Spuren hinterlassen, als Thiemo vermutet hatte. Deshalb hatte er jetzt begonnen, zu renovieren. So konnte er die Wohnung schließlich keinem Nachfolger hinterlassen. Aber er wollte nicht zwischen Kleister und Tapetentisch hausen. Das wäre vermutlich noch grausamer als das Gekreische aus dem Badezimmer.

      Vielleicht hätte er sich mit Hanno zum Fußballgucken verabreden sollen, aber davon wäre Sinje wahrscheinlich nicht begeistert gewesen. Ihr schienen Hannos zwei Trainingsabende und die Wochenendspiele schon völlig zu reichen. So langsam schwante Thiemo, dass es ihm mit Linda bald nicht anders ergehen würde.

      Er fläzte sich an den Küchentisch, sagte Linda noch nicht, dass er da war. Noch ein bisschen abspannen, ausruhen, vielleicht schlief der Knirps ja gleich. Thiemo hätte gern einen Abend Ruhe gehabt. Und vielleicht auch Linda mal wieder für sich allein … Das brächte etwas Ablenkung.

      Der Besuch des schweinsäugigen Kommissars hatte ihm doch zugesetzt. Er musste morgen unbedingt noch einmal mit der zuständigen Schwester reden. Heute war er einfach zu müde gewesen. Thiemo gähnte und hoffte, dass die Geschichte im Sande verlaufen würde. Mord! Das war doch absurd. Trotzdem hätte die Schwester mal reinschauen sollen.

      Thiemo zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte die Lambacher mit ihrer Lampenaktion das Ganze ja selbst heraufbeschworen. Sie hatten lange diskutiert, ob sie sich daran halten sollten. Aber weil diese Giftspritze nur noch zeterte, hatte er grünes Licht gegeben.

      Eigentlich schade, dass die Frau so unangenehm gewesen war. Sie hatte trotz ihrer Behinderung nicht viel älter gewirkt als ihr vierzigjähriger Sohn. Dem Aussehen nach hätte er fast der etwas jüngere Ehemann sein können.

      Thiemo dachte, dass Elfriede Lambacher früher mit Sicherheit Format gehabt hatte. Das Blond ihrer Haare war zwar längst einem glänzenden Silbergrau gewichen, aber man konnte durchaus noch erkennen, was für ein Kaliber die Lambacher zu ihren besseren Zeiten gewesen war. Dafür hatte Thiemo einen Blick.

      »Hallo! Du bist schon da?« Linda umschlang ihn mit ihren Armen.

      »Ja, war ein dummer Tag«, sagte er.

      Linda blickte erstaunt. Es kam selten vor, dass er Schwierigkeiten zugab. Sie sagte aber nichts, sondern holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank. »Willst du etwas essen? Die Suppe ist noch warm. Laurin hat schon ein Brot gehabt, ich bringe ihn gleich zu Bett.«

      Bevor Thiemo antworten konnte, raste ihr Sohn um die Ecke. »Ich geh nicht in mein Bett, ich schlaf bei Mama!« Dabei sah er Thiemo herausfordernd an. Der nickte wortlos und nahm von Linda den Teller Suppe entgegen. Er würde also wieder auf dem Sofa schlafen.

      Als Laurin endlich im Bett lag, nahm sich Linda auch ein Bier und setzte sich zu Thiemo auf die Couch. »Was war denn los, dass dein Tag so schrecklich war?«, fragte sie, während sie den Flaschenöffner ansetzte. Der Deckel löste sich mit einem Zischen.

      »Gib mir auch noch ein Bier!«, lenkte Thiemo ab. Er nahm die Fernbedienung und begann sich durch die Programme zu zappen.

      »Nimm von mir was, ich trink es sowieso nicht ganz.« Linda reichte ihm die Flasche. Die Melodie von Hinter Gittern ergoss sich in den Raum.

      »Kannst du das nicht ausschalten? Ich habe dich nämlich was gefragt«, sagte Linda.

      Thiemo hielt die Fernbedienung zwischen beiden Händen, als fürchte er, Linda könnte sie ihm entreißen, wenn er sie auch nur für eine Zehntelsekunde losließ.

      »Hallo? Erde an Thiemo!«

      Er stellte den Fernseher etwas leiser.

      »Ist nichts Gravierendes«, sagte er leichthin. »Nur ärgerlich.«

      »Ich weiß nicht. So klang das vorhin nicht.« Linda nahm einen Schluck Bier.

      Thiemo wischte ihr vorsichtig mit der Seite des Zeigefingers den Schaum ab. »Ein anonymer Anruf. Bei uns soll eine ältere Dame getötet worden sein.«

      »Oh.« Linda setzte sich auf. »Ist denn an der Anschuldigung was dran?«

      »Ach was. Aber es ist einfach … blöd.« Thiemo wollte den Film wieder lauter stellen, aber Linda legte ihre Hand auf seine.

      »Das könnte doch … Ich meine, du bist verantwortlich, oder?«

      Thiemo schüttelte den Kopf. »Es stimmt nicht, überhaupt nicht und kann auch nicht sein.«

      Erleichtert atmete Linda aus. Jetzt griff sie nach der Fernbedienung und Hinter Gittern verschwand hinter der schwarzen Blende. Linda schnappte mit den Lippen nach Thiemos Zeigefinger und er spürte ihre Zunge daran. Die Hände wanderten zu seiner Hose und krochen Finger für Finger in den Bund. Mit der anderen Hand löste Linda Knopf und Reißverschluss.

      1968

      Der Bus surrt durch das flache Land. Als der Junge erwacht, sieht er ein dunkelrotes Backsteingebäude mit weißen Fenstern. Im umzäunten Garten steht ein Spielgerüst.

      Er muss Hausschuhe anziehen und wird in einen großen Speisesaal geführt. Es ist, trotz der vielen Kinder hier, äußerst leise. Er wird verstohlen gemustert. Seine Gruppe hat die Nummer zwei. Dort muss er auf einem harten Holzstuhl sitzen. Es sind auch ein paar Ältere dabei. »Die helfen mit und sorgen für Ordnung«, hat die Frau mit dem schwarzen Mantel gesagt. Sie hat eine dicke Nase. Der Junge bekommt warme Milch und ein Stück Brot mit Schmierkäse.

      Sie holt mich bald wieder ab. Vielleicht schon morgen, denkt der Junge, als er einen Tritt gegen das Schienbein bekommt.

      »Hier kommste nicht mehr so schnell weg«, sagt der Treter. Er ist einer von den Älteren. Einer von denen, die für Ordnung sorgen. »Manchmal kommen welche und nehmen jemanden mit. Du bist noch jung genug. Vielleicht