Krähenflüstern. Regine Kölpin

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Название Krähenflüstern
Автор произведения Regine Kölpin
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264447



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Drachen herumzuärgern. Nicht nur von Frau Lambacher waren Klagen bei ihm eingegangen, nein, auch das Personal hatte sich ständig über sie beschwert. Diese Frau hatte stets nur das getan, was sie selbst für richtig hielt, und ihre Pflegerinnen gemaßregelt, wo sie nur konnte.

      Der schweinsäugige Kommissar drehte den Bildschirm zu sich herum und studierte die Einträge. Er grunzte hin und wieder. Dann nickte er. »Sie sind aber modern mit Ihrer Digitalisierung.«

      Thiemo wusste nicht, ob das ein Kompliment oder eine Kritik sein sollte, und schwieg. Der Kommissar las noch immer. Schließlich lehnte er sich zurück und sagte: »So weit stimmen Ihre Angaben. Ich denke, es war ein schlechter Scherz mit dem Anruf. Die Leute sind ja ganz irre wegen der Prozesse gegen die Todesschwestern und so.«

      »Für mein Personal kann ich garantieren, Herr Rothko. Wir sind da sehr eigen.« Selbstgefällig lehnte Thiemo sich in seinem Sessel zurück. Sein Pflegeheim war sauber. Daran würde auch der Kommissar nicht rütteln können.

      Er hoffte, der Mann würde seinen Besuch endlich beenden. Frau Lambacher war mit ihren siebzig Jahren zwar noch recht jung gewesen, aber sie hatte ja auch nicht gerade zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen. Ihre amputierten Beine waren nun mal das Ergebnis eines seit Jahren schlecht eingestellten Diabetes. Da kam es, so traurig es war, eben vor, dass solch ein Mensch an einer Entgleisung starb.

      Rothko griff nach einem herumliegenden Kugelschreiber und tippte mit dem Ende gegen sein Kinn. »Warum«, setzte er langsam an, »warum hat Ihr Personal eigentlich nicht rechtzeitig etwas gemerkt?«

      Thiemo spannte unmerklich den Rücken an und holte tief Luft. Dabei bemühte er sich, gelassen zu wirken. Er griff ebenfalls nach einem Stift und klopfte ihn leicht auf die Schreibtischunterlage, als mache er eine Zigarre zum Anzünden klar. Er wollte Zeit gewinnen, denn das war genau die Frage, die er liebend gern vermieden hätte. Es war der einzige heikle Punkt, denn Frau Lambachers Unterzuckerung hätte vielleicht schneller entdeckt werden können.

      Thiemos gewohntes Lächeln kämpfte sich unaufhaltsam durch die müden Gesichtszüge und seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als er den Stift beiseite legte. »Die zuständige Schwester ist davon ausgegangen, dass der Sohn da war, wie jeden Nachmittag. Wir haben über den Türen Leuchten. Grün heißt, dass die Schwester im Zimmer ist, bei Rot ertönt eine Klingel. Bei Frau Lambacher war es so, dass sie auf dem Brennen der grünen Lampe bestand, wenn der Sohn zu Besuch war. Dann sollte keiner das Zimmer betreten, sie wollten nicht in ihrer Privatsphäre gestört werden. Und die Leuchte war den ganzen Nachmittag an.«

      »Aber Herr Lambacher war gar nicht da, oder?«

      »Nein. Aber er war sonst jeden Nachmittag hier. Wirklich jeden. Immer zur gleichen Zeit. Ein dummer Zufall, dass die Schwester ausgerechnet an diesem Tag vergessen hatte, das Licht auszumachen. Ein wirklich dummer Zufall.«

      »Ein menschlicher Fehler, nicht ungewöhnlich«, sagte Rothko.

      »Sie waren schon komisch, die beiden. Der Sohn und die Mutter, so – zusammen«, rutschte es Thiemo heraus. Er hatte das immer wieder bei den Personalgesprächen mitbekommen: Die Beziehung von Herrn Lambacher zu seiner Mutter hatte eindeutig etwas Pathologisches gehabt.

      Der Kommissar reagierte nicht auf Thiemos Bemerkung, vielleicht hatte er sie einfach auch nur zu leise ausgesprochen. »Das wäre es erst mal. Ist eine unangenehme Geschichte. Wir melden uns!« Er drehte den Bildschirm in die Ausgangsposition zurück und stand auf. Thiemo hatte den Eindruck, dass auch der Kripobeamte sehr müde war, und was sollte man von zwei so müden Menschen an Hochleistung heute erwarten …

      *

      Hubert Lambacher hatte das Gefühl, dass seine Finger am Lenkrad festfroren. Er stand vor dem Eingang des pompösen Seniorenpflegezentrums Sanfte Wellen und konnte den Blick von keinem der Menschen lassen, die das Gebäude betraten oder verließen.

      Einer von ihnen hatte seine Mutter auf dem Gewissen, einer von ihnen hatte sie getötet, er war ganz sicher. Von allein war sie bestimmt nicht gestorben.

      Der Kommissar war kurz bei ihm gewesen, hatte ihn nach seiner Mutter gefragt, wegen der Zuckerkrankheit. Hubert war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen, zu sehr hatte ihn der Schmerz über den Verlust aus der Bahn gefegt. Er fühlte sich wie ein Blatt, das vom Baum gefallen war und nun willenlos vom Wind durch die Welt getragen wurde.

      Drei Nächte hatte er nicht geschlafen. Zuerst war er unter dem Strom der Tränen erstickt und dann hatte er versucht, einen Sinn in dem Ganzen zu finden. Ein Mal, ein einziges Mal war er nicht bei seiner Mutter gewesen und schon passierte so etwas. Hubert fühlte sich entsetzlich schuldig, konnte die kalten Blicke seiner Mutter fühlen, wusste, was sie in ihren letzten Minuten gedacht hatte. Sie war böse gewesen, hätte ihn bestraft, wenn er das nächste Mal gekommen wäre.

      Stockend hatte Hubert dem Kommissar von seiner Anbetung für sie und von ihrer Krankheit erzählt. Doch der Mann mit den kleinen, stechenden Augen hatte gar nicht richtig hingehört, war so schnell wieder weg gewesen, dass Hubert ihm in all seiner Trauer nichts von den zerstochenen Reifen gesagt hatte. Das war ihm erst später eingefallen, als er nicht mehr von den ständigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.

      Hubert hatte dann bei der Polizei angerufen, aber da war Rothko unterwegs gewesen. Ein seltsamer Typ. Allein der Name war lächerlich. Aber wenigstens hatte er zurückgerufen.

      Dabei war der Kerl aber wieder die Unfreundlichkeit in Person gewesen. Ganz klein und dumm hatte Hubert sich gefühlt, als er vergeblich versucht hatte, ihm von den Todesschwestern zu erzählen, die überall auf der Welt nur darauf warteten, ihre Patienten zu töten.

      »Es ist aber ein eindeutiger Fall. Ihre Mutter war hoffnungslos unterzuckert«, hatte der Kommissar ihn gleich unterbrochen. »Sie war einfach undiszipliniert. Es tut mir leid!«

      Dieser Ton ließ Hubert verstummen, obwohl er sich vorher die Worte zurechtgelegt hatte. Das höhnische Tuten, das ihm dann der Hörer entgegenspuckte, war einfach nur brutal.

      Er hatte das mit den kaputten Reifen wieder nicht sagen können. Der Kommissar hätte ihn ja ausgelacht. Der hatte seine Wahrheit schon festgelegt, da war kein Platz mehr für die Theorien eines unglücklichen Sohnes. Seine Worte wären schon im Vorfeld klar gewesen. Der Mann war wie seine Mutter und die hatte auch immer recht gehabt. Herr Lambacher! Sie sind Mathelehrer an einem Gymnasium. Da können Sie sich doch ausrechnen, wer so etwas macht. Erstatten Sie Anzeige und wir nehmen den Schaden auf.

      Und so war Huberts Verdacht, dass die Reifen etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun haben könnten, unausgesprochen durch sein Denken gekrochen, bis er sich irgendwann festgesetzt hatte und Stück für Stück seine Hirnwindungen zermarterte. Am Ende war ein brennender Kopfschmerz entstanden, den er mit nichts löschen konnte.

      Es gab einen Menschen in diesem Heim, der seine Mutter getötet hatte. Er konnte es nur nicht beweisen.

      Bestimmt war sie einer der Altenpflegerinnen auf den Schlips getreten. Und die war dann zum Todesengel geworden, wie die ganzen anderen Schwestern und Pfleger, die ihre Patienten getötet hatten. Hubert hatte alle Berichte, die er finden konnte, in den Nächten verschlungen.

      Er betrachtete wieder seine weißen Fingerkuppen, die am Lenkrad klebten und sich nicht lösen konnten, wischte mit der Wange über die Schultern und merkte, dass er dabei feuchte Spuren auf seiner Jacke hinterließ.

      Die zerstochenen Reifen könnten der Schlüssel sein. Aber nichts im Leben machte Hubert bei irgendeiner Sache wirklich sicher. Alle Gedanken, alle Ideen waren immer nur vage und auf Hypothesen ausgelegt, einzig die mathematischen Formeln folgten einer unumstößlichen Logik, um die er sein ganzes Leben formierte.

      Hubert glaubte aber einfach nicht, dass einer seiner Schüler die Reifen zerstochen hatte. Zum einen hatte er nie jemanden durchfallen lassen und zum anderen wohnte er in Wilhelmshaven, unterrichtete aber an dem zwanzig Kilometer entfernten Schlossgymnasium, einer privaten höheren Schule in Jever. Und wenn er ehrlich war: Den Schülern war er zu unwichtig.

      Sie nannten ihn Weichei und Muttersöhnchen, hatten herausgefunden, wie sehr er an seiner Mutter hing. Er war sicher nicht beliebt, eher die Witzfigur